www.Crossover-agm.de
Kinderkonzert   16.12.2006   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Der Begriff "Kinderkonzert" ist ja erstmal dehnbar, könnte sowohl ein Konzert von Kindern als auch ein Konzert für Kinder symbolisieren. Letztere dürften zahlreicher sein, und um ein solches handelte es sich auch in diesem Fall. Nun sind Kinder nicht gleich Kindern, und der Unterschied zwischen sagen wir mal 10- und 12jährigen ist bedeutender als der zwischen 10 Jahre früher bzw. später geborenen Menschen im Erwachsenenalter. Damit ist auch gleich das strukturelle Problem dieses Konzertes angesprochen, denn die beiden Werke sprachen doch recht unterschiedliche Altersgruppen an: Während "Peter und der Wolf" von Sergej Prokofjew eigentlich was für die ganz Kleinen ist, die gerade ihre ersten Erfahrungen mit der Musikwelt jenseits von Schnappi dem kleinen Krokodil sammeln, bedarf es zur Rezeption von Camille Saint-Saëns' "Karneval der Tiere" dann doch schon etwas Erfhrung und komplexeren Mitdenkevermögens. So zeigte sich ein Teil des kleinen Publikums im ersten Teil des Konzertes unter-, ein anderer Teil im zweiten Teil aber überfordert, womit gleichzeitig die Reihenfolge der beiden Werke kundgetan ist, die sich als strukturell aber gar nicht so ungünstig erwies (zumindest günstiger als reziprok), denn so konnten speziell die Eltern mit kleinen Kindern den Saal während des "Karnevals" verlassen, ohne von dem für die Aufnahmefähigkeit ihrer Sprößlinge geeigneteren Teil etwas verpaßt zu haben. Der Eintritt war übrigens frei, und das sorgte für eine recht ansehnliche Füllung des Großen Saals im Hauptgebäude der Musikhochschule trotz einer Legion anderer Veranstaltungen an diesem Adventswochenende.
"Peter und der Wolf" war eigentlich ein Auftragswerk, das Prokofjew anno 1936 für das Moskauer Kindertheater schrieb. Wäre das Werk 10 Jahre später entstanden, hätte man es als gar nicht mal so sehr versteckte politische und extrem systemkritische Parabel deuten können. Bekanntlich fängt der kleine Peter den Wolf, der die Ente verschlungen hat, mit Hilfe seines Freundes, des kleinen Vogels, während die Jäger und auch Peters Großvater unverrichteterdinge durch den Wald schleichen bzw. gleich ganz im Bett bleiben. Deutet man den Wolf als Hitler, die Jäger als die westlichen Alliierten, den Großvater als Stalin, die Ente als die von der Wehrmacht okkupierten Gebiete, den Vogel als die sowjetischen Partisanen und schließlich Peter als den einfachen Rotarmisten, ergibt sich ein geradezu erstaunliches Abbild der politischen Geschehnisse. Aber das alles konnte Prokofjew anno 1936 noch nicht wissen (und selbst wenn das Werk 1946 geschrieben worden wäre, hätte diese Doppelbödigkeit weniger zu ihm als eher zu seinem Komponistenkollegen Dmitri Schostakowitsch gepaßt, der dann aber kaum die "Säuberungen" von 1948 überlebt hätte), und so sollte man das Werk vermutlich doch eher in seiner Hauptbedeutung belassen, ohne freilich die Moral, daß auch die Kleinen große Leistungen vollbringen können, wenn sie ihre Stärken bündeln, zu vergessen. Daß das Werk mit dem damals postulierten "sozialistischen Realismus" zumindest bei Fokussierung auf den zweiten Teil des Begriffs wenig zu tun hat, zeigt am überdeutlichsten die Schlußszene, denn den Wolf hätte man in der Realität keineswegs in den Wald zurückgeschafft, aus dem er schließlich nach wenigen Minuten wieder vor Peters Haus hätte stehen können, sondern erschossen und seinen Pelz in einer Staatlichen Rauchwarenmanufaktur verarbeitet. Auf diese Idee ist nicht mal Loriot gekommen, der zu beiden an diesem Nachmittag gespielten Werken jeweils eine deutsche Textfassung geschaffen hat, die allerdings den eingangs erwähnten strukturellen Problemfall ein weiteres Mal unterstreicht. Diejenige zu "Peter und der Wolf" paßt sich dem niedrigen Zielgruppenalter jedenfalls sehr gut an und spart trotzdem nicht mit einem gewissen Prozentsatz feinsinniger Ironie, die das Schaffen des Vicco von Bülow im Regelfall zu durchziehen pflegt. Nachteil an der Sache ist, daß Wieland Moderegger irgendwie nicht so richtig in die Rolle des Märchenonkels paßt und zudem dann unter akustischer Unverständlichkeit leidet, wenn das Drehbuch ihm aufträgt, gleichzeitig mit dem Orchester zu agieren. Zum Glück ist die Gesamtstrukturierung des Stückes simpel genug, daß man die Handlung auch dann versteht, wenn man nicht jedes einzelne Wort vernehmen kann. Dabei hilft die Maßnahme, am Anfang die musikalischen Motive und die jedem der Akteure zugehörigen Instrumente vorzustellen, und man wird in den ersten Handlungsszenen das Gefühl nicht los, daß Prokofjew konsequent von vorn nach hinten komponiert hat, da die Verwebung und Verarbeitung der Motive trotz nicht wesentlich komplexer werdender Handlung mit zunehmender Spieldauer immer komplizierter wird. Das hochschulintern besetzte Orchester unter Alexander Bülow zeigt sich den anstehenden Aufgaben mehr als gewachsen, und so bereitet "Peter und der Wolf" den Anwesenden erstmal eine schöne Zeit - zumindest den meisten, nämlich denjenigen, die sich davon nicht unterfordert fühlen (siehe oben).
Kurzer Umbau auf der Bühne, zwei Klaviere werden in die Mitte gerollt, und ohne größere Pause geht es mit "Karneval der Tiere" von Camille Saint-Saëns weiter. Der Sprecher wechselt, der Dirigent auch, die Orchesterbesetzung reduziert sich noch ein Stück weiter, und auf geht es in den Urwald, wie das Programmheft behauptet, um als Abschlußsatz nicht "Ab in den Wald!" schreiben zu müssen (man erinnere sich an die gleichnamige Märchenverballhornung von Stephen Sondheim, die vor geraumer Zeit ebenfalls im Hochschulspielplan stand), wobei man verkennt, daß von den auftretenden Tieren sicherlich die Hälfte naturgemäß selten oder nie im Urwald zu finden sein dürfte. Aber genug der theoretischen Kritik, hinein ins Karnevalsvergnügen, und auch hierzu gibt es wie erwähnt den Loriot-Text. Karsten Müller hat gegenüber seinem Vorgänger dabei den Vorteil, daß er durchgehend nur zwischen den musikalischen Szenen sprechen muß, was seine prinzipielle akustische Verständlichkeit erhöht; dafür sinkt aber die inhaltliche Verständlichkeit zumindest für den jüngeren Teil der Kinder rapide ab, wenngleich sie immer noch höher liegt als die des musikalischen Parts, denn der erfordert doch schon ein gerüttelt Maß an musikalischer Vorstellungskraft im eigenen Hirn, und manche Anspielung des Komponisten, der reichlich Material von Kollegen verbraten hat, dürfte sich selbst der Aufmerksamkeit des erwachsenen Publikums entzogen haben, da nicht alles so offensichtlich eingebastelt wird wie die barocken Klänge im Fossilien-Kapitel. Auch der Rezensent ist sich nahezu sicher, selbst nicht alle Querverweise erkannt zu haben, aber das Werk macht trotz allem prinzipiell Spaß, zumal die Instrumentalisten auch hier durch die Bank weg gute Arbeit verrichten, was natürlich explizit auf die Solistenfraktion zutrifft. You Jung Lee und Da Sol Kim an den beiden Klavieren präsentieren sich jedenfalls als sehr gut aufeinander eingespieltes Team, das selbst die rasendsten Unisoni (und davon gibt es etliche im Werk) tatsächlich als solche hinbekommt, und Cellist Jae-Jun Kim hat seinen großen Auftritt im Höhepunkt des Karnevalsprogramms, nämlich der Nummer des Schwans, und dessen elegante Linien bekommt er auch mit feinem Schmelz hin. So haben sich die Mitwirkenden den Schlußapplaus des etwas ausgedünnten Auditoriums redlich verdient, wenngleich die Programmkombination beim nächsten Mal vielleicht doch noch etwas intensiver durchdacht werden sollte.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver