www.Crossover-agm.de THE GATHERING: The West Pole
von rls

THE GATHERING: The West Pole   (Psychonaut Records)

Das erste Album nach dem Ausstieg Anneke van Giersbergens: Als wie prägend für die jüngere Geschichte der Band erweist sich ihre Stimme wirklich? Die Band spannt den Hörer noch etwas auf die Folter, denn "When Trust Becomes Sound", der Opener des neuen Albums, ist ein Instrumental, das allerdings zumindest schon mal hoffen läßt, daß eine relativ rocklastige, im besten Sinne basische Instrumentierung Trumpf sein würde und sich elektronische Experimente in Grenzen halten würden. Nach Durchhören der insgesamt 54 Minuten ist man diesbezüglich tatsächlich angenehm überrascht, wie erdig die Holländer wieder musizieren, ohne natürlich das gern von Keyboarder Frank eingebrachte spacige Element außen vor zu lassen - eine Kombination, die übrigens auch auf dem paradoxen Cover seinen Widerhall gefunden hat. Gewiß, wer sich die satte Gitarrenpower von "Mandylion" zurückwünscht, der wird mit "The West Pole" nicht durchgängig Freundschaft schließen, denn Gitarrist René nimmt sich häufig zurück, imitiert hier und da (Bridge vor dem zweiten Refrain in "All You Are" und Hauptsolo des gleichen Songs!) auch die Livesituation, indem er seiner hier merkwürdig verzerrten Leadgitarre keine Rhythmusgitarre unterlegt. Aber "All You Are" enthält mit seinen fordernden Stakkati auch die energischsten Passagen des Bandschaffens seit langem, und das sanfte Intro des Titeltracks leitet in eine düstermetallische Passage über, die tatsächlich auch auf "Mandylion" einen guten Platz gefunden hätte (obwohl die Entwicklung hier in eine Richtung weitergeht, zu der The Gathering damals noch nicht den Mut gehabt hätten). Zumal Silje Wergeland, die Neue am Mikrofon, wirklich fast exakt wie Anneke klingen kann, wenn sie will - einen kleinen Tick weniger nasal vielleicht. Aber sie bringt auch andere Stimmfärbungen ein, singt besonders in den Höhenlagen etwas transparenter als Anneke, ohne aber schon in die dünnluftigen Bereiche der Heavenly Voices vorzustoßen. Daß diese Kombination eigentlich so eine Art Idealzustand darstellt, ist den Beteiligten erst im Laufe der Arbeit klar geworden, denn die Band testete noch andere Sängerinnen und nahm mit diesen auch schon Material auf, bevor sie sich dafür entschied, Silje dauerhaft als Leadsängerin zu bestallen. Zwei dieser anderen Aufnahmen sind mit auf der CD gelandet: "Capital Of Nowhere" mit Anne van der Hoogen (noch etwas ätherischer und fast gar nicht an Anneke erinnernd) und "Pale Traces" mit Marcela Bovio (gewisse Ähnlichkeiten zu Anneke, aber andere Stimmfärbung). Anhand dieser Songs kann sich der Leser schön auszumalen versuchen, wie der jeweilige Rest des Materials mit dieser Stimme geklungen haben könnte - er kann es aber auch sein lassen und sich einfach nur darüber freuen, daß die Situation so geworden ist, wie sie ist. Silje ist übrigens Norwegerin und sang zuvor bei Octavia Sperati - daß "All You Are" fast ein wenig an die norwegischen Landsleute Tristania erinnert, dürfte dennoch purer Zufall sein. Jede der drei beteiligten Sängerinnen schrieb ihre Lyrics übrigens selbst, und Silje steuerte sogar mit "You Promised Me A Symphony" eine komplette Eigenkomposition bei, eine reine Klavierballade. Den Rest des Songwritings teilten sich René und Frank auf, wobei letzterer mit "No Bird Call" eine bandunterstützte Ballade schrieb, die in manchen Gitarren- und Keyboardlinien wieder mal wehmütige Erinnerungen an die Mittneunziger wachküßt. Aber wir leben im 21. Jahrhundert, im Zeitalter des Postrock, für den The Gathering, ohne es zu wollen, wichtige stilistische Grundlagen geschaffen haben, und so nimmt es nicht wunder, daß sie auch auf "The West Pole" mit ein paar Elementen aus dieser Richtung spielen und den Closer "A Constant Run" zu einer genretypischen Klangmauer aufbauen, was sie zuvor in "Capital Of Nowhere" schon einmal in etwas kleinerem Maßstab "geübt" haben und mit dem spannungsgeladenen, wenngleich nicht sonderlich kompliziert strukturierten Ergebnis offensichtlich zufrieden waren. Ein paar der nichtmetallischen Instrumente wurden per Echtklang eingespielt, was allerdings einige etwas unspektakuläre Songs auch nicht mehr entscheidend hochzieht - das ist alles natürlich auf einem gehobenen Level, aber nicht jeder Song schafft es über eine imaginäre Grenze; gerade "Pale Traces" plätschert trotz Marcelas ansprechendem Gesang weitgehend höhepunktarm am Hörer vorbei, während das flottere "No One Spoke" deutlich besser zu gefallen weiß und sich im Genre des tanzbaren, aber unelektronischen Gothic Rocks, für dessen Bedienung The Gathering bisher nur bedingt bekannt waren, ein ansehnliches Plätzchen sichert - gewisse jüngere Tiamat-Songs oder wiederum Tristania geben hier schöne Parallelen her, wenngleich The Gathering natürlich auch auf diesem Album immer noch in erster Linie sie selbst sind. Mancher wird ihnen vorwerfen, mit Siljes Verpflichtung den Weg des geringsten Widerstandes gegangen zu sein (weil sie wie beschrieben so gut wie exakt nach Anneke klingen kann), andere werden sich über die dadurch ermöglichte Kontinuität freuen, die es dem Hörer erspart, sich an eine völlig neue Stimme gewöhnen zu müssen (einen Prozeß, den bekanntermaßen beispielsweise bei Nightwish nicht alle Anhänger mitvollziehen wollten). Das einmal als tragfähig erwiesene Konzept sollte also auch weiterhin Stabilität aufweisen, so daß der geneigte Anhänger mit dem Erwerb des Digipacks wenig Gefahren eingeht.
Kontakt: www.gathering.nl, www.psychonautrecords.com

Tracklist:
When Trust Becomes Sound
Treasure
All You Are
The West Pole
No Bird Call
Capital Of Nowhere
You Promised Me A Symphony
Pale Traces
No One Spoke
A Constant Run





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