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Hochschulsinfonieorchester   17.04.2008   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Fixe Kerlchen hätten an diesem Abend ein Kunststück der ganz besonderen Art vollbringen, nämlich sich Gustav Mahlers 4. Sinfonie gleich zweimal hintereinander anhören können - an verschiedenen Veranstaltungsorten und mit verschiedenem Personal wohlgemerkt. 19.30 Uhr legte das Sinfonieorchester der Leipziger Musikhochschule das Werk aufs Pult, und nach dem Schlußton hätte man ins Gewandhaus sprinten können, wo ebenjene Sinfonie die zweite Hälfte des Großen Concerts mit dem Gewandhausorchester bildete. Die praktische Realisierung dieser Vorgehensweise wäre zwar angesichts des sicherlich ausverkauften Gewandhauses schwierig geworden, und auch in der Hochschule selbst gab es noch einen logistischen Hinderungsgrund - aber prinzipiell möglich gewesen wäre es. Ob es jemand getan hat, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten, aber eine derart direkte Vergleichschance wird wohl kaum so bald wieder auftreten.
Dem logistischen Hinderungsgrund in der Hochschule dürfte sowieso niemand böse gewesen sein, denn es ging 19.30 Uhr keineswegs mit dem Werk als solchem los, sondern Dirigent Ulrich Windfuhr nutzte die Gelegenheit für eine kleine musikwissenschaftliche Vorlesung in Form einer grundzügigen Werkanalyse, ließ einzelne Themen anspielen (auch das markante Trompetenmotiv, das Mahler hier nur peripher eingebaut hat, in der 5. Sinfonie dann aber zum tragenden Gerüst befördert) und brachte hintergründiges Wissen auf gleichermaßen nachvollziehbare wie unterhaltsame Weise an die Hörerschaft im nahezu ausverkauften Saal. Auch einen Dank ans Leipziger Universitätsklinikum vergaß er nicht - das hatte ihn nach einem schweren Unfall vor reichlich zwei Wochen hintergliedmaßenseitig so schnell wieder zusammengeflickt, daß er das Konzert nicht absagen mußte, obwohl er natürlich nicht am Pult stehen konnte, sondern sich auf einer Art Hocker niederlassen mußte, was Folgen haben sollte: Sobald sich der Dirigent nämlich etwas intensiver auf dem Hocker bewegte - und das tat er nicht selten -, gab der Hocker fürchterliche Quietschgeräusche (nicht laut, aber durchdringend) von sich, die dem empfindsamen Hörer doch die eine oder andere Stelle gründlich verhagelten, hauptsächlich im ersten Satz, bevor sich das Ohr offenbar daran gewöhnt hatte und die Störgeräusche in den weiteren Sätzen nur noch im geringeren Maße wahrnahm. Wahrzunehmen waren dafür diverse andere Dinge, nämlich eine generell als gut zu bewertende Leistung des Orchesters, wenngleich natürlich das Ende der Fahnenstange noch keineswegs erreicht worden ist und phasenweise doch deutliche Unsicherheiten zu spüren waren, so etwa im Zusammenbruch vor der ersten Generalpause, wo's etwas drunter und drüber ging; auch das Holz in der Phase vor der zweiten Generalpause hätte deutlich tighter agieren dürfen. Der Dirigent forderte das Orchester allerdings mit einem recht zügigen Tempo (Fabio Luisi und das MDR Sinfonieorchester brauchten auf der 2006 erschienenen CD knapp über eine Stunde, ebenso Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker ein reichliches Vierteljahrhundert zuvor - Windfuhrs Damen und Herren waren deutlich schneller fertig), was einen eigenartigen Effekt hervorrief: Bekanntlich ist die Sinfonie mit umherfliegenden Themenfetzen und Motiven nur so vollgestopft - und in dieser hohen Geschwindigkeit meinte man auf einmal eine Ahnung der ähnlichen Arbeitsweise Dmitri Schostakowitschs viele Jahre später zu haben. Dazu paßte die sehr grelle Intonation vieler Instrumentengruppen hauptsächlich im 1. Satz gut, der Horribilitätsfaktor des einzigen großen Katastrophenmoments in diesem Satz stimmte ebenfalls, und auch die dynamische Steigerung vor dem Satzende konnte sich hören lassen, wenngleich sie keinesfalls bis zum Rande des Möglichen ausgelotet war. Im zweiten Satz läßt Mahler den grimmen Schnitter an der Solovioline arbeiten - Stimmführer Rodrigo entledigte sich dieser Aufgabe allerdings viel zu unauffällig, so daß aus dieser Passage ungewollt niedliche Kammermusik wurde. Auch der Mittelteil dieses Scherzos, als der Stimmführer der zweiten Violinen solistische Arbeit leistete, geriet eher unfreiwillig zum Tohuwabohu, bevor der Schluß des Satzes allein schon aufgrund der witzigen Konstruktion Mahlers versöhnte: Er klingt, als wäre mitten in einem Holzsolo einfach das Notenpapier alle geworden. Das Adagio an dritter Satzposition beginnt mit ausgiebigen Schwelgeparts, die in der studentischen Version oftmals noch etwas zu unruhig klangen (immerhin schreibt Mahler "Ruhevoll" über den Satz), kontrastiert allerdings von einigen zauberhaft umgesetzten Passagen wie der vor dem Einsatz des zweiten Themas. Auch die Ausbrüche gelangen dem Orchester gut, der Düsterpart nach dem zweiten Ausbruch hatte in puncto Dunkelheit allerdings noch einige Schwärzegrade in Reserve. Dafür wurde der sinistre Glöckchenspeed herrlich abgewürgt, und auch der letzte große Ausbruch saß, während das Moriendo am Satzende wieder Wünsche offen ließ und eher gequält klang, so als ob man mit Kreide quietschend an einer Wandtafel schreibt. Im vierten Satz tritt das Orchester schließlich in den Hintergrund, denn es gibt wieder mal Gesang: Letztmalig verarbeitet Mahler hier Texte aus "Des Knaben Wunderhorn" in einer Sinfonie, wobei die Idee (eine Parallele zum oben erwähnten Trompetenpart) bereits aus der Arbeit zur 3. Sinfonie stammt, dort aber letztlich nicht verwendet wurde. Yeree Suh widmete sich den Sopranpassagen, überzeugte aber nur bedingt. Sie hat eine schöne Stimme, agierte aber zu "rund", fast holzbläserartig, zudem mit recht geringer Durchsetzungskraft zunächst nur in den tieferen, später aber auch noch in den höheren Passagen - und mit dem rollenden rrrrrrrrrr kann man's auch übertreiben. Immerhin war sie aber auch für den zauberhaftesten Moment der ganzen Aufführung verantwortlich, nämlich die Zeile "Sanct Peter im Himmel sieht zu" am Ende der ersten Strophe, deren überirdische Harmoniestruktur eine ebensolche Umsetzung erfuhr. Marginalisiert wurde dieser Moment in Strophe 3 auf "Garten", wo die Sängerin arg neben der Spur lag. Das Orchester stemmte die Zwischenspiele mit einem guten Händchen für die dynamische Struktur, setzte den widersprüchlichen Charakter dieses Satzes (der eigentlich völlig depressiv daherkommt) gut, wenngleich noch nicht perfekt um und ließ beim verhallenden Harfenschluß den Wunsch einer intensiveren Spannungsauslotung offen. So wurde das Prädikat "Gut mit Steigerungsmöglichkeiten" letztlich gerechtfertigt, und das Orchester freute sich über reichlich Applaus.



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