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S!NGEN aus dem BAUCH
Gesang und Gesangsausbildung in der
Rock- und Popmusik
von Wolfgang Haubold
Zum Vorwort geht's hier.
DIE GESANGSSTILISTISCHEN UNTERSCHIEDE ZWISCHEN
KLASSIK UND ROCK/POP
Betrachtet man die weltweite
Popularität der '3 Tenors' mit Opernarien wie Pophits, den von Andrew
Lloyd Webber ausgelösten Musical-Boom mit der genialen Synthese von
Rock, Jazz, Pop und Klassik, die Duetterfolge solch unterschiedlicher Sänger
wie Montserat Caballé/Freddie Mercury oder Sarah Brightman/Andrea
Bocelli ('Time To Say Goodbye') und vieler anderer auch Instrumentalinterpreten
auf der Trendwelle von Rockklassik oder Klassikpop, so könnte man
fast annehmen, daß sich Klassik und Rock/Pop immer weiter annähern,
so daß sich stilistische Grenzen schließlich ganz auflösen.
Dem ist natürlich nicht so!
Klassik-Gesangspädagogen
könnten sich jedoch durch diesen Trend bestätigt fühlen,
junge anfangende Pop/Rockinterpreten wie auch Jugendchor-Stimmbildner und
-Chorleiter aber werden verunsichert, welchen Weg sie denn zu gehen haben.
Um Licht ins Dunkel zu bringen, halte ich es für unumgänglich,
erst einmal die beiden Lager fein säuberlich zu trennen und also die
Hauptwege 1. Klassik und 2. Rock/Pop sozusagen in ihren 'reinen' Erscheinungsformen
aufzuzeigen.
1. Entdeckung, Werdegang,
Stimmtechnik und weitere Merkmale eines 'Klassik'-Sängers
Wird bei einem Kind oder Jugendlichen
eine auffällige Singstimme und eine gewisse Lust am Singen entdeckt
und gibt es im Familien- oder Bekanntenkreis jemanden mit 'Ahnung' in musikalischer
Hinsicht, dann wird schon mal die Empfehlung ausgesprochen, zwecks fachmännischer
Begutachtung einen Gesangspädagogen (zumeist an einer Musikschule)
aufzusuchen. Ein Stimmtest wird dann absolviert, indem ein einfaches Lied
- ein Volkslied o.ä., meist auf die Schnelle eingeübt - vorgesungen
wird. Der Lehrer testet dann noch mittels nachzusingender Tonfolgen den
vorhandenen Stimmumfang und mittels nachzuklopfender oder nachzuklatschender
Rhythmusbeispiele musikalisches Gedächtnis sowie rhythmische Veranlagung
- in der Summe: Die Musikalität. Gehen wir davon aus, daß der
Test bestanden wurde, so wird aus dem Gesangstalent jetzt ein Gesangsschüler
des klassischen Kunstgesanges. Der Gesangspädagoge beginnt mit seiner
Arbeit unter der Devise, die handwerklichen Grundlagen des Singens in Form
der Gesangstechnik zu vermitteln. (Eine Gesangspädagogin sagte mir
einmal: "Wenn ein Gesangstalent zu mir kommt, dann mache ich mit ihm ausschließlich
erst einmal nur Technik, Technik, Technik ...") Um äußere Störungen
solcher Technikarbeit abzuwenden, wird von besonders 'strengen' Lehrern
jedwedes anderweitiges Singen, wie z.B. in einem Chor, als schädlich
eingestuft und folgerichtig also verboten. Zur Tröstung wird dem Schüler
in Aussicht gestellt, daß er mittels seiner schließlich angeeigneten
Technik danach dann "alles" singen kann! Gewöhnlich geht der
Gesangsschüler nun wöchentlich einmal zum knapp einstündigen
Gesangsunterricht. Da gibt es die verschiedensten Übungen für
die verschiedensten Zwecke wie Vokale, Vokalausgleich, Atmung, Resonanz,
Höhe, Tiefe, Lockerheit, Stimmsitz u.v.m, Ausdrucksübungen wird
man aber meist vermissen. Wenn er dann so weit ist, daß er ein einfaches
Volkslied oder ein sog. Unterrichtslied singen kann, erfährt er, daß
man nicht 'behaucht' singen darf, daß das r generell als Zungen-r
auszuführen ist, den Vokal i färbt man zu ü (aus 'Liebe'
wird 'Lübe'), der Vokal a wird eingedunkelt (in Richtung offenes o:
Karpfenschnute), aus der unbetonten deutschen Endsilbe en wird ön
('singen' wird 'singön'), daß man vor ein Wort, das mit einem
Vokal beginnt, ein h davordenken muß ('aber' wird zu 'haber', 'und'
zu 'hund' - denn aus davordenken wird -machen), eine ganz bestimmte 'Sängerhaltung'
wird eingenommen, auf keinen Fall darf man die Mundwinkel breitziehen -
die richtige Mundstellung ist hochrund (Karpfenschnute), die Stimme wird
'eingesaugt' (Stichwort 'innere Weite'), besonders Tonfolgen nach oben
werden 'gedeckt' (eingedunkelt) gesungen usw. Hat man dann alle Teile eines
Liedes 'technisch' zur Zufriedenheit geübt, folgt am Schluß
noch die Aufforderung des Lehrers an den Schüler: "Und jetzt noch
mit Ausdruck!" Natürlich gibt es noch viele andere Nuancen der
Anweisungen, wie gemäß solcher Ausbildung 'richtig' zu singen
sei. Wie diese Stimmen am Ende dann wirklich klingen, läßt sich
ohnehin nicht mit Worten beschreiben. Auf jeden Fall wird die absolvierte
Gesangsausbildung irgendwie zu hören sein. Das ist auch so gewollt.
Zeitungskritiker beschreiben später das Ergebnis solchen Singens möglicherweise
einmal als 'technisch gut geführte Stimme' o.ä., was hier als
dickes Lob zu verstehen ist.
Bitte deuten Sie keinerlei
Ironie in meine Beschreibung: Klassik ist so - glücklicherweise hören
Sie aber obige Details nicht bei jedem Sänger in dieser Häufung.
Den Wahrheitsgehalt meiner Schilderung können Sie ohne weiteres selbst
bei Opernaufführungen, Klassik-Liederabenden, in Fernsehsendungen
sowie anhand von CD-Aufnahmen auch prominenter Künstler überprüfen.
Jetzt haben Sie ja einige Kriterien zur Hand! Warum ich eine solche typische
Klassik-Situation einmal geschildert habe, hat den Grund, daß im
Vergleich am besten darstellbar ist, worauf es ankommt. Ganz und gar nicht
möchte ich Ihnen jedoch den klassischen Gesang verleiden (zum Glück
gibt es viele hervorragende Klassiksänger, an denen Sie das Vorhandensein
einiger dieser Details vermutlich überhaupt nicht bemerken oder als
störend empfinden - insofern Sie diese Sänger mögen), sondern
ich möchte, daß Sie zunächst Ihr eigenes Ohr für Unterschiede
sensibilisieren und daß Sie alles, was Sie hören, auch in die
richtige Sparte einordnen können. Es ist nämlich durchaus so,
daß auch Popsänger, Liedermacher, Schlagersänger, Musicalinterpreten
und andere gelegentlich mit 'Einstreuungen' aus der Klassik singen. Sie,
lieber Leser, wissen dann, wo diese herkommen, und können sich bei
Ihrem eigenen Singen ganz frei für oder gegen ein ganz bestimmtes
stilistisches Detail entscheiden.
Weitere Unterschiede: Die
Grundausstattung eines Klassik-Unterrichtsraumes besteht aus Klavier oder
Flügel, Notenschrank und vielleicht noch einer Home-Stereoanlage zum
Abspiel von Schallplatten oder CDs zu Demonstrationszwecken. Ein Mikrofon
zuzüglich Tonbandgerät zum Zweck von Unterrichtsmitschnitten,
deren Auswertung und auch Dokumentation werden Sie gewöhnlich nicht
vorfinden. Und über 'richtig' oder 'verbesserungswürdig' befindet
allein der Gesangslehrer, im späteren Berufsleben an einem Theater
der Repetitor, Kapellmeister und bei Szenenproben der Regisseur. Die beinahe
ständige Begleitung des sängerischen Tuns durch diese studierten
Fachkräfte (die gelegentlich regelrechte Dressurleistungen an den
Sängern vollbringen) bildet ein weiteres wichtiges Merkmal im Leben
eines Klassik-Sängers.
Der berufliche Entwicklungsweg
eines Klassiksängers beinhaltet zwingend ein Hochschulstudium mit
Staatsexamen, das auch zu einer pädagogischen Tätigkeit befähigt.
Danach sucht er sich als Profisänger zumeist ein festes Engagement
an einem Theater, wo er je nach Stimmfach und individueller Eignung zumeist
Opern- und Operetten- sowie gelegentlich auch Musicalpartien einstudieren
und interpretieren wird. Klassische Liederabende oder Oratorien singt man
meist frei- oder nebenberuflich. Letzteres oft neben einer Theater- oder
Gesangspädagogentätigkeit.
Der Theater-Chorsänger
absolviert den gleichen Ausbildungsweg wie der -Solist, die Ausbildungszeit
ist jedoch gewöhnlich ein Jahr kürzer.
2. Entdeckung und Entwicklungswege
von Pop/Rock-Sängern oder Liedermachern
Notwendige Vorbemerkungen
Entsprechend der stilistischen
Bandbreite in dieser Musikgattung erfolgen Talententdeckung und -entwicklung
in sehr unterschiedlichen, mehr dem Zufall ausgesetzten Formen.
Talent-Frühentdeckung
stellt, außer für einige Wunderkinder, bei denen deren Eltern
meist die treibende (Vermarktungs-)Kraft darstellen, gewöhnlich kein
Thema dar. Im Einstiegsalter für die etwa 13-/14-/15-jährigen
wird eine spezielle Pop/Rock-Gesangsausbildung z.B an einer Musikschule
im Normalfall nicht angeboten. Diese gibt es erst nach absolviertem Abitur
an den Musikhochschulen, was ich für entschieden zu spät halte
(viele Popstars starten schon mit 16/17 Jahren). Und da die jugendlichen
Interessenten oft auch wissen, daß eine (an den Musikschulen oder
als Privatunterricht angebotene) Klassikausbildung nicht zum gewünschten
Erfolg führt, nähern sie sich von vornherein nur autodidaktisch
mittels der Nachahmung ihrer Idole dem erstrebten Ziel.
Im Zuge des Webber-Musicalbooms
entstanden private Musicalstudios mit dem Angebot einer breitgefächerten
Ausbildung von Gesang, Tanz, und Darstellung. Diese überaus positive
Tendenz solcher „Talentschmieden“ wird aus meiner Sicht dann getrübt,
wenn im eigentlichen Gesangshauptfach ausschließlich in Klassikmanier
ausgebildet wird.
Wie sich Talente selbst
entdecken oder entdeckt werden
Version 1: Beim Mitsingen
der Hits zum Radio oder zur CD entdeckt Sie oder Er eine Neigung zu den
Titeln eines ganz bestimmten Stars und weiter, daß ihre oder seine
Stimme eigentlich ganz gut mit der Stimme dieses Stars zusammen harmoniert
und anscheinend ganz ähnlich klingt. Die Lust zum Singen wird stärker,
Freund oder Freundin werden zur Begutachtung herangezogen und es wird überlegt,
wie die gesanglichen Fähigkeiten weiter ausgebaut werden können.
Die attraktivsten Lieder der Lieblingsstars werden immer wieder nachgesungen.
Dabei werden die Aussprache, der Stimmsound und die Stimmeffekte sowie
- wenn man über eine Videoaufnahme verfügt - auch Bewegung, Mimik
und Gestik so gut es geht nachgeahmt.
Version 2: Sie oder
Er hat ein Instrument - vielleicht Keyboard, Gitarre o.a. - gelernt, es
kommt zur Gründung einer Band. Über Background- oder Sologesang
werden die gesanglichen Fähigkeiten der Musikanten entdeckt und eingesetzt.
(So wurden auch schon Pop- und Rockstars entdeckt, z.B. Phil Collins, der
ursprünglich als Drummer der Band Genesis wirkte, seine Stimme entdeckte
und dann sogar über seine Gesangskarriere hinaus schließlich
noch zum Filmschauspieler avancierte.)
Version 3: Eine bestehende
oder neugegründete Pop- oder Rockband sucht dringend eine Frontfrau
oder einen Frontmann für Gesang, da die gesanglichen Qualitäten
der Musikanten nicht die optimalsten sind. Über Bewerbertests wird
schließlich eine Sängerin oder ein Sänger gefunden.
Version 4: Sie oder
Er singt in einem Chor mit. In einem Lied gibt es eine oder mehrere Passagen
oder gar Strophen, die solistisch gesungen werden sollen. Normalerweise
gibt es in einem Chor immer Sängerinnen oder Sänger, die nur
auf ihre „Entdeckung“ warten und schließlich oft auch gefunden werden.
Version 5: Junge Leute
werden als Konzertbesucher von den Leistungen der/des auf der Bühne
agierenden Interpreten derart mitgerissen und angesteckt, daß sie
es selbst einmal mit dem Singen probieren. Entdecken sie, daß manche
Interpreten von ihren Tophits sogar Karaoke-, Playback-, sprich Nachsingefassungen
(ohne die Stimme der Stars) veröffentlichen, steht einem optimalen
und vergleichenden Stimmtest nichts mehr im Wege.
Version 6 stellt für
mich die eigentlich wichtigste Talententdeckungsmöglichkeit für
Pop, Rock, Musical, Liedermacher u.a. popularmusikalische Sparten (aber
auch für Artistik- und Wortdarbietungen) dar. Aber leider finden landesweite
Talentwettbewerbe überhaupt nicht mehr statt (und wenn, dann höchstens
nur in einem engeren, lokalen Rahmen, zumeist ohne ein qualitativ-weiterreichendes
Konzept), so daß über diesen Weg nach der „Wende“ auch kein
Talent mehr entdeckt werden kann. Die in der DDR regelmäßig
stattgefundenen Förderaktivitäten wie "Feste junger Talente",
"Goldener Rathausmann" sowie im Fernsehen "Herzklopfen kostenlos", "Heitere
Premiere" u.a. haben keine Fortsetzung gefunden. "Jugend musiziert", das
im Klassikbereich hervorragend funktioniert, läßt leider Rock/Pop-Talente,
Liedermacher u.ä. außen vor, obgleich diese ja auch zur musizierenden
Jugend gehören. Und der Fernsehsendung "Stimme 2000" (Jahreszahl angepaßt)
liegt keinerlei Breiten-Wettbewerb zugrunde, die Teilnehmer werden offensichtlich
von Agenturen oder von der Fernsehredaktion selbst nominiert.
Die gesangsstilistischen
Merkmale in der Pop- und Rockmusik
Feststellen möchte ich
zunächst, daß es solche Merkmale in Form einer prinzipiellen
Definition durch Gesangspädagogen, einer Gesangspädagogik oder
gar einer Didaktik (=Lehre vom Unterricht) für Rock/Pop-Gesang nicht
gibt. Auch die Autoren der mir bekannten Bücher (siehe Literaturverzeichnis)
über Gesang in Rock, Pop, Jazz, Musical ... äußern sich
nicht eindeutig zu gesangs- und genrestilistischen Kriterien, geschweige
denn, wie solche Gegebenheiten im Gesangsunterricht didaktisch umgesetzt
werden könnten. Lediglich der Autor Andrés Balhorn formuliert
in der Einleitung seines Buches "POWER-VOICE", "daß eine Rock-/Soul-/Pop-/Jazz-/Musical-Stimme
durchaus Ecken und Kanten haben darf, ja muß, damit sie hauchig oder
rotzig, zart oder dreckig klingt" und weiter, "dem Ton seinen Sitz direkt
hinter den oberen Schneidezähnen am vorderen harten Gaumen zu geben
... ist unabdingbare Voraussetzung, um den meisten Rock-/Pop-Songs stimmlich
gerecht werden zu können" (didaktisch folgt er dem klassischen Weg:
erst Techniktraining und dann Ausdruck/Interpretieren). Ähnliches
las ich in einer Zeitungsrezension zu einem Auftritt von Marla Glen: "Star
mit Ecken und Kanten ... interpretiert flüsternd, krächzend,
röhrend, schreiend ... ausdrückend Protest und Freiheitskampf".
In all diesen Aussagen stecken schon die zwei Hauptkriterien für die
Gesangs-Stilistik in Rock/Pop. Es sind dies:
1. die - fast im Gegensatz
zur Klassik - andere Ausdrucks-Ästhetik des Rock/Pop-Gesangs
und
2. das - beinahe als Muß
anzusehende - Vornsingen, der Vordersitz der Stimme.
Weitere Merkmale
In meiner Unterrichtstätigkeit
gehören neben einem Klavier auch Mikrofon und Tontechnik zur Grundausstattung
eines Rock/Pop-Unterrichtsraumes (siehe Kapitel "Wie finde ich mein Talent
/ Variante 5 - Homestudio"). Möglich wird mir damit meine Ausbildungsform
„Learning by doing“ am konkreten Titelrepertoire mit dem Einspiel von (Halb-)Playbacks,
mit Unterrichtsmitschnitten, deren Auswertung und Dokumentation bis hin
zu ersten Demoaufnahmen, simulierend Studioarbeit und Auftritte der künftigen
Sängerinnen und Sänger.
Entwicklungswege von Rock-/Pop-/Musical-Sängern
bis hin zu einer professionellen Tätigkeit
Das glanzvolle Wirken der
großen Stars im nationalen und internationalen Rahmen bildet nur
die Spitze des Eisberges derer, die tatsächlich hauptberuflich professionell
tätig sind. Ein an Musikhochschulen, Universitäten, Performing
Art Schools, Schauspiel- oder Musicalschulen absolvierbares Studium führt
auch nicht unmittelbar zur Berufstätigkeit, es verbessert, vergrößert
aber Qualifikation und Bandbreite für eine mögliche Betätigung.
Am ehesten entspricht noch
der Weg des Musicaldarstellers den klassischen Gepflogenheiten, nur daß
die tonangebenden Musicaltheater hier privat geführt werden und Engagements
ausschließlich im Rahmen gnadenloser, internationaler Selektionsprozesse
zustande kommen (siehe auch "Gesangskonzepte/Musical").
Für die übergroße
Zahl der nicht in den Mediencharts gelisteten Pop/Rock- oder Musical-Interpreten
von Amateur bis Profi eröffnen sich neben einem vorhandenen sog. „zweiten
Standbein“ (zur Existenzsicherung) dennoch vielgestaltige und interessante
Betätigungsfelder. Dazu gehören z.B. Programm-, Alleinunterhalter-,
Liedermacher- oder Bandprojekte, Frontsänger in Tanzbands oder bei
Pop-/Gospelchören, Soloprogramme, Singen in Girlie- oder Boygroups,
Backgroundgruppen sowie möglicherweise auch Gesangspädagogentätigkeit.
Bei der Gestaltung seines Titel-Repertoires, seines Outfits, der textlichen
und regielichen Auftrittsgestaltung u.a.m. ist jeder Interpret sein eigener
„Chef“. Zu den in diesem Metier zu entwickelnden Interpreten-Eigenschaften
gehört auch und in besonderer Weise Eigenaktivität.
Unterschiede zwischen
Klassik und Rock/Pop im direkten Vergleich
Der gravierendste Unterschied
zwischen Klassik und Rock/Pop wird bereits auch optisch sichtbar in der
typischen Mundstellung entsprechender Sänger, also zwischen „hochrund“
und „breitrund“. Davon ausgehend können Sie nun an typischen Vertretern
der jeweiligen Musiksparte - Klassik oder Rock/Pop - die wesentlichen Unterschiede
sehen und hören.
1. Klassik: Die typische
Mundstellung ist „hochrund“. In der Regel werden alle (auch die hellen)
Vokale in annähernd dieser Einstellung gesungen. Das bedeutet, daß
die hellen Vokale eingedunkelt und damit den dunklen Vokalen angenähert,
angepaßt werden, daß der "Stimmsitz" dieser Vokale im
Mundraum mehr nach hinten verlagert wird. Geübt wird dieses Prinzip
mit der Vorstellung, daß Sie die Töne "einsaugen". Erzielt werden
soll im hinteren Mundraum eine bei möglichst allen Vokalen große
"innere Weite", somit ein sonorer, voluminöser und abgerundeter Stimmklang.
Hierher gehört auch die mehr oder weniger starke Nasalierung der Vokale.
Die Artikulationsformen der einzelnen Vokale von i bis u werden unter dem
Fachbegriff "Vokalangleich" bzw. "Vokalausgleich" tatsächlich so einander
angenähert, daß die von der Vokalform etwas „engen“ Vokale i
und u in einer auch möglichst weiten Einstellung gesungen werden sollen,
was mehr klangliche Durchschlagskraft bedeutet (ein Klassiksänger
muß sich schließlich allein mit der Tragfähigkeit seiner
Stimme gegen ein Orchester behaupten). Manche Pädagogen sprechen davon,
daß in jedem einzelnen Vokal immer etwas von den übrigen anderen
Vokalen stecken solle. Verbunden ist all dies - wie am Beginn dieses Kapitels
beschrieben - mit Vokalverfärbungen (i wird zu ü, unbetonte Nebensilben
wie in „singen“ werden zu „singön“ u.a.m.) sowie damit, daß
Vokale in Tonfolgen zur Höhe hin immer mehr eingedunkelt ("gedeckt")
werden, im Stimmsitz also rückwärtsverlagert werden und daß
dabei die Textverständlichkeit immer mehr nachläßt. Ich
kenne natürlich auch Sänger und Gesangspädagogen, die diese
geschilderten Prinzipien nicht in dieser extremen Zuspitzung singend realisieren
bzw. lehren.
2. Rock / Pop : Die
hier typische Mundstellung ist „breitrund“. Wenn Sie nun die Vokalisation
profilierter (vor allem amerikanisch- und englischsprachiger) Interpreten
genauer analysieren - möglichst bei Live-Auftritten oder anhand von
Liveszenen in Musikvideos -, so können Sie feststellen, daß
in der Regel alle (also auch die dunklen) Vokale in annähernd dieser
Einstellung gesungen werden.
Das bewirkt, daß die
dunklen Vokale aufgehellt, also den hellen Vokalen angenähert werden
und daß folglich der "Stimmsitz" dieser Vokale im Mundraum mehr nach
vorn verlagert wird. Dieses „Vornsingen“ entsteht letztlich aus einem besonders
ausgeprägten emotionalen Gestaltungswillen mit stark suggestiv-intensiver
Singweise der Interpreten, was einen Vordersitz der Stimme und auch eine
extensive, vornliegende Sprachartikulation befördert. Gesangspädagogische
Normative - wie in der Klassik - können zur Begründung dieses
Phänomens nicht herangezogen werden, weil es solche noch nie gegeben
hat. Am schlüssigsten erscheint mir, dies aus den Besonderheiten der
amerikanischen Sprache (vergleichen Sie nur einmal, wie unterschiedlich
Amerikaner und Deutsche z.B. den dunklen Vokal u aussprechen) und aus der
besonderen Mentalität der afro-amerikanischen Urbevölkerung abzuleiten.
Aus den Arbeitsgesängen der amerikanischen Sklaven entstanden - in
Vermischung mit den europäischen Musikformen, Spiritual, Gospel und
Blues - die Hauptwurzeln unserer heutigen Rock- und Popmusik. Die besondere
Art und Weise des Singens, besser: des singenden Agierens der schwarzen
Bevölkerung zeigt sich bei deren Gottesdiensten, die wahren Happenings
gleichen. Und selbst politische Demonstrationen, z.B. in Amerika oder Südafrika,
werden tanzend und singend ausgetragen. Ich gehe davon aus, daß sich
gerade in der von einer stark emotionalen, intensiven und überhöht-zugespitzten
Interpretationsweise geprägten Gospel-, Blues-, Soul- und Rockmusik
der „genetische Fingerabdruck“ der afroamerikanischen Menschen in einer
besonderen Weise abzeichnet.
Sprach-Normen (analog unserem
Hochdeutsch) und gesangsstilistische Vorgaben (wie die Gesangstechnik des
Opern- und Kunstgesanges) gibt es in der Rockmusik nicht, jedenfalls nicht
als prinzipielle Definition. Typisch ist eher, daß der einzelne Interpret
mit seiner Interpretation eine neue, seine dann für ihn zutreffende
„Norm“ kreiert. Allgemeingültig wird diese, wenn ein Interpret sich
damit in einem größeren Stil durchsetzt.
Gesangsstilistische und
weitere Unterschiede auf einen Blick
Der folgende tabellarische
Überblick soll die Definitionen und Vergleiche vertiefen und die wichtigsten
klanglichen und optischen Unterschiede aufzeigen:
Klassik |
Rock/Pop |
Stimmsitz: "eingesaugt", zumeist
mehr rückwärtsverlagert |
Stimmsitz: vorn, Vornsingen,
Vordersitz der Stimme |
Mundstellung bei der Vokalartikulation:
Hochrund (O-Stellung/Karpfenschnute), obere Schneidezähne meist wenig
sichtbar |
Mundstellung bei der Vokalartikulation:
a. Rocksänger: breitrund,
obere Schneidezähne meist in voller Breite sichtbar
b. Pop/Liedermacher: mehr
umgangssprachlich |
Vokalartikulation: helle Vokale
werden in der Mundstellung der dunklen Vokale artikuliert |
Vokalartikulation: dunkle
Vokale werden in der Mundstellung der hellen Vokale artikuliert |
Stimmfärbung: eingedunkelt,
meist verfärbt, auch nasaliert |
Stimmfärbung: hell, schlank,
auch dialektgefärbt oder umgangssprachlich, auch interpretenbedingt
mit Manierismen |
Vokalbildung: Vokalangleich,
-ausgleich, angenähert, indifferent („diphtongiert“), in hohen Lagen
fast als Einheitsvokal |
Vokalbildung: Vokalgenauigkeit
- auch in hohen Lagen - angestrebt |
Klangideal: Belcanto-Schöngesang,
stimmlicher Wohllaut, Text dem Klang untergeordnet; technisch-funktionell
immer physiologisch optimal gebildet |
Klangideal: Ausdrucksgesang
in breiter Skala von wohlklingend-perfekt über hauchig, kratzig, dreckig
bis aggressiv-schreiend; technisch-funktionell von physiologisch „richtig“
bis gestört |
Dominanz: Technik immer erster
Schritt vor Ausdruck/Interpretation |
Dominanz: Ausdruck, Emotionalität,
Kreativität, Individualität des Interpreten vor Stimmtechnik |
Gesangsstil: durch vorhandenes
Musikrepertoire vorbestimmt und nachzuempfinden |
Gesangsstil: von den Interpreten
selbst bestimmt und gefunden |
Repertoire-Schwerpunkt: Bühnen-
und Chorwerke sowie Liedgut vergangener Jahrhunderte |
Repertoire-Schwerpunkt: Zeitgemäß-aktuelle,
neue Titel, Songs, Outfits und Programme |
Ausbildung: Hochschulstudium
erforderlich für professionelle Berufsausübung |
Ausbildung: Autodidakten beweisen,
daß es auch ohne Ausbildung geht |
Berufstätigkeit: Festanstellung
überwiegt |
Berufstätigkeit: nur
freiberufliche Tätigkeit |
Selbstverständlich gibt
es innerhalb der klassischen Musik noch weitere Differenzierungen einzelner
Merkmale des Singens, wie z.B. zwischen den Stilen der einzelnen Musikepochen,
zwischen den Werken der großen Komponisten, zwischen dem Kunstlied-
und dem Operngesang, z.T. auch zwischen Chor- und Sologesang u.a.m. Dies
soll uns hier aber nicht primär interessieren. Wichtiger sind vielmehr
die grundlegenden stilistischen Merkmale, die sich Ihnen in der Singepraxis
zeigen, wenn Sie entweder Gesangsunterricht nehmen, in einem Chor Stimmbildungsübungen
absolvieren oder wenn Sie die gesanglichen Besonderheiten eines namhaften
Sängers zum Zwecke des eigenen Singenlernens analysieren.
Zwischen den verschiedenen
Spielarten der Rock- und Popmusik gibt es sogar eine noch erheblich größere
Zahl von Varianten, zuzüglich, weil hier jeder einzelne Interpret
(lokal bis zum Weltstar) darum bemüht ist, seinen ganz unverwechselbaren
Personalstil auszuprägen. Es ist überhaupt das besondere Wesensmerkmal
dieser Musiksparte, daß die wichtigen Interpreten mit ihrem Namen
zugleich auch meist eine neue Spielart oder sogar eine neue Musikrichtung
begründen. Hinter den großen Namen stehen darüber hinaus
in den bedeutendsten Musikstudios der Welt Soundtüftler in Form von
Arrangeuren, Toningenieuren und Komponisten, hinzukommend die Sound- und
Effektentwickler der Musikinstrumenten- und Tontechnik-Industrie, deren
Anliegen darin besteht, möglichst einen noch-nie-dagewesenen Sound
zu kreieren. Letzteres gilt in besonderem Maße für die Vokalinterpreten,
bis zu der von der Norm abweichenden, „interessanten“ Stimme. Sie als anfangende
Gesangstalente können die auch in Rock/Pop gültigen grundlegenden
gesangsstilistischen Merkmale an den wichtigen und stilprägenden Interpreten
der Gegenwart und Vergangenheit wie z.B. Elvis Presley, Tina Turner,
Whitney Houston, Freddie Mercury, Mariah Carey, Celine Dion u.v.a.m. sowie
an Ihren Lieblingsinterpreten erkennen.
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