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Von Melusine, Melisande & Unmöglicher Liebe   20.04.2007   Leipzig, Reformierte Kirche
von rls

Wer auch immer das Zentralbauprinzip für Kirchen erfunden hat, er dürfte kein Akustiker gewesen sein. Zwar gibt es weltweit sicher Beispiele, in welchem sich ein runder Saal und ein guter Klang nicht automatisch widersprechen, aber die Zahl der schwierigen Beispiele dürfte vermutlich überwiegen, und der Konzertabend des Landesjugendorchesters zimmerte einen weiteren Nagel ins Gebälk für diese These, wenngleich es auch Momente gab, wo die Akustik der Reformierten Kirche, eines Rundbaues vom Ende des 19. Jahrhunderts, der Stimmung eher zugute kam. Aber dazu unten mehr.
Bestritten wurde das Konzert vom Landesjugendorchester Sachsen. Das ist wie auch sein größerer Bruder, das Bundesjugendorchester, welchselbiges ein Vierteljahr zuvor im Gewandhaus der Messestadt gastiert hatte, ein Auswahlorchester (ich vermeide mal den Begriff "Elite"), zusammengestellt aus dem talentiertesten Orchesterinstrumentnachwuchs in diesem Falle des sächsischen Raumes im Altersspektrum zwischen 14 und 26 Jahren. Zweimal im Jahr erarbeitet das Orchester Programme und geht mit diesen dann auf Tour sowohl im eigenen Freistaat als auch deutschland- oder europaweit; selbst in den USA war man bereits als Kulturbotschafter für die Leistungen des heimatlichen Freistaates und seiner Menschen on the road. Den Frühjahrszyklus 2007 leitete Alexander Mayer als Gastdirigent, der selbst noch nicht allzuweit vom jugendlichen Alter entfernt ist und außerdem schon Erfahrungen vom Jugendsinfonieorchester des Saarlandes mit in die Waagschale werfen konnte; er dirigierte souverän mit mäßig ausgeprägter Gestik und mußte sich zudem mit recht beengten Platzverhältnissen im Altarraum herumschlagen, die dazu führten, daß man einen guten Teil der Musiker in den vorderen Teil der Seitenschiffe auslagern mußte, wo sie in fast rechtwinkliger Lage zum Dirigenten musizierten, was die Aufgabe für beide Teile nicht eben einfacher machte.
Den Auftakt bildete die Ouvertüre "Die schöne Melusine" von Felix Mendelssohn Bartholdy, eine Konzertouvertüre, die nicht in direktem Kontext mit einem Bühnenwerk steht, allerdings durch ein solches inspiriert wurde, nämlich die Oper "Melusine" von Conradin Kreuzer, deren Libretto übrigens eigentlich zur Vertonung durch Beethoven bestimmt gewesen war, bis sich dieser der Aufgabe durch den Tod entzog. 1835 bei der Uraufführung soll sich das Leipziger Publikum eher reserviert gezeigt haben - an der Musik selbst kann es sicher nicht gelegen haben, denn die stellt pure Durchschnittsromantik ohne Experimente dar, wenngleich der phantasiebegabte Robert Schumann sich geistig in ein Korallenriff versetzt zu finden glaubte. Das paßte aus heutiger Sicht und angesichts der Verschmutzung der Meere sogar zum Sound des Abends, denn da machte sich ein gewisser "Mulm" bemerkbar, ähnlich einer Bodengrundaufwirbelung im Meer, der dafür sorgte, daß die ganz leisen und paradoxerweise auch die ganz lauten Passagen in relativer Klarheit zu vernehmen waren, sich über das Leben dazwischen aber eine Art Schleier legte, aus dem bisweilen die Orchestersoloflötistin hervorblitzte und ihre Sache richtig gut machte.
Flöten spielten auch im zweiten Stück eine tragende Rolle. Nach einer Phase eher rascher Wechsel hatte sich mit dem Amtsantritt von Carl Reinecke anno 1860 wieder eine größere Stabilität auf dem Posten des Leipziger Gewandhauskapellmeisters ergeben. 35 Jahre sollte Reinecke dieses Amt bekleiden (sein Nachfolger Arthur Nikisch brachte es ebenfalls auf mehr als ein Vierteljahrhundert), allerdings geriet er in erheblich größerem Maße in Vergessenheit als Nikisch oder auch seine Vorgänger Mendelssohn oder selbst Gade. Reinecke dirigierte nicht nur, sondern komponierte auch, und zwar in unverkennbar rückwärtsgewandtem Stil, was ihm gleichermaßen Freunde wie Feinde verschaffte. Das Flötenkonzert in D-Dur op. 283 ist ein Spätwerk von 1908, Reinecke war zu diesem Zeitpunkt bereits 84 Jahre alt und erlebte auch die Uraufführung 1909 noch mit. Den damaligen Job des Gewandhaus-Soloflötisten Maximilian Schwedler übernahm an diesem Abend Ina Richter, und die gab sich alle Mühe und brachte eine sehr ordentliche Leistung zustande, scheiterte aber an zwei Faktoren, einem internen und einem externen. Der interne wurde durch die Atmung gebildet, die bisweilen etwas zu hektisch erfolgte. Den externen stellte erwartungsgemäß der Sound dar, denn speziell in den schnellen Läufen, derer es eine ganze Reihe zu bewältigen gab, flossen die Töne förmlich ineinander und ließen die Strukturen zu sehr verschwimmen. Das hatte im ausladenden Mittelteil des eröffnenden Allegro maestoso allerdings auch seinen Vorteil, denn die breite epische Anlage dieses Teils ließ somit eine schön schwelgende Stimmung aufkommen, die der Rest des Werkes nicht mehr toppen konnte. Nur ein Faktum fiel noch auf: So ganz konnte sich Reinecke den "moderneren" Einflüssen offensichtlich dann doch nicht verschließen, denn einige powervollere Passagen in den beiden Folgesätzen ließen entfernte Durchblicke zum Werk eines Gustav Mahler zu.
Nach der Pause stand wie schon beim Bundesjugendorchester vor einem Quartal Jean Sibelius auf dem Programm, allerdings diesmal nicht mit einer seiner bekannteren Sinfonien, sondern mit der neunsätzigen Suite "Pelléas und Mélisande" op. 46, die auf der Bühnenmusik für das gleichnamige Schauspiel beruht. Wie bei Melusine dreht sich auch diese Geschichte um die Wirrungen, die Amors Pfeil bisweilen hervorzurufen geneigt ist, durch den schon ganze Königreiche untergegangen sind. Irgendwie erinnert die Suite ein wenig an den Mussorgski-Ravel-Klassiker "Bilder einer Ausstellung", allerdings ist das eröffnende Sibeliussche Schloßtor ein gutes Stück weniger prunkvoll als Mussorgski-Ravels abschließendes Großes Tor von Kiew, und zudem konnte man die gezupften Passagen der Streicher mal wieder nur erahnen. Der ineinanderfließende Sound half dem zweiten Satz "Mélisande" allerdings in einer Duplizität der Reinecke-Situation, den gewünschten schwelgerischen Effekt zu erzeugen, wenngleich der Mittelteil diesen Charakter etwas übertrieb und zu nah an gefährlich klebrigen Kitsch heranreichte. Spätestens die gewaltigen paukenuntersetzten Steigerungen im folgenden "Am Meer" bereinigten diese Gefahr allerdings wieder, "Am Wunderborn im Park" geriet schön (aber nicht zu) locker-flockig, während die Pastorale abgesehen von der vogelstimmenartigen Flöte (die Instrumentenklammer zu den ersten beiden Werken schließt sich!) eigentlich gar nicht so pastoral angelegt ist, ohne allerdings auch das musikalische Level einer Anti-Pastorale zu erreichen. Dafür mutet die an Position 8 befindliche Zwischenaktmusik wie ein hübsches pseudobarockes Konzertstück an, und nach dessen klassisch-romantischem Schluß wähnte man das Werk auch am Ende. Aber Mélisande lebt noch, und das ändert sich erst im neunten Satz, einer überlangen Elegie mit einer derartigen Stimmung, daß man, ohne es zu wissen, den Komponisten automatisch nach Finnland einordnet, wenn man sich ein wenig mit finnischer Musik der Jetztzeit von Tenhi über HIM bis Amorphis auskennt. Die Oboe, Mélisande verkörpernd, lag hier sympathischerweise auch mal schief und bewies, daß da Menschen und keine Automaten musizierten, und der ergreifende Charakter dieses Schlußsatzes wurde besonders dadurch deutlich, daß es fast eine halbe Minute nach Ausfaden des letzten Tones dauerte, bis der Applaus des Publikums in der weder richtig vollen noch richtig leeren Kirche losbrach. Das Orchester ließ sich denn auch nicht lumpen und holte Griegs "Morgenstimmung" als Zugabe hervor. Auch die gewann durch den bisweilen verwaschenen Sound an Stimmung hinzu, getrübt allerdings durch einige Aussetzer der Orchestersoloflötistin (ein Holzbläser muß atmen, um spielen zu können, das ist klar - die Kunst ist, wann und wie er das tut), die aber das generell positive Urteil über die Leistung des Orchesters nicht beeinträchtigten. Solch eine musikalische Visitenkarte steht dem Freistaat zweifellos gut zu Gesicht, und man darf sich schon auf die Herbstproduktion 2007 freuen, die anläßlich des 15jährigen Orchesterbestehens gar noch etwas opulenter als sonst ausfallen wird. www.saechsischer-musikrat.de hält den Interessenten über alle wichtigen Dinge auf dem laufenden.



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