S!NGEN aus dem BAUCHGesang und Gesangsausbildung in der Rock- und Popmusik von Wolfgang Haubold Zum Vorwort geht's hier. JEDER KANN SINGEN - KANN JEDER SINGEN?
Als einziges Lebewesen verfügt die Spezies Mensch über einen Kehlkopf - darin enthalten die paarigen Stimmbandmuskeln -, durch dessen raffinierte Wirkungsweise sich (im späteren Leben als Sänger) vielfältigste und eindrucksvollste stimmliche Nuancierungen erzeugen lassen. Darüber hinaus bekommen wir mit unserer Geburt eine außerordentlich vitale Atemfunktion geschenkt, die vorrangig natürlich zu unseren Hauptlebensfunktionen zählt und die wir, nachdem wir sie im Laufe unseres weiteren Lebens durch zu geringe Inanspruchnahme (Zivilisationsinaktivität) meist ziemlich „heruntergefahren“ haben, uns als Sänger später unter dem Begriff „Atemstütze“ mühsam wieder anzueignen versuchen. Ein weiteres Geburtsgeschenk stellt das bereits im Mutterleib in Funktion getretene Hören dar. Weiterhin können wir, wie im Kapitel "Phänomen Singen" beschrieben, davon ausgehen, daß die beim Singen aktivierten Muskeln von eigenen Hirnbereichen (dem Sprachzentrum benachbart, nicht primär von diesem) mit starker Vernetzung zu emotionalen Regionen gesteuert werden. Dieses Paket bildet die Grundveranlagung zum Singen, die jedem Menschen in die Wiege gelegt wird. Fantastisch! Daß dann später allerdings nur verhältnismäßig wenige Menschen zum Singen, geschweige denn bis zum künstlerisch-professionellen Singen kommen, hat verschiedene Gründe. Den ersten Grund liefern uns Erziehung und gesellschaftliche Anpassung, die uns in unseren mitteleuropäisch-zivilisatorischen Breiten immer wieder disziplinieren (beginnend mit dem Ruhigstellen des Säuglings), die Wohlverhalten, Nichtaufbegehren u.ä. zur Norm im privaten und beruflichen Leben erheben. Emotionale expressive Eigenschaften wie Begeisterungsfähigkeit, Temperament, Spontaneität, Lustbetontes Tun, Streitkultur und Überzeugungskraft, Wahrheitsliebe, Mut u.a. werden mehr gebremst als gefördert. Statt Gefühle zu zeigen, wird Verstellung oder „Heraushalten“ geübt, was im Extremfall bis zu psychischen und anderen - auch organischen - Erkrankungen führen kann. Kurzum, unsere emotional verursachte „Chemie“ als Hauptantriebskraft der menschlichen Existenz trocknet mehr oder weniger ein. Negatives Ergebnis ist dann eine geminderte Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit (Intro- und Extrovertiertheit) vieler Menschen, deutlich werdend natürlich beim Singen. Im Prozeß einer künstlerischen Ausbildung (auch Singen gehört dazu) geht es dann darum, aufbauend auf einer wieder stärker ins Bewußtsein gerückten Erlebnisfähigkeit (Intro) vor allem die Ausdrucksfähigkeit (Extro) als Grundvoraussetzung für überzeugendes künstlerisches Tun von Hemmungsfaktoren zu befreien und zu entwickeln. Der zweite Grund ergibt sich
daraus, daß das Singen letztendlich auf der Tätigkeit einer
Vielzahl von Muskeln und Muskelgruppen beruht. Und diese Muskeltätigkeit
ist bei den meisten Menschen mehr oder weniger gestört, hörbar
werdend im individuellen Stimmklang (Husler/Rodd-Marling sprechen in ihrem
Buch "Singen ..." sogar von der „normal gestörten Stimme“ des Normalmenschen),
verursacht durch:
Der dritte Grund betrifft das
Hören. Die Reizüberflutung unseres Alltagslebens führt dazu,
daß dieser Sinn gegenüber dem Sehen zumeist an die zweite Stelle
gerückt und etwas stumpf geworden ist. Sänger, Gesangslehrer,
Stimmbildner oder Chorleiter sollten jetzt nicht nur an Intonation denken!
Mir geht es dabei sogar vorrangig erst einmal um die konkrete Hörwahrnehmung
der eigenen Stimme betreffend Ausdruck und dessen Nuancierung, Vokalfarben
und -klang, Konsonantenbildung, Stil und Phrasierung, Dynamik und Intonation.
Der Erfolg jeglicher gesanglicher und musikalischer Qualifizierung hängt
entscheidend davon ab, inwieweit diese Hörfunktion wieder ins Bewußtsein
gebracht, sensibilisiert und damit sozusagen wieder geschärft werden
kann. Denn: nur was man selbst erst einmal gehört hat, kann man danach
auch gesanglich qualitativ verändern, das Hören steht also am
Beginn des gesanglichen Tuns (oder sollte es zumindest / mehr dazu unter
"Gehörbildung").
Dies die wichtigsten Gründe. Lassen Sie sich aber bitte von den geschilderten Faktoren nicht allzusehr erschüttern und betrachten Sie diese - wie in obigem Zitat - als das absolut Normale! Ich empfehle Ihnen sogar ausdrücklich, ständig auf der Suche nach Ursachen für gutes wie auch weniger gutes Singen zu sein. Ständige Analyse und Meinungsbildung sind gerade für Sie als Sänger, Gesangslehrer, Stimmbildner oder Chorleiter, die Pop-, Rock-, Rockmusical- oder Gospeltitel singen, wichtig, weil Sie in der Regel auf keine „amtlichen“ Kriterien zurückgreifen können. Störungen oder Rückbildungen sollten auch nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten. Die Lust am Singen vermag durchaus Berge zu versetzen. Wie lernfähig und zielstrebig ein Sänger ist, zeigt sich im Verlauf einer gewissen Testzeit - im Rahmen einer Sologesangsausbildung oder in einer Chormitgliedschaft - von selbst. Auch trägt das zwischenmenschliche Klima und natürlich ein lustbetontes Singen in einer Band, in einem Chor oder in einer Gesangsausbildungsklasse seinen Teil bei, ob sich ein angehender Sänger „öffnet“ und dann seine zunächst verborgenen Gefühle sowie seine Talente und Fähigkeiten mehr und mehr nach außen befördert. In einzelnen Fällen kann dies aber auch fehlschlagen - das sollte man auch einkalkulieren. Ob ein solcher Sänger dann trotzdem in einer Band, in einem Chor oder in einer Ausbildung verbleiben sollte, hängt letztlich von den Qualitätsansprüchen ab, den diese oder der künftige Sänger an sich selbst stellen und die letztlich das zu singende Sängerrepertoire vorgibt. Fazit: Jeder kann singen -
wir bekommen diese Fähigkeit als „Geschenkpaket“ in Form unserer Emotionen,
von vital gebrauchsfähigen Muskeln sowie einem intakten Hörsinn
in die Wiege gelegt. Da wir uns aber meist erst sehr spät auf die
Benutzung dieser Fähigkeit besinnen (der Mensch ist - geistig wie
körperlich - zu aktiver Tätigkeit verpflichtend geschaffen, handelt
aber nicht immer danach!), ist sie dann oft schon weitgehend verblaßt,
rückentwickelt, degeneriert. Die Aufgabe jeglicher Sängerausbildung
besteht nun darin zu retten, was zu retten ist, es geht um die
Kriterien an die Sängerstimme in den verschiedenen musikalischen Kategorien Die Aussage „Jeder kann singen“
bedarf natürlich, wenn es schließlich um das konkrete Singen
in einer bestimmten Musikgattung geht, weiterer Differenzierung.
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