www.Crossover-agm.de 4. Vorausscheid des 8. Jugendfestivals gegen Gewalt und Rassismus "Leipzig. Courage zeigen."   08.04.2006   Leipzig, Anker
von rls

Es begab sich in den Mittneunzigern, als bundesweit bekannte Neonazis glaubten, im Platz vor dem Völkerschlachtdenkmal in Leipzig einen idealen Platz für eine Großkundgebung vorm 1. Mai gefunden zu haben (die Gedankenassoziation "nationaler Widerstand", welchselbiger in den napoleonischen Befreiungskriegen natürlich einen ganz anderen Background hatte als in heutiger neonazistischer Denkweise, war offensichtlich zu verlockend). Gegen diese Bestrebungen setzten sich die Leipziger zur Wehr, und so kam es dazu, daß diese den Platz kurzerhand mit einer eigenen Veranstaltung besetzten, woraus sich bis heute eine feste Serie entwickelt hat, die unter dem Motto "Leipzig. Courage zeigen." steht und an die ein Nachwuchsbandwettbewerb angeschlossen ist, dessen Siegerband dann im betreffenden Jahr als Support auf dem Platz vor dem Völkerschlachtdenkmal spielen darf. Da die Zahl an Bandbewerbungen auf ungebrochen hohem Niveau steht (es gibt keine prinzipiellen stilistischen Einschränkungen), besitzt der Wettbewerb drei Phasen: die primäre Sondierung der Bewerbungen samt Auswahl von jeweils reichlich 30 Bands für die sechs Vorausscheide, deren Siegerbands dann im Endausscheid den Platz auf dem Festival ausspielen. Der mit sechs Bands des erweiterten Rockspektrums besetzte Gig im Anker stellte den vierten der Vorausscheide dar.
Daß die verbriefte Anstoßzeit 19 Uhr illusionären Charakter aufweisen würde, konnte man bereits erahnen, und im Anker hingen denn auch neue Ablaufpläne mit einer Anstoßzeit um 20.15 Uhr, deren Folge (ein Wechsel aus je 30 Minuten Spiel- und 15 Minuten Umbauzeit) im Laufe des Abends auch nahezu exakt eingehalten wurde. Bis auf Shaype hatten alle Bands ihren mehr oder weniger großen Fanclub mitgebracht (Instructive etwa hatten gleich einen ganzen Bus aus dem Raum Zwickau herangekarrt), der sich entsprechend lautstark bemerkbar machte, wobei sich das komplette, teilweise sehr junge Publikum aber sehr fair präsentierte und auch bei den anderen Bands ordentlich für Stimmung sorgte. Da dem Publikum ein Stimmrecht für die beste Band zustand, das dann mit in die Punktvergabe der Jury eingerechnet wurde, hätte die Kopfzahl der mitgebrachten Fans also durchaus siegentscheidend sein können - wie es dann real war, darüber mehr weiter unten.
Visual Disorder legten also pünktlich 20.15 Uhr los und brauchten mehrere Minuten, bis mit der Sängerin auch das letzte Bandmitglied die Bühne betreten hatte. Das lange Vorspiel erweckte streckenweise progrockige Vorahnungen, die sich im Verlaufe der halben Stunde aber nur teilweise bewahrheiten sollten. Visual Disorder waren nämlich zweifellos progressiv im Sinne von fortschrittlich, was die Einbindung völlig schräger, an finsterste SubPop-Zeiten erinnernder Harmoniegestaltungen zwischen den einzelnen Instrumenten bzw. zwischen den Instrumenten und den Gesangslinien in einen eher simplen Rock-Background anging, wobei sie die Frage offenließen, ob das gewollt war oder eher nicht. Eine etwas lauter abgemischte Gitarre hätte zur Antwort auf diese Frage vielleicht einen Beitrag leisten können, auch das Saxophon, zu dem die Sängerin einige Male griff, war nur gelegentlich zu hören und unterstützte, wenn man es denn mal vernehmen konnte, die Schrägheit weiter. Zudem stellte sich der Kommunikationsstil der Sängerin in den leicht hysterisiert gekreischten Ansagen als etwas gewöhnungsbedürftig heraus; singen konnte sie allerdings hervorragend, wenn man die Gesangsleistung mal völlig isoliert betrachtet. (In die optikbezogene Spitzengruppe der an diesem Abend bühnenaktiven Frauen reihte sie sich auch noch ein, wohingegen der diesbezügliche Publikumspreis eindeutig an die bezaubernde fröhliche langhaarige Dunkelblondine mit dem roten Jäckchen aus dem Black Wings-Fanlager ging.) Der Keyboarder konnte es dafür nicht so gut, wie er in einem Song Gelegenheit bekam zu beweisen; auch seinem Keyboardspiel hätte etwas mehr Variabilität durchaus gut getan. Keine schlechte Band, keinesfalls - aber hier ist noch ein gewisser Reifeprozeß vonnöten.
Diesen Reifeprozeß hatten Instructive offensichtlich schon hinter sich, denn die brachten eine rundum professionelle Vorstellung auf die Bühne. Leider hörte man auch bei ihnen die Gitarrenarbeit zu wenig aus dem sonst recht klaren Sound heraus, trotzdem fiel schon bei diesen Verhältnissen als einziges kleines Manko auf, daß die Rand-Zwickauer noch einen richtig guten Leadgitarristen bräuchten, der die Ideen des Keyboarders adäquat beantworten kann. Zumindest wenn man vom Höreindruck dieser halben Stunde ausgeht, waren die beiden vorhandenen Gitarristen dazu nämlich leider nicht in der Lage, spielten ihre Rhythmusparts souverän, ohne aber richtig zu glänzen (das gelegentliche Aufblitzen von Virtuosität blieb somit eben dem Keyboarder vorbehalten). Das kompakte Songmaterial konnte allerdings über weiteste Strecken trotzdem überzeugen, neben mal traditionellerem, mal modernerem Hardrock wagte sich die Band an manchen Stellen auch bis in den Power Metal vor bzw. zurück; dem Bekunden nach haben sie mal als Metalband angefangen, und das sieht man auch noch, denn da standen mit dem publikumsseitig linken Gitarristen, dem Bassisten und dem Keyboarder drei Menschen auf der Bühne, die des öfteren am Headbangen waren - und das, obwohl ihre Haarlängen mittlerweile die der Beatles nicht mehr überschreiten. An wen mich der angerauhte Gesang des anderen Gitarristen erinnert, ist mir bis heute aber noch nicht eingefallen; auch sein Saitenkompagnon übernahm einzelne Leadgesangspassagen in sehr kompetenter, paradoxerweise gleich an beide Falconer-Sänger erinnernder Weise. Eine insgesamt sehr überzeugende und professionelle wilde Show des Quintetts, das auf der Erfolgsleiter sicher noch ein gutes Stück nach oben kommen wird, denn grandiose Hymnen wie "All Around The World" schreiben auch die Großen nicht mal eben zwischen Frühstück und Gänsebraten.
Nach einer solchen Band auf die Bretter zu müssen ist nicht leicht, zumal dann, wenn man wie Qubed einen deutlich kontemplativeren Stil fährt. Das Sextett löste diese Aufgabe trotzdem mehr als zufriedenstellend. Fünf der Mitglieder bestritten den Gig im Sitzen, lediglich der für die Hälfte der Spielzeit die Holzbläserfraktion stellende Mensch (nehmt ihm bitte diesen fürchterlichen Ringelpullover vor dem nächsten Auftritt weg - zur schlicht-eleganten Kleidung der anderen Mitglieder paßt er nicht besser als Sauerkraut zur Sahnetorte) stand in der Bühnenmitte. Zu hören gab es ausgefeilten Jazzpop, dessen in der Anmoderation angedrohten Stilschwankungen nahezu vollständig außen vor blieben. Der Gitarrist spielte nur den Opener und den Closer mit, die beide etwas mehr Druck machten, dazwischen verschwand er von der Bühne und ließ den Holzbläser in den Mittelpunkt treten, wobei sich an einigen wenigen Stellen auch der Bassist als Leadmusiker profilieren durfte. Chefin der Kapelle war allerdings offensichtlich die Pianistin, die diese Instrumentalrolle auch mit Bravour ausfüllte - das Mikrofon dagegen ist dagegen in doppeltem Sinne offenbar nicht so ihre Stärke. Erstens klang ihr Gesang verschiedentlich zu angestrengt, und zweitens waren die Ansagen viel zu trocken, muteten bisweilen sogar leicht arrogant an, wenngleich sie sicherlich nicht so gemeint waren. Ob man die zu 98% der Spielzeit beschäftigungslose Backingsängerin zur Leadstimme befördern sollte, kann nicht eindeutig entschieden werden, da sie sich in den 2% Aktivität auf (nicht schlechte!) Duette mit der Pianistin beschränkte. Markante Einzelsongs blieben Fehlanzeige, aber das Gesamtbild stimmte zweifellos positiv, und Qubed hatten nach Shaype zweifellos die zweitbesten Techniker in ihren Reihen.
Die Fans von Black Wings hatten keinen Aufwand gescheut, bildeten während des Gigs ihrer Lieblinge eine Phalanx quer über die ganze Hallenbreite (und der Anker ist nicht klein!) und winkten im Takt mit Leuchtstäben. Das sollte allerdings auch das Auffälligste des ganzen Auftritts bleiben, denn musikalisch war das Material eher weniger doll. Simpel gestrickter Poprock ist zwar prinzipiell durchaus begeisterungsfähig, aber nur dann, wenn man nicht permanent das Gefühl hat, daß die Simplizität eventuell auf Ideenmangel zurückzuführen ist. Die einzigen Hinhorcher produzierte der Keyboarder, dessen altertümliche Soundgebilde an The Who oder andere Helden der Spätsechziger bzw. Frühsiebziger reminiszierten, im Gesamtsound aber leider zu weit hinten angesiedelt waren. Die Rhythmusabteilung arbeitete unauffällig, aber wenigstens solide, und so hätte das bemützte Wesen an Gitarre und Gesang (das reale Geschlecht konnte man auf die Ferne gar nicht feststellen) die Gelegenheit gehabt, Akzente zu setzen, die es jedoch auf beiden Gebieten in den Sand setzte, beeinträchtigt allerdings auch noch dadurch, daß auch die Gitarre einen Tick zu leise abgemischt war. Uncharismatischer, fast gelangweilt wirkender Gesang paarte sich mit einer an naive Kunst grenzenden Gitarrenarbeit im Rhythmusbereich, die Leads bestanden, wenn es denn mal solche gab, aus Aneinanderreihungen von Tonschritten in zumeist mäßigem Tempo. Prinzipiell ist es zwar zu begrüßen, wenn sich Bands hinstellen und handgemacht losmusizieren (ich vermeide bewußt den Terminus "losrocken"), aber Black Wings haben noch einen sehr weiten Weg vor sich, wenn sie mal Bedeutung über die Stadtgrenzen Leipzigs hinaus erlangen wollen. Wenn Kollegin Katja S. dagewesen wäre, dann wäre ihr vermutlich nur ein Satz eingefallen: "Das rockt nicht."
Used rockten auch nicht, aber das hatten sie auch nicht vor, wie schon der Bühnenaufbau und der ausgeschriebene Bandname (United Special Electronic Department) demonstrierten. Auf der linken Seite ein Geräuschemacher an seinem Pult, auf der rechten Seite ein Bediener des Computers, des Synthesizers und des Zweitmikrofons, und in der Mitte hatte der Leadsänger jede Menge Platz, die er auch für Geräteturneinlagen mit dem Mikrofonständer nutzte. Klarer Fall: Used, die übrigens aus drei Ossis bestehen, die sich bei der Arbeit in einem Münchener Hotel kennengelernt haben, gehörten in die Riege der reinen Elektroniker, also derjenigen Bands, bei denen sich der rocksozialisierte Hörer verwundert fragt, wozu die bei einem Liveauftritt überhaupt drei Leute auf der Bühne brauchen, wenn eh alles vom Band kommt. Kam es im Falle von Used scheinbar nicht ganz, auch wenn speziell beim rechten Menschen streckenweise schon unklar blieb, was er da mit zehn Fingern auf dem Synthie gerade zu spielen vorgab. Nicht so richtig vom Hocker hauen konnten auch die Songs, die zwar solide inszeniert waren, merkfähige Passagen aber missen ließen und von den verwendeten Mitteln her im Prinzip nichts auffuhren, was Camouflage und 100 Konsorten vor 20 Jahren nicht schon besser verbraten haben. (Sollten sich in dieser Szene noch weitere ähnlich gelagerte Acts tummeln, verstehe ich sogar die Herkunft des bei fast jedweder traditionalistischer musizierenden Kapelle egal welchen Genres ausbrechenden Spottes des Kollegen Mike L.) Der einzige richtige Trumpf im Synthiepop des Trios bestand in den beiden Stimmen, denn singen konnten die beiden dafür verantwortlichen Herren wirklich gut. Ansonsten paßte zum klinisch sauberen Sound der Truppe ein Songtitel der Progrocker Sylvan: "Given - Used - Forgotten".
Shaype hatten sich eigentlich anno 2005 (nach einer hochklassigen Mini-CD) schon aufgelöst, aber zumindest für diesen Gig erstanden sie wieder wie Phönix aus der Asche, sogar in erweiterter Besetzung, denn zum Stammfünfer gesellten sich noch zwei Leute für die Backingvocals, deren einer gar erst an diesem Abend spontan einsprang, weil der ursprünglich vorgesehene Backingsänger kurzfristig ausfiel. Shaype hatten das dreifache strukturelle Problem, daß sie eben keinen Fanclub mithatten, daß weite Teile des Publikums schon recht ausgepowert waren und daß außerdem sowieso nicht ganz klar ist, was man zu dieser Art Musik in der Konzertsituation eigentlich machen soll, so daß sich die meisten für andächtiges Lauschen entschieden und nur stellenweise ein Headbanger zu sichten war. Aber dafür konnten Shaype auch mehrere Trümpfe ausspielen: Sie hatten (neben Used, bei denen das aber auch keine Kunst war) den klarsten Sound aller Bands dieses Abends, sie hatten die technisch besten Musiker, und sie hatten vor allem hochwertige Songs, die den Musikern auch Gelegenheit boten, ihr technisches Können zu demonstrieren. Mit "Spacetrip" eröffnete ein brillanter progressiver Melodic Metal-Track, der gern ins Speedige abkippte und dem Rezensenten neben Instructives "All Around The World" die Kinnlade an diesem Abend am weitesten runterfallen ließ. "Get In Shaype" ist mir auch in der leicht umarrangierten Version noch einen Tick zu kratzbürstig, die für mich allesamt neuen Tracks "Die Schwarze Witwe", "Cowards Back To Mama" und "The Force" hielten über weite Strecken ein hohes Niveau (wenngleich der Übergang nach dem ersten Witwen-Refrain etwas holperte und das "Cowards ..."-Solo offensichtlich auch etwas anders geplant gewesen war - das machte der brillant arrangierte Übergang aus dem Hauptsolo in den Schlußrefrain von "The Force" aber locker wieder wett), und das obergeniale "Little Paris", das den Gig beschloß, ist eine derjenigen Hardrockhymnen, die man nicht allzuoft im Leben schreibt. Bedenkt man noch, daß Shaype eigentlich "nur" ein Nebenprojekt sind und in voller Besetzung vor dem Gig nur ein einziges Mal nach einjähriger Pause geprobt haben, wird die Leistung erst richtig deutlich. Unter "verbesserungswürdig" wäre allerdings die Kommunikation mit dem Publikum einzustufen, denn erst bei der Schlußansage von Sängerin Jasmin (what a voice!), die "Little Paris" der großartigen Stadt Leipzig widmete, war der Enthusiasmus zu spüren, der in der Musik schon aus fast jeder einzelnen Note sprühte, Projektcharakter hin oder her. So blieb in Kopplung mit einzelnen Schwächen in den erwähnten Songs (wobei man manche Shaype-Songs 15mal hören muß, um alle Wendungen halbwegs zu verstehen) ein sehr starker, aber nicht idealer und nicht ganz die wünschenswerte Geschlossenheit transportierender Gig.
Meine persönliche Rangliste sah also Instructive sehr knapp vor Shaype, dahinter mit schon deutlicherem Abstand Qubed, und dieses Urteil fand zunächst auch seine Bestätigung, als Moderator Tobi (dessen Glückliche-Figur-Passagen die Weniger-Glückliche-Figur-Passagen dankenswerterweise deutlich übertrafen) die drei in der Endwertung Erstplazierten noch ungeordnet auf die Bühne rief: Instructive, Qubed und Shaype. Zu meiner Überraschung (und auch zu derjenigen der Band selbst) landeten allerdings Shaype ganz oben auf dem Treppchen, die nun also am 28. April im Anker mit den Siegern der anderen fünf Vorausscheide wetteifern werden. Es bleibt weiter spannend.



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