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von ta

PAIN OF SALVATION: 12:5   (InsideOut)

Wir haben eine CD-Rezension vor uns liegen, die nicht Plattenfirmenauftragsware ist, d.h. nicht aus dem Empfang eines Promotionexemplars des besprochenen Albums resultiert, sondern aus dem Privatkauf einer CD heraus verfasst wurde, welche zufällig von der Band Pain Of Salvation stammt und ominös "12:5" getauft wurde. Doch auch weil hier nicht das Verlangen unbekannter Menschen, die bei InsideOut die Bürotische zieren, an einer Besprechung der neusten Veröffentlichung aus dem eigenen Band-Schrank im Hinterkopf des Rezensenten spukt, erlaubt er sich ein paar allgemeine Worte, die sich aus gegebenem Anlass, nämlich der Vermarktung eines Akustik-Gig-Mitschnittes einer progressiven Metalband, vergleichsweise direkt anbieten.
Man wird im Folgenden um die eine oder andere außermusikalische Fragestellung nicht herumkommen. Auch die Suche nach Definitionen wird einen Teil des Textes ausmachen. Ziel ist aber keineswegs das Wegerklären allgemeiner oder spezifisch musikalischer Phänomene, sondern ein klares Bild eines Gegenstandes, dessen sich verbal heute in der ein oder anderen Form gerne bemächtigt wird. Um die differierenden Aspekte, welche diese Formen beinhalten, wird es im Folgenden gehen. Die Möglichkeit, sogleich zum dritten Teil dieses Textes zu schwenken, besteht allerdings.

I: Progressive Musik ist Verwässerungen unterlegen, sowohl stilistisch als schon in der Begrifflichkeit. Wenn man von einer Band wie King Crimson spricht und dabei das Wort "progressiv" fallen lässt, verwendet man es in einem anderen Sinne als in Bezug auf die Band Marillion - oder doch nicht, oder nur in Bezug auf einzelne Veröffentlichungen der jeweiligen Gruppen? Die Band Blind Guardian zählt der geneigte Fan gerne zum Genre des Power Metal/True Metal/Heavy Metal, phantasiebestückte Personen kreieren Begriffe wie "bombastischen Tolkien-Metal" oder aber auch "Fantasy-Metal" und tatsächlich gibt es auch illustre Personen, die der Band eben "Progressivität" attestieren, weil das englische Wort "progress" zu deutsch "Fortschritt" bedeutet und Blind Guardian also in irgendeinem wie auch immer gearteten Sinne fortschrittliche Musik machen. Das klingt sehr theoretisch. Wer will Musik, die rein pragmatisch ist, die nur unter dem Paradigma des Fortschritts zu erklingen mag? Doch so weit sind wir noch nicht. Vorher muss der Begriff des Progressiven spezifiziert werden; wir wollen das anhand von drei Fragen tun: Wie wird ein solcher Begriff legitimiert? Welchen Wert hat ein solcher Begriff? Welchen Wert hat Progressivität in der Musik gegenüber von Nicht-Progressivität?
Warum muss ein Begriff "legitimiert" werden? Weil sein Anwendungsbereich mehr oder weniger klar festgelegt sein sollte. Wo von "Progressivität" die Rede ist, muss in irgendeinem Sinne vorhanden sein, worauf dieser Begriff verweist. Das lateinische Wort "progressio" spricht nicht nur vom uns geläufigen "Fortschritt", sondern meint auch "Zunahme". "Progressio" wird weiterhin verwendet, wenn es um rhetorisch-stilistische Merkmale geht, die zu einer Steigerung in der Rede führen. Sowohl die zweite als auch die erste Übertragung des "Progressio" sind jedoch für eine Betrachtung der Progressivität unter musikalischem Blickwinkel weitestgehend irrelevant und wir wollen es hier bei einer rein musikalischen Perspektive belassen. Eine solche Perspektive kann bloß Teilaspekte einer Fragestellung umfassen, die sich leicht über das Areal der Musik hinaus verfolgen lässt, sie ist in dem Rahmen, der von mir im Moment für wichtig gehalten wird, aber durchaus ausreichend. Progressivität mag also unter dem Banner des Fortschritts künftig fixiert sein. Doch in welchem Maße ist Musik fortschrittlich? Fortschritt ist in wörtlichstem Sinne ein Schritt nach vorne, von bereits betretenem Boden auf noch unbefleckte Erde. Fortschritt ist damit Gang von einem Alten in ein Neues (1). "Gang" meint eine Bewegung. Fortschritt ist damit klar von dem Begriff der "Stagnation", dem Stillstand abgegrenzt. Fortschritt ist Fort-Bewegung. Die Bewegung, der Gang geht aus einem "Alten" heraus. Alt wird ein Ding, eine Sache, ein Phänomen erst im Angesicht des Neuen, weil erst in der gegenseitigen Abgrenzung das Wesen des Einzelnen hervortritt: Gäbe es nur das Alte, gäbe es das "Alte" nicht. Das Neue folgt chronologisch auf das Alte, doch so wie der Begriff des "Neuen" den Begriff des "Alten" braucht, so auch andersherum. Warum eine solcher Verweis auf das bilaterale Verhältnis dieser Begriffe? Weil er sich der Natur der verwendeten Termini annähert und wir nach der Natur suchen, um einen gesprochenen Satz mit Leben zu füllen. Wir haben den Gang als Bewegung und das Neue als den zweiten Schritt nach dem Vorherigen gefasst, das fortan als das "Alte" gilt. Fortschritt ist ein zweifacher Akt in einer Bewegung: Vom Alten weg, zum Neuen hin.
Halten wir uns an eine solche Definition, ist jegliche Musik fortschrittlich, die bis dato Ungehörtes zum Klingen bringt. Nehme man beispielsweise und rein der Veranschaulichung wegen einen Einblick in die Musikgeschichte: Von einigen Vorreitern angekündigt, doch erst im 20. Jahrhundert durchgeführt, findet mit der Zwölftonmusik, derer sich unter anderem Arnold Schönberg bediente, eine bewusste Abgrenzung von der bis ins zwanzigste Jahrhundert verbreiteten und in Pop, Blues und anderen musikalischen Spielarten auch heute noch gerne verwendeten Schematisierung von musikalischen Erzeugnissen in - intervallspezifisch betrachtet - aufeinander bezogene Einzelstücke eines Ganzen, des Stückes, statt. Ein geläufiges Harmoniebewusstsein wird aufgelöst zugunsten einer neuen Idee, wird zum "Alten". Fortschritt auf elementarster Basis liegt vor. Die Überwindung der Zwölftonmusik wiederum in der elektronischen Musik, die auch Halb- und Vierteltöne beinhaltet, ist ein weiterer Fortschritt (wobei der Begriff "Fortschritt" als reine Beschreibung eines Prozesses hier wertungslos verstanden werden sollte). Doch ist Fortschritt nicht nur in solch großen Ausmaßen, d.h. musikgeschichtlichen Ereignissen und Bewegungen lokalisierbar. So ist es doch schon Fortschritt, wenn eine Band wie Dream Theater mit ihrem Album "When Dream And Day Unite" im Jahre 1989 unter Zuhilfenahme ihrer an der Hochschule erworbenen Fähigkeiten schwer zählbare Taktarten (wobei die Güte der Zählbarkeit selbstredend subjektiv beurteilt werden muss) und bis dato selten genutzte Kirchentonleitern in hohem Maße in ihre Musik integriert, während zu diesem Zeitpunkt die harte Rockmusik rhythmisch doch auf den 4/4tel- oder 3/4tel-Takt beschränkt war und sich in ihrer konventionellen Bauform auch nicht um die Nutzung von Tonleitern jenseits von gewöhnlichem Dur und Moll bemühte. Eine solche Klassifizierung der härteren Gangart des Rock ist für sich genommen beschränkt, weil es natürlich auch Ausnahmen gab, seien sie nun eher Vertreter des Metal (Fates Warning, Watchtower) oder des Prog-Rock (Yes und Co.), die durchaus einem progressivem Spielstil frönten. Die Einführung des Begriffs "progressiv" in Bezug auf die musikalische Spielart Metal liegt allerdings hier begraben. Damit hängt es zusammen, dass im Metal-Kontext "progressiv" stets mit "krummtaktig" oder "Tonleiter-Runtergedudel" ex negativo oder "hoher Virtuosität der einzelnen Beteiligten" und "melodisch und rhythmisch vielseitige Arrangements" in einem positiven Sinne assoziiert wird.
Eine solche inhaltliche Fixierung eines eigentlich formellen Terminus (denn Fortschritt ist inhaltlich niemals a priori festgelegt) ist natürlich fehlerhaft. Ganz im Gegenteil: Eigentlich mag nach unseren bisherigen Erkenntnissen jede Gruppe alles sein, nur nicht progressiv, wenn sie mit den oben genannten Stilmitteln nach Dream Theater noch operiert, weil sie ein "Altes" aufgreift, welches nicht durch den Schritt nach vorne, sondern eben den nach hinten erreicht wird. Vergleichbare inhaltliche Umdeutungen gibt es in der Musik, im Metal auch an anderer Stelle: Der Begriff des "Black Metal" sagt nunmehr gänzlich Anderes aus als in der Zeit seiner Entstehung. Im Regelfall sprechen nur noch Personen, deren Begriffshorizont fest in den Achtzigern verwurzelt ist (was keine Kritik markieren soll), von Black Metal im Sinne einer lyrischen, d.h. auf die Texte und das damit verbundene Image der jeweiligen Band bezogenen, Definition. An die Stelle einer solchen Interpretation ist, zumindest in Fankreisen (bei den Musikern sieht das gelegentlich noch anders aus, was auf das frühere Geburtsdatum dieser zurückzuführen ist) eine musikalische Festlegung des Black Metal getreten, die gegebenenfalls mit einer nach außen gekehrten Attitüde welcher Art auch immer verbunden ist. "Christlicher Black Metal" ist ein Phänomen, das zur Urzeit dieser musikalischen Spielart nicht möglich gewesen wäre, weil Black Metal eine satanistisch geprägte Weltanschauung impliziert hat. Black Metal-Klischees haben in der Szene auch heute noch eine hohe Beständigkeit, auch wenn sie nicht von der Hälfte der inbegriffenen Menschen mit allerletzter Konsequenz ernst genommen werden. Beim Blick auf die Einordnung einer Band in den Kontext des Metal spielt aber das musikalische Erzeugnis nunmehr eine größere Rolle als das textliche. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Black Metal immer weiter von einer vom Auftreten/Image/Textgut der Band abhängigen Zementierung ablöst, halte ich für nicht unwahrscheinlich.
Doch solcherlei Beispiele müssen nicht weiter eruiert werden, weil wir uns hier einer näheren Anschauung des "Progressiv" vor jeglicher Genre-Bezeichnung in der Musik im Allgemeinen bzw. im Metal im Besonderen widmen wollen. Die Rede vom Progressiven in der Musik ist in den Neunzigern einer bereits weiter oben zitierten Verwässerung erlegen, die in dieser radikalen Form vorher nicht vorhanden war. Am Beispiel der Band Dream Theater und ihrer Vorreiterrolle für die Einführung bestimmter musikalischer Stilmittel in den Metal finden wir diese Verwässerung markiert. Dabei ist weder der Band selbst noch explizit den Gruppen, die es in Bezug auf die musikalische Marschrichtung Dream Theater gleichtaten, ein Vorwurf zu machen. Die einzige Schuldzuweisung kann sich an eine Szene richten, die nicht um die Authenzität eines Begriffes gekämpft und gerungen hat. Denn was ist authentisch an der Definition einer Progressivität, die bloßes Kopieren bestimmter Arrangements und Stilmittel einschließt? Doch wie wir am Beispiel des Black Metal gesehen haben (Wo ist der Black Metal noch "schwarz", wenn im Blick auf seine Definition die Texte nur eine untergeordnete Rolle spielen?), geschehen solche Begriffsvariationen, die zu Modifikationen werden, still und heimlich - und dafür muss nicht einmal ein Generationenwechsel verantwortlich sein. Im Falle des Progressive Metal ist diese Modifikation im Füllen einer Formel (Schritt + Neues = Fortschritt = Progressiver Akt) geschehen, die sich etwa - muten wir uns ein solches beinahe mathematisches Verfahren einmal zu - auf folgende Weise festhalten lässt: Verwendung bestimmter Stilmittel, z.B. Polyrhythmik + Einflechtung in einen Metal-Kontext = Progressive Metal (2). Ähnlich wird von einer Progressive Rock-Band etwa erwartet, dass die Songs im Vergleich mit gängigem Musikfutter lang und komplex und ausufernd sind, weil Bands wie Genesis oder Marillion oder Pink Floyd mit solchen Merkmalen einen (eigentlich dynamischen) Begriffstenor zur Progressiven Rockmusik festgelegt haben. Es besteht selbstverständlich die Möglichkeit, jegliche Musik, welche der weiter oben genannten, elementaren Definition von Progressivität nicht gerecht zu werden vermag, das "Progressiv" vor dem musikalischen Gattungsbegriff, in dem Falle "Metal", abzuerkennen. Angesichts einer allgemeinen Akzeptanz der zweiten Definition der Progressivität im Metal, nämlich der Formel "Stilmittel n1, n2, etc. + Metal-Rahmen = Progressive Metal", ist es jedoch ratsamer, den Begriff des "Progressive Metal" in seiner zweiten, schwächeren Version zu akzeptieren und sich auf den Kompromiss zu einigen, von "progressivem Metal" im Sinne der ersten und von "Progressive Metal" im Sinne der zweiten Definition zu sprechen. Wir haben damit den Anwendungsbereich des Progressiven in der Musik bzw. im Musikbereich Metal aufgespürt, wir haben dem Begriff des Progressiven in zwei Manifestierungen (in Form von Definitionen) legitimiert und damit unsere erste Frage beantwortet. Wir haben gleichfalls den Wert eines solchen Definitionspaares ansatzweise expliziert, wobei wir eine starke, elementare und eine schwache, spezifische Definition ausfindig gemacht haben, die beide ihre Relevanz und ihren Eigenwert haben.

II: Und doch lohnt sich eine nähere Betrachtung der Progressivität in eine Richtung noch immer: Freilich ist eine Schau auf die Progressivität als Fortschritt und die Progressivität als musikalischem Raster bereits erfolgt. Und doch ist der Blick auf eine Form der Progressivität noch nicht mit vollständig klarem Blick getan, diese nämlich des Gangs vom Alten in das Neue. Die Frage steht: Wo beginnt ein solcher Gang? Im Alten. Was ist das Alte? Das Substrat, auf dem weiter aufgebaut, das verworfen oder erweitert wird. Eine solche Antwort ist schwammig und undurchsichtig. Tatsächlich ist nämlich der Fall, dass zumindest ein "Altes" in der Musik nicht verworfen werden kann, weil damit eine Form der Äußerung vorläge, die nicht mehr als Musik erkennbar wäre. Definiert sich Musik nicht durch die Anordnung bestimmter Elemente, nämlich Tönen und/oder Rhythmen? Ist damit nicht bereits ein "Altes" jeglicher Musik gegeben, das zu verwerfen zur Folge hätte, dass von Musik nicht mehr gesprochen werden kann, weil es, das "Alte" grundlegend für jegliche Form der musikalischen Äußerung ist? Es ist dies ein nicht unwesentlicher Punkt. Die vollständige Abkehr von dem, was Musik bis zum Zeitpunkt der eigenen Kompositionen ausmacht, hieße Absolute Innovation und hätte alles zum Resultat, nur nicht Musik. Absolute Innovation ist die Bewertung von Absoluter Progressivität - diese selbstredend auf einen bestimmten Bereich festgelegt - und ist in jeglicher Kunstform nicht möglich. Das "Alte" bleibt also stets in bestimmtem Maße erhalten und bietet dem Hörer wenigstens potenziell einen Punkt, an dem er anknüpfen kann. Das Alte nun ist immer ein Bestimmtes. In der basischsten Grundbestimmung von Musik haben wir es gefasst. Dennoch: Jede Band gibt ihren Kompositionen trotz der Gebundenheit an diese Grenze der Musik ein individuelles Erscheinen. Denn eine Anordnung von Tönen und/oder Rhythmen geschieht immer auf eine weiterhin klar und deutlich bestimmte Weise. Nicht Ton zu Ton wird gesellt, sondern beispielsweise ein F an ein H (wir hätten dann den Tritonus, die verminderte Quinte, vorliegen und wären leicht wieder beim Black Metal, doch soll uns das nicht weiter belasten). Nicht irgendein Rhythmus wird angeschlagen, sondern zum Beispiel ein konventioneller Rockgroove mit der Snare auf die ungeraden vollen Zählzeiten. Eine Fülle von Variationsmöglichkeiten ergibt sich hier. Das ist zu erkennen. Paradise Lost haben das erkannt, My Dying Bride haben es temporär an ihr Bewusstsein gelassen, Kreator haben es so schnell als möglich wieder vergessen, Waltari erkennen es stets von neuem usw.
Ist es nicht schon Progressivität, wenn eine Band sich so ungezwungen zu ihrer eigenen Vergangenheit verhält, dass sie sogar bereit ist, den lange gefrönten Stil zugunsten (für die spezielle Band!) neuer Musik ad acta zu legen? Verwirft die Band hier nicht ein "Altes"? Zweifellos ist dies vorläufig der Fall, doch spinnt man den gedanklichen Faden auf diese Art und Weise weiter, kommt man zu dem Schluss, dass schon ein Lied, nicht genau wie das Andere tönend, sogar ein Rhythmuswechsel innerhalb eines Liedes ein progressiver Akt ist, ja dass bereits die Ablösung eines Tones durch einen anderen progressiv ist, Musik also in ihrer eigenen Definition und Anlage von Progressivität durchdrungen ist. Nun hat man sich aber mehr oder weniger willkürlich in der Metal-Szene, und um keine andere soll es hier im Genauen gehen, darauf geeinigt, jeder Band eine bestimmte Richtung innerhalb der eigenen musikalischen Gattung zuzuweisen, die fortan das sei, was die Band in Bezug auf Sound und Klang repräsentiert. Es ist dieser Bandsound - Blind Guardian beispielsweise spielen (ihre Auslegung des) Power Metal -, das, was in der individuellen Fixierung, die jede Band pro domo vornimmt, das "Alte" markiert. Nun aber tritt eine neue Facette im Sound hinzu. Eine Band ist damit progressiv innerhalb ihrer eigenen Entwicklung und unabhängig davon, ob dem "neuen" Sound nicht auch von mehreren anderen Bands gefrönt wird, wenn eine wesentliche, d.h. deutlich spürbare Modifikation im für die Gruppe typischen Sound zu konstatieren ist (1a). Blind Guardian sind in diesem Band-immanenten Sinne progressiv, weil sich kein Album seit "Imaginations From The Other Side" in seiner Quintessenz allzu ähnlich ist. Gleiches trifft, das sei der Vollständigkeit halber gesagt, auf King Crimson zu, die ich erwähnte. Es liegt in dieser Bestimmung der Progressivität natürlich eine subjektive Wertung vor, weil jeder Hörer für sich einschätzt, wann eine relevante oder unwesentliche Veränderung, wann ein tatsächlich unerwarteter, nicht in die Erwartung, die man bisher von der Musik hatte, oder sich sogleich homogen einfügender Fortschritt stattgefunden hat. Ebenso frei steht es jedem Hörer, zu versuchen, der Band in ihrem Weg zu folgen oder sie fortan zu boykottieren. Das ist legitim und mag von jedem selbst entschieden werden. Fakt ist, dass wir im Rahmen, den unsere starke Definition des Progressiven absteckt, auf eine Subdefinition gestoßen sind, die besagt, dass der Schritt von einem Alten in ein Neues innerhalb des Fortgangs, den die Musik einer speziellen Band schafft, eine näher bestimmte Form der Progressivität sei. Es ist dies eine relativ schwache Form der Progressivität, weil der Bereich, in dem sie auftritt, denkbar klein ist (freilich, das haben wir weiter oben gesehen, lässt er sich noch kleiner fassen), doch wir wollen diese zaghafte Progressivität (die oft doch so hohe Wellen der Entrüstung schlägt) in das Bewusstsein aufnehmen. Weitet man den Bereich weiter aus, bspw. auf einen Bereich/eine Untergattung der musikalischen Gattung des Metal, etwa den Power Metal, erhält man Progressivität in immer höherem Maße (weil sie sich nicht nur über den Band-eigenen Sound, sondern auch über den aller Bands der gleichen Musikrichtung hinwegsetzt), aber stets in Form unserer ersten, elementaren Definition von Progressivität. Dass man bei der vollständigen, absoluten Progressivität nicht ankommen wird, haben wir weiter oben festgestellt. In der Regel geht das progressive Agieren über eine bestimmte musikalische Gattung selten hinaus. Ein Beispiel für Progressivität in wahrscheinlich in ihrer Form schwer übertreffbarem Ausmaße wäre etwa das Unterlegen von Bruckner-Sonaten, die auf Xylophonen und verstimmten Gitarren geblasen (!) werden, mit Techno-Beats und tibetanischen Mönchsgesängen. Um die Güteklasse solcher Musik soll es hier nicht gehen, sie ist jedoch in hohem Maße progressiv, weil sie sich über mehrere musikalische Gattungen erstreckt, diese miteinander kombiniert und damit eine neue Gattung schafft, die alle anderen genutzten umfasst. In der Gattungskombination tritt Progressivität heute noch vermehrt auf, weil sich die Möglichkeiten progressiver Entfaltung innerhalb eines festgelegten musikalischen Areals mit der Zeit ob vermehrter Verwendung abnutzen.
Eine Band, die sich nicht nur progressiv innerhalb der eigenen Entwicklung (s. 1a), sondern auch in der Entwicklung einer ganzen Musikrichtung verhält, nennen wir innovativ, weil sie einer Szene neue Anstöße zu geben vermag. Im Vergleich dazu, dass sich der Rest der Szene in der Nutzung stilistischer Mittel zum Ausbau einer musikalischen Basis sehr konservativ verhält, sind Blind Guardian sehr, sehr innovative Power Metaller. Auch die Innovativität ist in zur Progressivität analogem Verfahren weiter steigerbar, doch vermutlich ist das nun nicht mehr nötig.
Nachdem wir das Progressive in der Musik hiermit als zuletzt vielleicht etwas steifes, starres Stufenmodell entworfen und damit vorläufig ausreichend beleuchtet haben, bleibt die letzte Frage diese nach dem Wert von progressiver Musik in der Konfrontation mit nicht-progressiver Musik. Wir geraten auf glattes Eis, sollten wir den Versuch starten, der Musik objektive Werte zu verleihen. Ob und wann dem Einzelnen Musik gefällt oder missfällt, sprich: ob und wann der Einzelne einer bestimmten Musikrichtung einen ebenso bestimmten Wert verleiht, hängt von Faktoren ab, die nicht im eigenen Kontrollbereich liegen. Nach den Begriffen, die wir aus der etymologischen Herleitung des "progressiv" und der Gegenwart progressiver Musik gezogen haben, lassen sich jedoch, so streng wie nötig und dabei so zaghaft wie möglich, Ansätze zur potenziellen Bewertung progressiver Musik ausfindig machen, wobei die persönlichen Neigungen des Autors möglicherweise offen zu Tage treten, das Folgende also mit Vorsicht gelesen werden sollte:
1. Progressivität, die sich in einem musikalischen Produkt entäußert, ist schwer zu konsumieren. Die Form, in der Progressivität auftritt, ist die Form des Unbekannten, damit des Unerwarteten. Dinge, mit denen ich nicht gerechnet habe, müssen bearbeitet werden. Selbstverständlich kann ich sie auch als solche, die sie sind, im Raum stehen lassen und ignorieren. Doch im Eigentlichen erfüllt Progressivität keinen Selbstzweck, sondern fordert bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung - und bestehe sie im bloßen Wiederholen des Zuhör-Vorgangs. Durch die erschwerte Form aber treffe ich als Hörer erst auf die Relevanz der Inhalte. Britney Spears oder Ray Alder (Fates Warning) mögen das Selbe vermitteln: Spears stößt mich ab, Alder berührt mich.
2. Progressivität ist, das haben wir bereits nahe am Anfang dieses Textes festgestellt, das ungleiche Pendant zur Stagnation, schon weil sie einen Gang, eine Bewegung repräsentiert, Stagnation aber Stillstand verlangt. Ohne Progressivität aber gibt es keine Entwicklung. Erst die progressive Idee liefert einen Ansatz, mit dem ein Phänomen, ein Gegenstand, möglicherweise ein Problemgegenstand bearbeitet werden kann. Für die Musik heißt das: Würde jede Band von nun an keine auch nur geringfügigen Änderungen im typischen musikalischen Erscheinungsbild zulassen, blieben uns neue ästhetische Genüsse verwahrt. Ödet uns der Trott, dem sich Musik hingibt, an, fehlt es an Alternativen, einer Lösung des Trotts. Dass der individuelle Geschmack sich ändert, ist kein Geheimnis. Was aber, wenn die Musik, die existiert, die Selbe bleibt? Weil Entwicklung allgegenwärtig ist, darf auch Progressivität in der Musik nicht fehlen, sonst richtet sie sich selbst zugrunde.
3. Progressivität in Musik symbolisiert ein Neues. Da das Neue nie als Antwort, sondern stets als Frage auftritt, verlangt es die Konfrontation in der Auseinandersetzung der Frage. Aus der Frage "Warum äußert sich diese Band so und nicht anders?" resultiert das Eintauchen in ein Feld, das bis dato unbekannt war, vielleicht wieder in eine Frage: "Wie lautet die Frage, die diese Musik beantworten will?", nicht unbedingt in kognitiver, aber in wie auch immer gearteter seelischer Arbeit. Progressive Musik fordert heraus. Progressive Musik regt an.
4. Wir haben es gelesen: Progressive Musik macht Arbeit. Sie verlangt Reflexion, weil sie sich unserem Bewusstsein widersetzt, sich sträubt, in ein Raster zu fallen, das bereits im eigenen Kopf angefertigt liegt. Nicht-progressive Musik (eine ideale Erfindung - jede Musik hat progressive Züge) fügt sich problemlos in dieses Raster ein, weil sie ausschließlich mit vertrauten Mitteln operiert, sich also glatt und widerstandslos gibt. Progressivität strengt an. Doch im günstigsten Falle verschmelzen der Horizont, den das musikalische Werk aufstellt und der des Hörers zu einem. In einer solchen Reproduktion liegt eine Erweiterung des eigenen Geistes, mit der Musik erst Kunstcharakter gewinnt, weil sie nicht Unterhaltung ist, die wie Raab-Humor und Soap Operas dafür gemacht ist, in einen bereits gegebenen Rahmen zu fallen und diesen zu umsäuseln, zu berieseln, zu bestätigen, sondern sich erst durch die Ortung eines Dschungels von Verständnismöglichkeiten ihren Sinn verleiht.
5. Progressive Musik ist spannend. Wir haben mehrere Punkte durchleuchtet, die auf den pragmatischen Charakter von Progressivität verweisen, der gerne über das rein Musikalische hinausgeht. Zuletzt aber sind wir nun angelangt an einem Punkt, der rein den Konsum der Musik betrifft, weil auch progressive Musik ihren Eigenwert hat, unabhängig davon, was die Progressivität ohne die Musik bewirken vermag. Weil progressive Musik mit dem (vorerst) Unverständlichen arbeitet, weil sie das Unerwartete ohne Umschweife offeriert, verliert sie die Vorhersehbarkeit. Damit ist jeder Hördurchlauf Spiel mit dem "Aha", Ausliefern an ein Unbekanntes und in einem solchen Hingeben wohnt Spannung, Leben, Spiel.

Wir sind damit an das vorläufige Ende unserer Vorrede gekommen (gerade der letzte Teil ließe sich beliebig fortführen) und stellen fest, dass sie eine etwas umfassendere Betrachtung geworden ist. Es bestehen Zweifel, ob das Gesagte von einschlägiger Relevanz ist für die Beschäftigung mit Progressive Metal, etwa in der Art, wie ihn Pain Of Salvation offerieren. Doch noch einmal: Zweck dieser Darlegung war kein An-die-Stelle-von-Treten, dieser Text beruht nicht auf der Notwendigkeit, sondern der Möglichkeit einer Sachgegenstandseruierung. Meinetwegen mag man von Rock'n'Roll sprechen auch bei Pain Of Salvation, selbst wenn der Artefakt-Charakter ihrer Musik einen künstlich-künstlerischen Geschmack verleiht - und Rock'n'Roll zerschreibt man nicht, man lebt ihn einfach. Doch wenn ein paar wenige der Worte, die im Geschriebenen auftauchen, als verbale Begleitmusik zu musikalischen Vorgängen der Neuzeit verstanden werden, dann waren sie nicht ganz in den Wind geschrieben.
Es bleibt die Rezension: Last, but even not least wollen wir das Eigentliche, das diesem Text die Überschreibung gab, mit dem Bewusstsein um die Punkte, die der vorangehenden Bearbeitung erlegen sind, nun folgen lassen:

III. Pain Of Salvation können sich mit dem ihnen von mehreren Seiten zugesprochenen Prädikat der "wirklichen Progressivität" brüsten. In der Tat beschränkt sich die Band keineswegs auf die Adaption gängiger Muster, die in der Prog-Metal-Szene Usus sind, sondern bot auf ihren bis dato vier veröffentlichten Alben stets ein Sammelsurium an frischen Ideen, die verraten, wie sich Musik durch die Bank weg fesselnd, ergreifend und in (für Rockmusik und Metal) hohen Maßen herausfordernd inszenieren lässt. Mit schrägen Harmonien, rhythmischen Schlenkereien der Extraklasse und nicht eben einfach spiel- und nachvollziehbaren Stücken, die sich jenseits Single-kompatibler Längen einpendeln, erfüllt die Band natürlich bei grober Betrachtung sämtliche Prog-Klischees, die der gemeine Metaller, wird der nachts um zwei geweckt, ohne Mühe aneinanderreihen könnte. Die Progressivität von Pain Of Salvation besteht jedoch in einem Grundzug im Einweben solcher gängigen Stilmittel in einen eng mit den Texten verwobenen Rahmen aus Emotionen, wie in dieser Konsequenz keine andere Band es vermag. Freilich muss man sich durch diese Musik erst durchstoßen, besonders, weil Pain Of Salvation sich von Album zu Album ungerne wiederholen, also auch im Rahmen ihrer eigenen Entwicklung nach vorne gerichtet, Neuland erkundend, progressiv agieren. Bestes Beispiel dafür ist die vorliegende CD. "12:5" ist kein stofflich neues Album. Material zu dieser CD bot der Backkatalog der eigenen Band. Doch als Unplugged-Album ist "12:5" auch nicht ein konventionelles Live-Album. Dies ist schlicht durch den Fakt bedingt, dass die Band nicht sich selbst nachspielt, sondern den meisten Liedern, die der Fan von den bisherigen Alben kennt, in ihren Akustikfassungen ein vollkommen neues Gesicht verleiht. Nicht, um die Originalfassungen zu verwerfen; stattdessen einfach, um zu sagen: Seht, das können wir noch aus unserer eigenen Musik machen. Diese Alt-Neuschreibung kulminiert in einer nicht ganz ernsten Version von "Ashes", die dermaßen die Schwere des Originals negiert, dass sie auch ein beinahe humoristischer Höhepunkt von "12:5" ist. Natürlich: "Dryad Of The Woods" und "Second Love" brauchen für einen Anlaß wie ein Akustikalbum nicht umarrangiert zu werden und erklingen ganz zart und sanft einfach wie sie sind und waren. Tatsächlich aber sind mehrere der in der Originalfassung Metal-lastigen Lieder erst im Gesangseinsatz zu erkennen (was den beim Auftritt anwesenden Fans hörbarerweise genauso ging) und werden manche Bearbeitungen ("Undertow") zu wirklich schwer verdaulichen Brocken. Doch hier gerade wohnt ja der Reiz von "12:5". In der einmal dramatischen, dann wieder sanft schwebenden Version, in der "Reconcilation" auf diesem Album vertreten ist, verblasst sogar das Original aus "The Perfect Element". Und wer sich schon immer einen Eindruck der rauchigen Röhre von Gitarrist Johan Hallgren verschaffen wollte, bekommt auf "Chainsling" einiges geboten. Für so etwas gibt es sogar Szenenapplaus vom Publikum. Das sorgt ohnehin für die Authenzität diese Albums. Wo andere Live-Alben dem Hörer noch zehntausend andere Mithörer an die Seite stellen, bleibt auf "12:5" alles im kleinen Rahmen, so dass man sich beinahe bei einer Familienveranstaltung fühlt. Sympatisch. "12:5" ist ein interessantes, packendes und progressives Live-Album mit sechzehn beinahe neuen Songs. Nicht unnötig sparsam und reduziert, sondern herausfordernd und gewaltig.
Kontakt: www.painofsalvation.com, www.insideout.de

Tracklist:
Book 1: Genesis
1. Leaving Entropia (A)
2. This Heart Of Mine
3. Song For The Innocent
4. Brickwork Descend (1)
5. Leaving Entropia (B)
Book 2: Genesister
6. Winning A War
7. Reconcilation
8. Dryad Of The Woods
9. Oblivion Ocean
10. Undertow
11. Chainsling
Book 3: Genesinister
12. Brickwork Ascend (1)
13. Brickwork Ascend (2)
14. Second Love
15. Ashes
16. Brickwork Descend (2)



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