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Ab in den Wald!   22.06.2004   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Die Frage mag dem Außenstehenden paradox erscheinen, aber ihre Relevanz wird gleich erklärt: Kennen Henrik Flyman und Erik Ravn "Ab in den Wald!"? Henrik Flyman und Erik Ravn, das muß dazugesagt werden, sind die Bandköpfe von Wuthering Heights, die im Januar 2004 mit "Far From The Madding Crowd" ein Album vorgelegt haben, dessen Grundkonzeption dem des Musicals "Ab in den Wald!" von Stephen Sondheim gleicht - und das, obwohl es sich bei "Far ..." keineswegs um ein Musical, sondern um melodischen Speed Metal handelt. "Far ..." verarbeitet folkige und anderherkunftige Zitate, überraschende Breaks, überschaubare Härte und ein paar eingängige sowie etliche weniger eingängige Melodien zu einem komplexen, aber begeisternden Ganzen - genau nach der gleichen Bauart hat Sondheim 1987 auf ein Buch von James Lepine sein Musical geschaffen, das im Original übrigens "Into The Woods" heißt. Damit dürften Wuthering Heights-Kenner ein weiteres Mal aufheulen (wohingegen sich die Liebhaber der verblichenen norwegischen Avantgardisten In The Woods ... beruhigt wieder hinlegen können), heißt die zentrale Songtrilogie auf "Far ..." doch "Longing For The Woods", wenngleich sich dort keine Grimmschen Märchenfiguren tummeln wie bei Sondheim/Lepine, sondern eher Gestalten aus Herrn Tollkühns Mittelerde. Paradoxerweise hält die Zeile "Night falls, and we're longing for the woods" diese Trilogie zusammen - wieder ein Element, das auch die Figuren aus dem Musical unterschreiben können. Denn nach einer dreigeteilten Eröffnung verdichtet sich die Handlung im zumeist nächtlichen Wald, in welchem sich diverse eigentümliche Wesen tummeln (nein, der Ku-Klux-Klan spielt nicht mit - die drei schwarz vermummten Gestalten sind lediglich die Requisitenträger) und Aschenputtel, Rotkäppchen, Rapunzel und dem britischstämmigen Gastarbeiter Jack mit der Bohnenranke (in der deutschen Version Hans geheißen) das Leben schwermachen. Zentrale Figur ist aber eigentlich ein Bäckerehepaar, das aufgrund eines Fluchs der benachbarten Hexe kinderlos bleibt, bis es innerhalb von drei Tagen vier Utensilien besorgt hat - logischerweise von jeder der oben genannten Figuren eine. Auch logisch, daß sie es nach zahlreichen Irrungen, Wirrungen schaffen und am Ende des ersten Aktes eigentlich schon ein Happy End lauert, wenn da nicht noch Elemente wie Blutrache ins Spiel kämen, weil dummerweise während des ersten Aktes Hans einen Riesen umgebracht hat und dessen Frau darob im zweiten Akt zur Vendetta ruft, die Figuren damit aber aus dem mittlerweile eingetretenen Unfrieden reißt und sie zu einer seltenen Einigkeit zwingt, so daß unter Inkaufnahme diverser Kollateralschäden die Riesin besiegt werden kann.
Lepine und Sondheim haben sich die Freiheit genommen, die Märchenfiguren zwar auf erkennbare und partiell auch typische, aber insgesamt sehr unkonventionelle Weise einzusetzen. So vernascht der Wolf Rotkäppchens Großmutter, maßgeblich angestiftet durch diese, auf etwas andere Weise als im Original, der Erzähler kann seine Gags im ersten Akt auch kaum bremsen (es muß offen bleiben, in welchem Maße sich der komische Aspekt im Original von der deutschen Übertragung aus der Feder Michael Ernsts unterscheidet), und in einer Doppelarie des Bäckerehepaars wird dann auch mal philosophisch tiefer geschürft und die Rollenverteilung im gemeinen bürgerlichen Ehepaar karikiert (hat man hinter den komischen Vorhang geschaut, offenbaren sich einem doch die einen oder anderen solcherartigen Momente). Aus der studentischen Besetzung ragt Olivia Wendt als völlig überdrehtes Rotkäppchen heraus, allerdings bleibt festzuhalten, daß die trotz der nicht eben progressiven Melodik alles andere als anspruchslosen Vokalpartien (bedingt durch den oftmals sehr raschen Wechsel von Gesangs- und Sprechpassagen) durchgängig gut gemeistert werden, so daß auch die polyphonen Passagen, etwa im Finale des 1. Aktes, vor dem Abdriften in ein undurchdringliches Dickicht bewahrt bleiben. Das Orchester (als Gast am Start ist das Westsächsische Symphonieorchester) tut das, wozu es da ist, das Bühnenbild verzichtet auf allzugroßen Overkill, und obwohl die Choreographin Lynnda Curry heißt, hat sie doch eher ordentlich gepfefferte Arbeit abgeliefert, die nur an einigen wenigen Stellen nicht mit Jan-Richard Kehls Regieideen konform geht.
Die Eingangsfrage, ob Henrik Flyman und Erik Ravn "Ab in den Wald!" kennen, kann auch nach diesem Abend natürlich nicht beantwortet werden. Aber anhand des Eindrucks dieser Musicalinszenierung und der Kenntnis von "Far From The Madding Crowd" wage ich eins zu prognostizieren: Selbst wenn sie es bisher noch nicht kennen - sie würden es mögen.



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