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von rls

ROTFRONT: VisaFree   (Essay Recordings)

Wenn man ein positives Beispiel für den Begriff Multikulti anführen will (es gibt ja leider auch genügend solche, wo zusammengeflickt wurde, was nicht zusammengehört), dann führt kein Weg an Rotfront vorbei. Die Berliner mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft werfen auch auf ihrem zweiten Album sowohl regional konnotierte als auch primär überregionale Stile in einen Topf und fischen aus diesem dann 15 Songs, die überwiegend trotzdem wie irgendwie logisch und eben nicht zufällig entstanden wirken und so ganz nebenbei auch noch manch andere Qualität entfalten, etwa ein Publikum in eine feierfreudige tanzbeinschwingende Menge zu verwandeln. Freilich wirft einem die Band immer mal rhythmische Stolpersteine in den Weg, so daß ein intensives Studium der Konservenfassung die Livetauglichkeit publikumsseitig noch unterstützt, wenngleich nicht zwingend notwendig ist, wie man beispielsweise beim Gig im April 2011 in Leipzig gesehen hat, als das neue Album noch gar nicht erschienen war, aber trotzdem schon die Hälfte des Sets stellte. Natürlich dürfte der Hörer je nach seiner persönlichen Provenienz mit der einen oder anderen verbratenen Stilistik vielleicht seine kleinen Problemchen haben - wer Spätsiebziger-/Frühachtziger-Disco kategorisch ablehnt, wird vielleicht auch "Revolution Disco" ablehnen, während andere gerade diese Anreicherung des altbekannten Genres mit Saxophonen, einem organischeren Rhythmus, für osteuropäische Folklore typischen Anfeuerungsrufen im Hintergrund, vielschichtigem Gesang und noch einigen anderen Elementen als ungemein interessante Neuentdeckung empfinden werden. Auch der Rezensent mag Mad Milians Gesang im rappenden Idiom nicht so sehr, obwohl es sich an vielen Stellen durchaus organisch einfügt, und schätzt es mehr, wenn die Tendenz eher zu hardcorekompatiblem Shouting geht. Dafür kann man sich mit Dorka Gryllus' vielschichtigen Gesängen umso mehr anfreunden, und die beiden Projektköpfe Yurij Gurzhy und Simon Wahorn singen ja auch noch mit. Ob der Genug geistig anregender Substanzen Songs wie "Vodka & Garlic" noch authentischer erlebbar machen, muß der Hörer im Selbstversuch herausfinden - der abstinente Rezensent hat auf einen solchen verzichtet. Auf Selbstversuche käme es auch in puncto Eingängigkeit an, denn irgendwie haben Rotfront diesmal vergessen, richtige Hits zu schreiben. Kriegt man beispielsweise den Refrain von "Sovietoblaster" vom Debütalbum "Emigrantski Republic" auch nach Jahren nicht wieder aus dem Gedächtnis raus, so finden sich unter den 15 neuen Songs nach derzeitiger Einschätzung keine Kandidaten für derartige Langzeitwirkung, vielleicht von "No Sleep Till Berlin" und seinem vierfach wiederholten Shout-Refrain abgesehen. Ob sich diesmal Coverversionen auf der Scheibe befinden, verrät die Promofassung nicht; der Rezensent hat zumindest keine erkannt und kann lediglich feststellen, daß es sich sowohl bei "Money Money Money" (hier war die Amsterdam Klezmer Band noch als Gast im Studio) als auch bei "Live Is Life" nicht um Umsetzungen von Abba bzw. Opus handelt, wenngleich Mad Milian in letztgenanntem Song augenzwinkernd "Nanana"-Passagen unterbringt, bevor das Finale einer Bombastnummer von Faith No More ähnelt. Die genauere Analyse offenbart in summa ein Füllhorn guter Einfälle und zudem auch das Vorhandensein tieferer Anliegen als simpler Tanzbarkeit. "Gay, Gypsy & Jew" etwa bricht eine Lanze für gleich mehrfach mit Minderheitenstatus ausgestattete Menschen (auch hier agiert eine ganze Latte von Gastmusikern, angeführt von Wladimir Kaminer, obwohl Rotfront Namedropping nicht nötig haben), während andererseits "James Bondski" einfach nur eine lustige Geschichte über einen Menschen, der eines Tages erfährt, daß sein ihm bisher unbekannter Vater niemand anders als der titelgebende und bekanntermaßen schöne Frauen wie ein Magnet an- (und dann später aus-)ziehende Spion ist. Interessanterweise heißt der Song, der in der Livesetlist "In Love With A Robber" betitelt war, auf der Konserve "Village Superstar", aber das macht nichts - er ist trotzdem einer der besten auf dem Album, und nur nach hinten hin hätte man sich noch etwas mehr als den etwas abrupten Schluß gewünscht. Und ob die Raucherhymne "Sigaretta" unbedingt sein mußte (trotz der Andeutung einer ironischen Brechung ganz zum Schluß), darüber darf auch gestritten werden. Unstrittig ist die Beurteilung von "VisaFree" als Gesamtwerk: Wer osteuropäisch geprägte, vielschichtige, aber immer tanzbare und im besten Sinne massenkompatible Musik mag, wird auch ohne das Vorhandensein großer Hits mit diesen 48 Minuten glücklich werden.
Kontakt: www.essayrecordings.com, www.rotfront.com

Tracklist:
VisaFree
Eyn Tzvey
Gay, Gypsy & Jew
Revolution Disco
Cosmos
Vodka & Garlic
Money Money Money
Real Berlin Wedding
Csöváz
Live Is Life
No Sleep Till Berlin
Village Superstar
James Bondski
Sigaretta
Backsteinpulver
 




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