www.Crossover-agm.de JUDAS PRIEST: Nostradamus
von rls

JUDAS PRIEST: Nostradamus   (Sony/BMG)

Neben AC/DCs "Black Ice" und Metallicas "Death Magnetic" war Judas Priests "Nostradamus" das wohl am innigsten und mit der größten Spannung erwartete Album des Jahres 2008 in der Hardrock- bzw. Metalszene, und während man bei AC/DC wußte, was man zu erwarten hatte, bestand bei Metallica (angesichts ihrer wilden stilistischen Bocksprünge auf den Alben seit der Schwarzen) und Judas Priest (angesichts der Ankündigung, ein Konzeptalbum über Nostradamus machen zu wollen, das sich dann sogar zur über 100minütigen Doppel-CD auswuchs) noch ein weiteres Spannungserhöhungsattribut, nämlich die Unsicherheit, was man unterm Strich zu hören bekommen würde. "Nostradamus" wurde letztlich eher ambivalent bewertet, wobei eine gute Anzahl der Bewertungen, wie das in der heutigen Rockpresse so üblich ist, nach nur wenigen Hördurchläufen (wenn überhaupt!) zustandegekommen sein dürfte, eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den über anderthalb Stunden Material also nicht stattgefunden hat. Mit dieser Herangehensweise bekommt man bei "Nostradamus" in der Tat Schwierigkeiten, denn sich heraushebende Einzelsongs mit Klassikerstatus, von denen Judas Priest selbst auf dem ebenfalls ambivalent bewerteten "Jugulator"-Album einige untergebracht hatten (und zwar mehr, als die meisten Kritikaster sich einzugestehen bereit waren), finden sich in diesem Material hier nicht, vielleicht mit Ausnahme des Titeltracks kurz vor Ende des zweiten Albums, der auch vom Energiegehalt den Maximalpunkt des Albums markiert und daher wohl folgerichtig als Teaser beispielsweise auf der Rock Hard-Sampler-CD oder auch auf dem Myspace-Profil der Band ausgewählt wurde. Er ist derjenige Song, der die meisten bisher von Judas Priest liebgewonnenen Stilmerkmale in sich vereinigt und in dem Rob Halford zudem einen seiner auf diesem Album sehr seltenen hohen Schreie losläßt - da fühlt sich auch der gemeine Priest-Fan sofort zu Hause, während er für fast das komplette restliche Material teils sehr viel Einarbeitungszeit benötigen wird. Dabei setzen Judas Priest eigentlich kein Stilmittel ein, das Hunderte Rockopern-Kollegen nicht auch schon aufgefahren hätten - nicht einmal größere Orchesterparts muß man überstehen, man bekommt keine verteilten Sängerrollen, im Gegenteil: "Nostradamus" ist im Genremaßstab überraschend basisch inszeniert, was im Kontext des bisherigen Schaffens von Judas Priest allerdings trotzdem eine Erhöhung der Komplexität um hundert Prozent bedeutet, und diesen Schritt wollte ein guter Teil der Journalistenschaft (die eigentlich ganz andere Sachen gewöhnt ist, wenn man mal an Werke beispielsweise von Nine Inch Nails denkt) offensichtlich nicht mitgehen und ein guter Teil der Anhängerschaft ebenfalls nicht. Nun sollte ein Schuster bekanntlich bei seinen Leisten bleiben (ansonsten ergeht es ihm wie Blind Guardian, die auch sehr lange gebraucht haben, bis sie begriffen, daß sie nun mal keine Progmetaller sind), aber das tun Judas Priest eigentlich auch: Sie statten die Einzelsongs (die jeweils von Zwischenspielen verbunden werden) mit wiedererkennbaren Riffs, Melodien und Refrains aus, sie verlassen die gängigen harmonischen Grenzen nicht (das führt dann in "Sands Of Time" zu einem netten Plagiat, dessen Quelle dem Rezensenten noch nicht eingefallen ist, die aber sogar textlich mit "the sense of time is running low" nachvollzogen werden kann), und selbst die Effekte sind nichts bahnbrechend Neues, weder im bandeigenen Kontext (man erinnere sich an die Gitarrensynths auf dem "Turbo"-Album, und auch auf "Nostradamus" haben Glenn Tipton und K.K. Downing viele der Geräusche und keyboardartigen Sequenzen auf ihren Gitarren simuliert, nur hier und da unterstützt von Tastendrücker Don Airey) und erst recht nicht im Kontext der allgemeinen Musikwelt, der Judas Priest in puncto Fortschrittlichkeit schon anno 1979 (als sie in "Exciter" die ultimative Blaupause des zweistimmigen Gitarrenlaufs schufen, an der sie selbst und ihre Vorgänger wie Wishbone Ash oder Thin Lizzy einige Jahre lang gefeilt hatten) den letzten Beitrag geliefert hatten. Auch "Nostradamus" enthält übrigens eine aktuelle Interpretation dieser Blaupause, nämlich im Hauptsolo von "Pestilence And Plague". Einige Elemente war man im Schaffen der traditionsreichen britischen Band allerdings so tatsächlich noch nicht gewöhnt: Über den Komplexitätsfaktor der Kompositionen (mit Effekten, Zwischenspielen, Breaks etc.) sprachen wir bereits, und er bricht sich beispielsweise in "War", einem titelgemäß militärisch klangdominierten Song, eindrucksvoll Bahn. "Pestilence And Plague" wiederum enthält einige Textzeilen in Italienisch, die angesichts ihrer prominenten Positionierung im Refrain auch noch explizit ins Ohr fallen und die ebenso storydeterminiert sind wie die klanglich etwas verfremdeten französischen Zeilen, die man am Ende von "Future Of Mankind" zu hören bekommt. "Death" wiederum spielt mit einem Stil, den man aus dem Schaffen der Band so noch nicht kannte, nämlich dem Doom - schleppendere Kompositionen wie "Cathedral Spires" oder "Loch Ness" gab es schon in der Vergangenheit, aber hier bricht sich in den ersten vier Minuten wirklich fast reiner Doom der Kategorie "Black Sabbath zu 'Eternal Idol'-Zeiten" Bahn, bevor ein Schwenk in die epischere Kategorie der beiden genannten Songs folgt und das Hauptsolo ab Minute sechs dann im gehobenen Midtempo um die Ecke biegt (der melodische Anklang der Akustikgitarren des Zwischenspiels "Peace" ans Intro von "Children Of The Sea" dürfte allerdings reiner Zufall sein). Das insgesamt recht niedrige Durchschnittstempo des Gesamtmaterials (ein weiterer Grund für die Ablehnung manches geradlinig geschnitzten Speedfreaks unter den Anhängern) bemißt sich einerseits aus der weiten Ausdehnung langsamerer Passagen und zum anderen aus dem völligen Fehlen von Speedsongs - über ein noch nicht mal als sonderlich gehoben anzusprechendes Midtempo, das aufgrund einiger galoppierender Drumeinwürfe von Scott Travis sogar noch schneller wirkt, als es eigentlich ist, geht keiner der 14 regulären Songs (dazu kommen noch neun Zwischenspiele) hinaus. Das kann man bedauern, aber wenn nach Meinung der Komponisten die Story eben eine andere Vertonung erfordert hat, sollte man das so akzeptieren und nicht lamentieren. Und wenn Halford nicht schreit, dann schreit er eben nicht - man weiß, daß er in den letzten anderthalb Jahrzehnten vor allem live nicht immer überzeugen konnte, aber man weiß auch, was er prinzipiell kann (wer zweifelt, werfe halt noch einmal den Albumvorgänger "Angel Of Retribution", ein im besten Sinne typisches Judas Priest-Album, in den Player), und sollte daher nicht allein aufgrund des Vorhandenseins bzw. Fehlens bestimmter Teile des Stimmspektrums Spekulationen anstellen. Freilich ergeben sich auch einzelne durch die Struktur des Albums bedingte Problemfälle. Beispielsweise muß man die Ballade "Lost Love" gedanklich außerhalb des Albumkontextes zu betrachten versuchen, um ihre Qualitäten zu erkennen - den Wärmepunkt innerhalb einer doch recht feindselig gestalteten Umgebung vermag man auch so zu erkennen, aber da auch viele der Zwischenspiele balladeske Elemente enthalten, fällt der Kontrast schwächer aus, als es wünschenswert gewesen wäre. Das schöne Hauptsolo kann man aber auch so genießen. Auch mancher Übergang holpert ein wenig, wobei allerdings kaum feststellbar ist, ob dies nun eine storyimmanente Wirkung erzeugen sollte, da die Story, also das Leben des Michel de Notre-Dame aka Nostradamus, im Booklet zwar kurz zusammengefaßt ist, aber weitergehende Erläuterungen zu den einzelnen Songtexten fehlen und die Texte der Zwischenspiele (nicht alle haben einen) gar nicht erst abgedruckt wurden. Ein schönes Beispiel für diese Frage stellt der Übergang von "Solitude" in "Exiled" dar, der ohne jegliche Vorbereitung des Tonartwechsels auskommt. Die Albumdramaturgie vor allem der zweiten Hälfte wirft auch Fragen auf (da hätte man mit einer kleinen Konzeptschraubung ja problemlos Abhilfe schaffen können): Hier stehen zu viele schleppende Nummern hintereinander, was selbst beim bestwilligen Hörer irgendwann leichte Ermüdungserscheinungen erzeugt, die erst der bereits erwähnte Halford-Schrei am Beginn des Titeltracks wieder wegwischt. Freilich entdeckt man beim genauen Hinhören auch in dieser schwierigen Strecke noch Interessantes, etwa die hintergründig wabernden Effekte im Solo von "New Beginnings", die man in vordergründigerer Form schon von mehreren Black Sabbath-Alben der 80er kennt.
So kommt man zu einer immens langen strukturellen Betrachtung und hat dabei noch gar nicht so viel zur eigentlichen Musik gesagt, aber die bisher geschilderten Bruchstücke und ein wenig Zwischen-den-Zeilen-Lesen sollte summiert doch schon ein aussagekräftiges Puzzle ergeben. "Nostradamus" spielt jedenfalls in einem Maße wie nur wenige Judas Priest-Alben zuvor mit dem Erwartungshorizont des Hörers (vor diesem Hintergrund wird die Aussage der Gitarristen, Judas Priest hätten sich mit jedem Album neu erfunden, zwar etwas relativiert, aber andererseits hatten sie damit durchaus nicht unrecht, denn strenggenommen klingt kein Priest-Album wie sein direkter Vorgänger - am ähnlichsten sind sich wohl noch "Screaming For Vengeance" und "Defenders Of The Faith"), sitzt aber gerade damit ein wenig zwischen den Stühlen: für den Fan simpler Hymnen Marke "Breaking The Law" deutlich zu komplex, für den Anhänger von Rock- oder Metal-Opern zu simpel gestrickt. Wenn sich zwischen diesen Stühlen eine genügend große Zielgruppe versammelt hat, sollte das dem Album aber nicht schaden.
Kontakt: www.judaspriest.com

Tracklist:
CD 1:
Dawn Of Creation
Prophecy
Awakening
Revelations
The Four Horsemen
War
Sands Of Time
Pestilence And Plague
Death
Peace
Conquest
Lost Love
Persecution

CD 2:
Solitude
Exiled
Alone
Shadows In The Flame
Visions
Hope
New Beginnings
Calm Before The Storm
Nostradamus
Future Of Mankind
 




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