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Akte Romeo   15.01.2006   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Was hat die Leipziger Musik- und Theaterhochschule mit Fußball zu tun? Auf den ersten Blick nicht sonderlich viel. Auch auf den zweiten Blick noch nicht, denn das hier zu reviewende Musical "Akte Romeo" kommt bis auf eine Szene (dazu später noch mehr) ohne das runde Leder aus. Erst der dritte Blick offenbart einen strukturellen Zusammenhang: Die Bundesregierung hat im Zuge der Fußball-WM-Vorbereitung eine Imagekampagne namens "Deutschland - Land der Ideen" gestartet, um im Land der Beamten, Dichter und Denker den Aspekt wieder mehr auf letztgenannten Terminus zu lenken und sich gleichzeitig als weltoffen und vielseitig zu präsentieren - ein Ansinnen, das in der Vergangenheit von verschiedenster Seite von rot bis braun bisweilen zu torpedieren versucht wurde. Über 1200 Projekte aller möglicher und unmöglicher Sparten bewarben sich für diese Kampagne, und in einem sicherlich höchst schwierigen Auswahlverfahren wurden 365 Projekte zur Partizipation bestimmt - für jeden Tag im WM-Jahr eines. So gelangte auch die Hochschule zu der Ehre, mit der letzten der fünf Aufführungen von "Akte Romeo" als einer von "365 Orten im Land der Ideen" gewürdigt zu werden. Damit standen ab 19 Uhr also erstmal nicht die Musicaldarsteller auf der Bühne, sondern Hochschul-Prorektorin Gunhild Brandt, Mike de Vries von der die Kampagne durchführenden FC Deutschland GmbH, Dirk Ohler vom Sponsor Deutsche Bank sowie Burkhard Jung als Vertreter der Stadt Leipzig, und die Hochschule erhielt inmitten der Grußreden einen Pokal, eine Urkunde und eine Ehrentafel überreicht, welchletztere in Zukunft an der Außenfassade an diesen Status erinnern soll. Wen interessiert, welche anderen Projekte zu den erlauchten 365 zählen, der wähle sich auf www.land-der-ideen.de ein - vom Tag der offenen Tür im Museum für Brotkultur Ulm (18.2.) über eine Tagung im Institut für Deutsche Sprache Mannheim (15.3.) bis zu einer Werksführung bei Airbus Deutschland in Hamburg (27.6.), Vorträgen im Deutschen Zentrum für Künstliche Intelligenz Saarbrücken (22.9.), den Neuberin-Festspielen in Reichenbach/Vogtland (13.10.) und der Christmette am Heiligabend im Kölner Dom ist alles dabei.
Ost und West vereinigen sich also im Rahmen dieser Kampagne - Ost und West vereinigen sich aber auch im Rahmen des Musicals, dessen zentrale Story in wenigen Worten darstellbar ist: Theo Schmidt aus Peine (das liegt in Niedersachsen zwischen Hannover und Braunschweig) kommt im Frühjahr 1989 im Rahmen eines Familientreffens zu Besuch nach Berlin - in dessen Ostteil, wohlgemerkt. Dort lernt er in einer Disco Vera Keller kennen, und es funkt sofort zwischen den beiden. Ungeachtet der komplizierten strukturellen Situation beginnen Vera und Theo sofort gemeinsame Zukunftspläne zu schmieden, bis - ja bis sie von der Situation eingeholt werden. Fernbeziehungen haben ja schon immer ein gewisses strukturell schwieriges Moment in sich geborgen, aber eine Fernbeziehung zweier Jugendlicher (Theo will im Sommer Abitur machen, Vera ist in der Berufsausbildung), von denen der eine westlich und der andere östlich des antifaschistischen Schutzwalls lebt, erscheint im Prinzip als eine Unmöglichkeit. Die beiden lassen sich von allen Schwierigkeiten aber nicht davon abbringen und sind bis auf einige Momente des Zweifels davon überzeugt, daß ihre Liebe stärker sei als alle zu überwindenden Hindernisse zusammen. Die Tatsache, daß Vera plötzlich schwanger ist, hilft nicht bei der Entspannung der Situation, denn die Stasi bekommt schnell Wind von der Beziehung und beschließt natürlich, sich diese zunutze zu machen - so wird die "Akte Romeo" angelegt, die in einer etwas zu moralinsauer angefügten Rahmenhandlung anno 2006 von einem Türken und dessen Freundin zufällig gefunden und intensiv studiert wird. (Wenngleich die zentrale Botschaft, die Liebe überwinde alle Grenzen, sowohl auf die Haupthandlung als auch auf die Rahmengeschichte, in der die zwischenkulturelle Beziehung auf Widerstand von außen stößt, zutrifft und dies auch in der zentralen Zusammenführung der beiden Liebespaare in einem großangelegten Gesangsquartett gipfelt, wirkt dieser Rahmen und besonders seine Auflösung nach der Pause irgendwie künstlich angeklebt.) Letztlich wählen Vera und Theo nicht den naheliegendsten Weg, daß Vera versucht, in den Westen zu gelangen - statt dessen will Theo in den Osten umsiedeln, weil er überzeugt ist, daß ihm seine Liebe auch über die Restriktionen in der DDR (köstlich: die Speisegaststättenszene mit völlig gefrustetem Personal) hinweghelfen wird. Allerdings sucht er sich als Umsiedlungsdatum den 10. November 1989 aus, so daß ihm der DDR-Grenzsoldat auf sein Ansinnen, er wolle DDR-Bürger werden, die sitcomartige Antwort geben kann: "Na, da müssen Sie sich aber beeilen!" Alles wird gut? Alles wird gut.
Umgesetzt wird das Ganze musicaltypisch mit einer Mixtur aus Sprech- und Gesangspassagen, wobei sich das Ohr des Hörers erst an die Praxis gewöhnen muß, daß die Sprache unverstärkt bleibt, der Gesang aber über die Funkmikros abgenommen wird. Zumindest letztgenanntes ist aber auch nicht anders möglich, denn die hinten auf einem Hochpodest wirkende sechsköpfige Band, in der immerhin gleich zwei E-Gitarristen agieren, macht gepflegten, nicht selten feist rockenden Krach und präsentiert sich als gut eingespielt, auch was abrupte Breaks oder träumerische sanfte Passagen angeht. Musikalisch gibt es ein Konglomerat aus Eigenkompositionen der Musicalautoren sowie Coversongs bzw. eingewobenen Zitaten von Klassikern aus dem west- wie ostdeutschen Pop- und Rockareal hauptsächlich der 80er Jahre zu hören, gipfelnd in "Geh zu ihr" (Älteren bekannt von den Puhdys aus "Die Legende von Paul und Paula", Jüngeren vielleicht eher in der kammermusikalisch angehauchten Coverversion von Knorkator), auf das man eigentlich von Anfang an irgendwie gewartet hat und das die Einreiseszene Theos in die DDR am 10. November untermalt, sowie im von allen 14,5 Darstellern (der halbe ist Mitkomponist Juan Garcia - nee, Georg, kannst dich wieder setzen, es ist nicht der von Agent Steel -, der noch eine kleine Nebenrolle als DDR-Leistungsschwimmerin bekommen hat; übrigens wurden nur fünf der Darsteller in der DDR geboren und eine sechste in Leningrad, alle anderen stammen aus dem NSW, dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet) zeilenweise gesungenen Schlußsong "Über sieben Brücken", von dem vermutlich die meisten Altbundesbürger immer noch glauben, es stamme von Peter Maffay, und in dem Juan seine zu singende Zeile in "Manchmal schluck' ich, was der Trainer mir gibt" abwandelt, womit er Lachstürme beim Publikum hervorruft. Und man bemerkt im Saal durchaus den einen oder die andere, welche die Zeilen manch Klassikers andächtig mitformulieren, was in der Hochschule ja sonst auch eher selten ist. Das Schöne an der Sache aber ist, daß sich ein Cover wie "Sonderzug nach Pankow/Chattanooga-Choo-Choo" (astreine Udo-Lindenberg-Performance von Daniel Splitt!) und eine Eigenkomposition wie der brachiale, von den beiden Stasi-IMs (einer der beiden ebenfalls von Daniel Splitt verkörpert - die Darsteller haben bis zu sechs Rollen) gesungene Raprocker "Gott sieht alles" (der auch im Repertoire einer Band wie Such A Surge keine schlechte Figur gemacht hätte) qualitativ gar nicht so sehr viel nehmen. Und daß es mancher der Sänger problemlos schafft, aus den wildesten Tanzszenen ansatzlos einen sanften Sologesangspart anzustimmen, ohne daß man ihm anhört, er sei irgendwie außer Atem, wirft ein positives Licht auf den guten Trainingszustand der Mitwirkenden, die gesanglich über weite Strecken ausnahmslos gutklassige Leistungen vollbringen, wenngleich sie die eine oder andere Harmonie mitunter nicht ganz mittig treffen.
Was gleichfalls sehr positiv zu vermerken wäre, ist die Wirklichkeitsnähe der Story. Sie ist (bis auf die erwähnte verquaste Rahmenhandlung) so simpel gehalten, daß sie eigentlich fast jedem hätte passieren können, und zumindest einzelne Szenen dürften vermutlich bei vielen der DDR-sozialisierten Zuschauer den Aha-Erinnerungseffekt ausgelöst haben: "Genau so war's!" Die Regie- und sonstige Ideenabteilung mit Produktionsleiterin Evelyn Fischer und Regisseur Frank Leo Schröder an der Spitze (auch hier also wieder ein Ost-West-Team) besticht durch ein gutes Händchen für Details und schießt nur einen kleinen Bock: Der ABV (für die Jüngeren und die Altbundesbürger: Abschnittsbevollmächtigter - eine Art "Bürgerpolizist"), der Familie Radtke und ihren Gästen (nämlich den Schmidts) im Frühjahr 1989 einen Besuch abstattet, wäre für sein Loblied auf Jürgen Sparwasser zu dieser Zeit vermutlich noch in Bautzen (das heißt, im Gefängnis) gelandet. Damit schließt sich der Kreis zum Fußball: Jürgen Sparwasser war der Schütze des Siegtores beim 1:0 der DDR über die BRD bei der Fußball-WM 1974, floh aber 1988 aus der DDR und galt danach dort offiziell als persona non grata. Aber sonst ist wie erwähnt die Kreativabteilung mit Akribie vorgegangen und hat zudem jede Menge aus heutiger Sicht kultige Einfälle (1989 war das natürlich nicht kultig, sondern im Spektrum zwischen "ernst gemeint" und "zum Kopfschütteln") eingebaut, was bei der Maidemonstration beginnt (die drei Leistungsschwimmerinnen ernten schon dort schallendes Gelächter) und sich über das Lied "Wenn Mutti früh zur Arbeit geht" und das - damit in nicht geplantem, aber erstaunlich deutlichem Zusammenhang stehende - unterschiedliche Rollenverständnis der Frau in der DDR und der BRD bis hin zur Dekoration der hauptsächlich rechten Bühnenhälfte zieht. Da gibt es etwa ein Wiedersehen mit Sigmund Jähn, es wird der XXV. Kongreß einer mir bis heute apocryphen Organisation namens CEB Karl-Marx-Stadt angekündigt, und natürlich hängt am Bücherregel auch ein Bild von Erich Honecker, bei dem Beleuchter Horst Theurich übrigens so geschickt gearbeitet hat, daß dieses Bild individuell angeleuchtet werden kann. Das Publikum bemerkt den damit verbundenen Gag offensichtlich nicht: Beim Schlußapplaus erleuchtet Theurich zuerst den Bühnenvorderraum (wo die Akteure stehen), dann das Hochpodest (wo die Band steht) und dann für einen Moment ausschließlich das Honeckerbild - das Publikum indes klatscht mit unveränderter Intensität weiter.
"Ein Spiel dauert 90 Minuten", sprach einst ein Weiser des Fußballs. Dieses hier war deutlich länger und doch zu keiner Sekunde langweilig, drohte nie in "Rasenschach" umzukippen, woran alle beteiligten Mannschaften ihren Anteil hatten. Und es wäre schade, wenn es so einfach in der Schublade verschwinden würde - sollten andere Stadien (=Spielstätten) zumindest in der ehemaligen DDR nicht vielleicht auch Interesse dran haben?



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