www.Crossover-agm.de PATRICK GLÄSER: Orgel rockt - Die Live-CD 2010
von rls

PATRICK GLÄSER: Orgel rockt - Die Live-CD 2010   (SOUNDmanufaktur)

Die Orgel hat in ihrer elektronischen Ausprägung als Hammondorgel zweifellos ihre Verdienste in der Geschichte der Rockmusik - man denke nur an die Höchstleistungen meisterlicher Tastenakrobaten wie Jon Lord von Deep Purple. Aber die "klassische" Kirchenorgel, also die Pfeifenorgel? (Deren digitale Schwester sei hier in der Betrachtung außen vor gelassen.) Gut, es gab einige wenige Bands, die sich, wenn sie diese Klangfarbe einsetzen wollten, bewußt nicht mit einer Kirchenorgel aus der Soundbibliothek begnügt haben, sondern Aufnahmen an real existierenden Instrumenten tätigten - erinnert sei an "Parallels" von Yes oder, wenn man etwas weiter Richtung Underground gehen will, an "Lord Barker's Theme" von Scanner. Aber das sollten Einzelfälle bleiben, und auch wenn die Wiedergabe von der GEMA so bezeichneter U-Musik an Pfeifenorgeln in den letzten Jahren und Jahrzehnten von einem belächelten bis vehement abgelehnten Phänomen hin zu einer prinzipiell durchaus akzeptierten Spielart gedieh (wenn man sowas nicht gerade in einer extrem evangelikalen oder ultrakonservativen Gemeinde probiert, die für so ein Vergehen nach wie vor am liebsten den Scheiterhaufen entzünden würde), so besitzt ein konsequent in dieser Richtung gedachtes Programm immer noch Seltenheitswert.
Ein solches Programm nun hat der Organist Patrick Gläser konserviert - das zugehörige Projekt nennt sich "Orgel rockt" und wächst und gedeiht prächtig. Die Orgel rockt allerdings nicht nur, sondern metalt, poppt, romantisiert und filmt auch - aus diesen fünf Komponenten bestehen die 74 Minuten der vorliegenden CD, die bei zwei Konzerten in Öhringen und Möckmühl (beides Raum Heilbronn) mitgeschnitten wurde. Dabei spielen der Metal und die Romantik eine eher periphere Rolle, da sie jeweils nur einen Beitrag zum 19trackigen Geschehen leisten, allerdings jeweils durchaus einen gewichtigen: Metallicas "Nothing Else Matters" gefällt durch seine perfekte Ausnutzung der Dynamikstufen der Orgel (wenn man da im "harten" Teil die Stereoanlage ordentlich aufdreht, freuen sich auch die Nachbarn drei Häuser weiter über den Tiefbaß der Orgel - auf der Live-CD 2011 dann bitte "One"!), und Leon Boëllmanns Toccata c-Moll aus der "Suite Gothique" schlägt den Bogen zum traditionellen Orgelrepertoire und wäre in dessen Kontext wiederum schon fast als Pop einzustufen gewesen. Den Rest der CD teilen sich Rock/Pop (zusammengefaßt - die Grenzen sind ja eh fließend) und Filmmusik fast brüderlich, wobei Gläser alle Arrangements bis auf die Boëllmann-Toccata (die ja nicht arrangiert werden mußte) in Eigenregie fabriziert hat. Und da finden sich durchaus einige Perlen, wenn man auf der anderen Seite auch nicht verkennen darf, daß die Pfeifenorgel technologisch bedingt doch die eine oder andere Limitierung setzt, gerade wenn eine sehr scharfe Artikulation von Tonrepetitionen auf kleinem zeitlichem Raum erforderlich ist. Das fällt schon im Opener "Eye Of The Tiger" von Survivor auf - der galoppierende Unterbau des Songs fließt in der Orgelfassung hier und da etwas zu sehr ineinander. Das Angenehme an der Sache ist nun aber: Dieses Problem, das man bei der Analyse durchaus wahrnimmt, stört den Hörspaß herzlich wenig. Natürlich hilft die Kenntnis der Originale bei der Meinungsbildung, ob man hier nun "nur" eine gelungene Umsetzung oder einen Geniestreich vor sich hat, enorm, aber Gläser hat im wesentlichen in den Klassikertopf gegriffen und "kulturelles Allgemeingut" hervorgeholt, so daß der Prozentsatz der Hörer, der zu der entsprechenden Erschließungsarbeit in der Lage ist, recht hoch liegen dürfte. Interessant ist die Wahl von "Awesome God" - musikalisch unangreifbar umgesetzt, erfüllt dieser Song zugleich eine "pädagogische" Funktion für die Amtsträger, handelt es sich bei Michael Smith doch um einen mittlerweile recht anerkannten Vertreter der christlichen Popularmusik. Damit nimmt Gläser auf geschickte Weise denjenigen, die ihn anhand der Wahl etwa von "Paint It Black" der "bösen" Rolling Stones kurzerhand aus den Kirchenräumen verbannen wollen würden, den Wind aus den Segeln. Ebenjenes "Paint It Black" eröffnet in der Gläserschen Orgelfassung noch einmal einen ganz neuen Zugang an das Werk seitens des Hörers, so daß es auch wieder für diejenigen interessant wird, denen das Original und seine ca. 2874 Coverversionen schon in der Nähe Oberkante Unterlippe stehen. Strahlender Höhepunkt der CD aber ist die kongeniale Fassung von Queens "Bohemian Rhapsody", den "sinfonischen" Touch des Originals perfekt auf die Orgel umsetzend und in diesem Falle auch die künstliche Raumerweiterung, die bei der klanglichen Bearbeitung eingebastelt wurde (und die nicht in jedem Fall überzeugt - man wähnt sich akustisch jedenfalls in einer kleinen Kathedrale, was gerade in den etwas intimeren Momenten nicht immer passen will), hervorragend ausnutzend. Auch "Fluch der Karibik" und "Star Wars" gewinnen im Kathedralsound noch einmal deutlich an Wirkung, während man bei "Das Boot" hin- und hergerissen ist: Volumen oder doch lieber Klaustrophobie? Beides hat seinen Reiz. Der wäre für den Teil der Hörer, der sich dem Projekt von der Orgelseite aus nähert, im übrigen noch stärker ausgefallen, wenn das Booklet noch mit den Dispositionen der beiden Orgeln und vor allem den Registrierungen ausgestattet worden wäre. (Eine Korrekturlesung hätte ihm auch nicht geschadet - so wäre das Kuriosum, daß laut Einführungstext das Premierenkonzert des Projektes im November 2010 stattfand, also vom Konzertmitschnittszeitpunkt aus in der Zukunft, vielleicht noch zu eliminieren gewesen.) Dann hätte man auch an den Stellen, wo Gläser in bester deutscher oder gar französischer Orgelromantiktradition Klangmulm erzeugt (hier allerdings in künstlerischer Absicht), im eigenen Kopf ein bißchen mehr Transparenz schaffen können. Aber das beeinträchtigt den generellen Wert dieser Veröffentlichung nicht, wenngleich ein Grundproblem auch hier bestehen bleibt: So viel Hörspaß die CD über weite Strecken macht - live dürfte das Ganze noch wesentlich unterhaltsamer ausfallen. Deshalb der dringende Aufruf, solche (im besten Sinne mit dem Wort "Crossover" zu betitelnden) Projekte und dieses hier im besonderen Maße zu unterstützen, indem man auf Gläsers "Orgel rockt"-Konzerte geht oder vielleicht den Organisten der eigenen Gemeinde dazu bringt, alldort selber eins zu veranstalten (ob nun mit Gläser oder sich selbst an der Orgel). Und via www.orgel-rockt.de kann man auch Werkideen für die Fortführung des Projektes beisteuern. Hier die aktuelle Wunschliste des Rezensenten: neben Metallicas "One" noch "Child In Time" von Deep Purple, die Titelmusik zu "Agentin mit Herz", "Nemo" von Nightwish und (eine große Herausforderung) "Alexander The Great" von Iron Maiden.
Kontakt: www.soundmanufaktur.de

Tracklist:
Eye Of The Tiger
A Whiter Shade Of Pale
Awesome God
Nights In White Satin
Nothing Else Matters
Russians
First Knight
Blade Runner
Sailing
Das Boot
El Shaddai
Gladiator
Toccata c-Moll (aus "Suite Gothique")
Bohemian Rhapsody
Emmanuel
He's A Pirate - Braveheart
Star Wars
Paint It Black
Music
 



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