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Sinfonieorchester Leonberg   18.01.2008   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Die Stadt Leonberg, gelegen an der westlichen Peripherie Stuttgarts, ist unter Bausparern und Hundezüchtern zweifellos bekannt, gilt aber gemeiniglich nicht unbedingt als Nabel der musikalischen Welt. Nichtsdestotrotz hat die dortige Jugendmusikschule in den diversen Jahrzehnten ihrer Existenz sowohl das eine oder andere Talent als auch Scharen fähiger Continuospieler hervorgebracht, und eine gesunde Mischung aus beiden Gruppen bildet mittlerweile das Sinfonieorchester Leonberg, das jedes Jahr ein Neujahrsprogramm zusammenzimmert und bisweilen mit diesem auch auf Tour geht. Anno 2008 gastierte man auch in Leipzig, wo sich ein leider nicht ganz so mächtiges Publikumshäuflein ein unterhaltsames Konzertmenü servieren ließ, das über weite Strecken was mit Wasser zu tun hatte und versinnbildlichte, daß alle Musiker, sowohl die ganz Großen der Musikwelt als auch die überwiegend Amateurstatus aufweisenden Leonberger, mit dieser Substanz kochen, wenngleich selbstredend der Siedepunkt an unterschiedlichen Stellen anzusiedeln ist.
Mit Richard Wagners Ouvertüre zum "Fliegenden Holländer" wurden die wäßrigen Thematiken gleich übermächtig, und es zeigte sich der Glücksfaktor der Tatsache, daß man das Konzert im gar nicht so großen Großen Saal der Musikhochschule stattfinden ließ und nicht etwa in einer geräumigeren Lokalität. In einer vom letztgenannten Typus nämlich wäre der Sound irgendwo versandet, während der Musikhochschulsaal genau die richtigen akustischen Verhältnisse mitbrachte, um die leiseren Passagen noch nicht wegbrechen zu lassen, die Powerparts aber genügend Volumen transportieren zu lassen, um den Saal sozusagen akustisch zu füllen. Gerade wenn Posaunen und Tuba ordentlich keulen und knarzen durften, konnte die bedrohliche Stimmung hervorragend umgesetzt werden. Hingegen ließen die verhaltenen Passagen noch die eine oder andere Reserve erkennen, für die speziell die arg untighten Holzbläser verantwortlich waren, und auch die Intonation des Solohorns konnte nicht ganz überzeugen. Dennoch stimmte der Gesamteindruck weitgehend positiv, wenngleich getrübt durch einige generelle Unsauberkeiten vor allem gegen Ende hin - auch der schräge Schlußton darf beim nächsten Mal gern besser ausgefeilt werden.
Die Nervosität legte sich auch in Felix Mendelssohn Bartholdys Konzertouvertüre "Meeresstille und glückliche Fahrt" zunächst nicht, wenngleich wenigstens der grünlich schimmernde Schwelgefaktor der Meeresstille stimmte. Aber siehe da: Mit zunehmender glücklicher Fahrt gewann das Orchester an Sicherheit beim Zusammenspiel, was in den sehr guten "Wogeneffekten" vor dem Tonleiterpart eine schöne Manifestation fand. Auch der markante Blechchoral wies achtbares Niveau auf, wohingegen die Celli in ihrem großen Auftritt damit nicht konkurrieren konnten.
Die einzigen Stücke des regulären Sets, die vordergründig nichts mit Wasser zu tun hatten, waren zwei Arien und zwei Duette aus Franz Lehárs "Die lustige Witwe", für die sich die Leonberger an der hiesigen Musikhochschule kompetente Gesangsverstärkung geholt hatten. Der in Hochschulproduktionen schon öfter in Erscheinung getretene Ji-Su Park (u.a. "Il matrimonio segreto") übernahm die männlichen Parts mit einem vielseitigen und kantigen Bariton unter mäßiger Textverständlichkeit, wurde allerdings im Solostück "Da geh' ich zu Maxim" vom Orchester akustisch bisweilen gnadenlos zugedeckt, so daß der "Hymnencharakter" etwas auf der Strecke blieb. Mit einer interessanten Sopranstimme wartete Victoria Kang auf: flächig, nicht schrill, mit angenehm zu hörenden Höhen, allerdings sehr linienhaft singend und daher kaum textverständlich. So richtige Harmonie mit dem Orchester wollte in "Introduktion, Tanz und Vilja-Lied" noch nicht aufkommen, aber das Orchester schwang sich plötzlich zu einer ausgezeichneten Leistung auf, verortete im Intro eine fast finnische Melancholie und ging den Tanz mit der nötigen Lockerheit an.
Noch besser wurde es im ersten Strauß des Abends: "Unter Donner und Blitz" kostete den oben geschilderten akustischen Glücksfall noch stärker aus, indem gerade von hinten und unten heraus (allen voran vom Schlagwerk) eine urgewaltige Brutalität erzeugt wurde, wie sie zu einem richtigen starken Gewitter gehört. Bisweilen donnerten die Schlagwerker derart laut, daß selbst die Blechbläser zu ertrinken drohten, aber man setzte an den richtigen Stellen akustische Stopzeichen. Auch die generelle Lebendigkeit des unter "Polka schnell" einsortierten Stückes stimmte, und das Becken schepperte blitzimitierend, daß es eine wahre Freude war.
Der Daumen zeigte auch bei den beiden Duettnummern aus "Die lustige Witwe" generell nach oben. Das "Lied vom dummen Reiter" wies Ji-Su Park auch als geschickten Schauspieler aus, der mit minimalen Gesten maximale Wirkungen zu erzeugen wußte, während seine vom Kleid her Chris de Burgh-kompatible Partnerin im Schmelz (böse Zungen würden "Schmalz" schreiben) von "Lippen schwiegen" punktete. Der Zudeckfaktor durch das Orchester fiel denn auch bei beiden Duetten angenehm niedrig aus.
"Der Fluch der Karibik" von Klaus Badelt ist so ein Stück, für dessen Aufführung man Orchester aus den statusmäßig hinteren Reihen braucht, da immer noch die gängige Meinung herrscht, man könnte sich als großes, streng klassisch determiniertes Orchester mit solchen Stücken seinen mühsam erarbeiteten Ruf versauen. Das ist prinzipiell zwar Unsinn, aber trotzdem gedankliche Praxis, und daher muß man Orchestern wie eben dem Leonberger dankbar sein, daß sie sich nicht scheuen, Filmmusik - denn um die geht es hier, wie anhand des Titels schon deutlich geworden sein dürfte - aufzuführen. In diesem Fall ist es keine reine Filmmusik, sondern eine Komposition, die zahlreiche Themen des Filmscores zu einem eigenständigen Orchesterstück verwebt, und beim Rezensenten wurde ein relativ eigenartiger Effekt erzielt: Als Nicht-Cineast kannte er die originale Filmmusik nicht, hatte das Badelt-Stück aber schon einmal auf Tonkonserve gehört, wo es ihn nicht sonderlich beeindruckt hatte. Der Liveeindruck allerdings überzeugte deutlich mehr, woran der erneut stimmige Powerfaktor sicher nicht schuldlos war - aber bereits der erste verhalten-schwelgerische Part war für eine der berühmten Gänsehäute gut. Die sehr vielseitige Dynamik konnte die eine oder andere zu weit ausgewalzte Motivwiederholung wettmachen, die Schlagwerker leisteten erneut beachtliche und bisweilen recht vordergründige Arbeit, und ein paar Momente lang erkannte man, wo ein gewisser Tuomas Holopainen (ein bekennender Anhänger des ähnlich komponierenden Hans Zimmer) die eine oder andere Orchesteridee für Nightwish evoziert haben könnte. Nur der Schluß war komisch, er tönte eigentümlich verhalten, was mit daran lag, daß die Dynamikobergrenze bereits vorher im Stück angekratzt worden, nach hinten heraus also keine Steigerung mehr möglich war. Dennoch: Ein Erlebnis, das man, wenn man kein extremer klassischer Hardliner war, nicht missen wollen haben dürfte. Und für klassische Hardliner hier noch ein Querverweis: Im zweiten und dritten Teil der "Fluch der Karibik"-Filmtrilogie taucht eine Figur auf, die in anderen Kulturkreisen einem gewissen "Fliegenden Holländer" entspricht ...
Ruhigere Gewässer befuhr das Orchester mit dem letzten Stück des regulären Programms, "An der schönen blauen Donau". Die floß generell eher behäbig dahin, und auch der Dynamikfaktor bewegte sich in der Nähe der Oberflächenform der ungarischen Puszta, so daß man bereits begann, sich gedanklich eher mit der hübschen Dunkelblondine in der letzten Reihe der II. Violinen, zweiter Platz von vorn, zu beschäftigen, als dem Stück selbst zu lauschen. Mit seinen typischen ausladenden, aber kontrollierten, nicht wilden Gesten hatte Alexander G. Adiarte das Orchester aber trotzdem so weit im Griff, daß dem eher uneleganten Einleitungspart eine Steigerung der Sauberkeit des Zusammenspiels folgte und zum Schluß sogar so viel Energie im Fluß war, als hätte das tschechische Atomkraftwerk in Donaunähe mal eben kurz einen Kühlwasserkreislauf geöffnet. Auffällig war die sehr lange Pause vor dem Thementon, die aber äußerst diszipliniert gehalten wurde, auch die Generalpause kurz vor Schluß ließ an Exaktheit nichts zu wünschen übrig.
Für die Zugaben bemühte man zweimal mehr die Strauß-Dynastie. Man eröffnete mit der Pizzikato-Polka in einer niedlichen Version (ein wirkungsvolles Stück, dessen Hauptthema paradoxerweise an das erzgebirgische Lied "De Ufnbank" erinnert) und grub zum Schluß auch noch den unverwüstlichen Radetzkymarsch aus, reproduzierte allerdings nicht den pseudotrunkenen Gestus, den das Akademische Orchester Nanjing ein Vierteljahr zuvor in das Stück gelegt hatte, wenngleich der Unterhaltungswert auch diesmal stimmte. Überhaupt ist das ein passendes Fazit für das Konzert im Ganzen: Der Entertainmentfaktor war okay, und wesentlich mehr war ja auch nicht zu erwarten gewesen (wobei man mit dem Badelt-Stück in diesem Fall sozusagen als kleines Bonbon sogar noch eine reizvolle Entdeckung machen konnte).



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