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GANES: Mai Guai
von rls

GANES: Mai Guai   (Capriola/Sony)

Ein Jahr nach dem Debüt "Rai De Sorėdl" legen Ganes ihr zweites Album vor. Das ist von der Zeitspanne her für heutige Verhältnisse ein kurzer Abstand - die Zeiten, wo man als Künstler jährlich (mindestens) ein neues Studioalbum zu releasen pflegte, sind lange vorbei, nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Entwicklung, daß die Gewinnerzielung im CD-Sektor gegenüber derjenigen von Liveauftritten mittlerweile etwas marginalisiert wurde. Aber um live zu spielen, braucht man natürlich erstmal einen Songfundus, und obwohl Ganes die 2010er Headlinerauftritte auch schon mit einem vollen Set bestreiten konnten, ermöglicht das neue Material nun eine vielfältigere Auswahl bei der Setzusammenstellung.
Allerdings: Den ersten Schreck bekommt der Journalist schon im Infoblatt zum neuen Album "Mai Guai", wenn er den Halbsatz "... befeuert ... Ganes seine gewagten Träume mit den urbanen Beats einer nachtaktiven Generation" liest. Sind die Geschwister Schuen und ihre Cousine Maria Moling ins Dancefloor-Fach gewechselt? Wäre zwar etwas Neues (Dancefloor mit Livegeige und ladinischem Gesang dürfte noch nicht existieren), aber man muß nicht alles, was es noch nicht gibt, zwangsweise erfinden. Ganz so schlimm kommt es beim Hören dann nicht: Sie bleiben prinzipiell in ihrem gewohnten Italopop, gestalten diesen aber vielseitiger als auf dem Debüt. Das hatte man sich zwar sogar so gewünscht, war besagtes Debüt doch hier und da etwas zu stromlinienförmig geraten - aber einige der neuen Zutaten wollen nicht so recht passen und wirken wie gewollt, weniger wie organisch gewachsen. Da hätten wir gleich im Opener "Au Au" ein Exempel: Aus luftig-leichtem Jazzpop wächst ein Bombastpart heran, geprägt durch eine E-Gitarre - nun ist der Rezensent bekanntlich der Letzte, der was gegen E-Gitarren hätte, aber hier treten noch ein paar hintergründige Störgeräusche hinzu, und die beeinträchtigen den Hörspaß doch deutlich. Noch problematischer wird's im Titeltrack. Den ersten Schreck kann hier auch der Nichtjournalist nachvollziehen, denn "Mai Guai" kannte man von der 2010er Tour als siebenminütiges, vielschichtiges, leicht mystisch angehauchtes und schlicht und einfach ergreifendes Düster-Epos, anhand dessen man sich auf die nächste Studioscheibe sehr gefreut hatte, zumal als man erfuhr, daß es zum Titelsong dieser Scheibe ernannt wurde. Nun aber liest man in der Tracklist 3:27 min als Spieldauer - nanu, eine Halbierung? Der Schreck wird beim Hören aber noch größer, denn hier haben wir einen Song vor uns, dem die Studioumsetzung definitiv geschadet hat. Die Grundideen im Intro und im Hauptteil sind immer noch da, aber die Verknüpfung erscheint unlogisch, die Umsetzung wirkt bemüht, viele der neuen Einfälle und Sounds zünden nicht, und nach hinten raus wird der Song nach der zweiten Strophe einfach abgeschnitten, was dem Liebhaber der großartigen 2010er Livefassung immerhin erspart, dieses Trauerspiel noch weiter anhören zu müssen. Ganz so schlimm kommt's in den weiteren neun Songs dann nicht mehr, aber die allzu deutlich computerisierten Drums verhindern beispielsweise auch in "Maestra" nachhaltig das Aufkommen irgendwelchen Wohlgefühls, und auch der Megaphoneffekt in "Bun Sciöch'al É" wirkt viel zu bemüht. Statt dessen hätte deutlich mehr Arbeit in die Ausarbeitung der Refrains bzw. allgemein der Melodiebögen gesteckt werden dürfen - da will nach den beiden Openern (und beim Titeltrack auch nur aufgrund der Vertrautheit) nicht mehr viel ins Ohr gehen, was auf dem Debüt noch anders war. Wenn man die "außergewöhnlichen Momente" hernimmt, dominieren in der Gesamtabrechnung jedenfalls deutlich die, bei denen man sich verzweifelt fragt: "Was haben sich Nick Flade und Kilian Reischl denn da nun wieder gedacht?", über diejenigen, bei denen man den beiden Produzenten ein herzliches "Gute Idee!" sagen möchte. Selbst Elisabeth Schuen läßt sich in "Vire" davon anstecken, die aus "Auseinandertreiben" und "Dorm Saurì" bekannten Sopranvocals unbedingt noch einmal auf der Scheibe unterbringen zu müssen, egal ob's paßt oder aber reingeklebt wirkt (hier ist leider letzteres der Fall, so gerne man ihre Klassestimme prinzipiell auch hört, während der fast gelangweilte Tonfall der Leadvocals am Anfang des Songs wiederum fast als Geniestreich zu werten ist und die innere Leere des lyrischen Ichs exzellent transportiert). Daß die schlichte Ballade "Recordete", in der der sanfte Streicherteppich paßt und leider nur mit dem gesamten Song viel zu früh wieder eingerollt wird, noch am besten funktioniert, spricht wohl Bände; die Komposition stammt übrigens nicht von der Band oder einem der Produzenten, sondern von Vlado Grizelj, der auch die Akustikgitarre eingespielt hat. Der Albumausklang hält mit der Klavierballade "Mai Odü", veredelt noch durch ein wunderbares Flügelhornsolo und nur durch den nicht ganz überzeugenden Refrain beeinträchtigt, noch einen weiteren Höhepunkt bereit. Daß Reduzierung aber nicht das einzige Heilmittel ist, zeigt "Ma Pur Te", das in der im Februar gemeinsam mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg live im Studio eingespielten Fassung enthalten ist und demonstriert, daß Ganes-Songs auch mit lichtdurchfluteter Bombastuntermalung funktionieren können (wenngleich auch hier die Klatschgeräusche des Drumcomputers verzichtbar erscheinen). Und der Rezensent ist sich sicher, daß auch einige der problematischeren Studiosongs live durchaus funktionieren können. Das nützt freilich dem potentiellen Hörer der CD nichts - sie ist eindeutig überproduziert. Offensichtlich war das Absicht, denn die optische Gestaltung des Albums läßt sich perfekt mit dem Wort "überbelichtet" charakterisieren. Wer sowas mag, wird mit "Mai Guai" vielleicht glücklich, der Rezensent wird es nicht und legt kopfschüttelnd die zweite CD ein, die in der Special Edition des Albums enthalten ist.
Moment mal: Das ist doch das Intro der 2010er Livefassung von "Mai Guai"? Tatsächlich: Ganes haben den Song gewissermaßen gespalten (auch wenn die Studiofassung die gleiche Grundidee immer noch verfolgt), was freilich auch wieder Fragen aufwirft. Wenn man sich ein Landschaftsbild von Caspar David Friedrich kauft, zerschneidet man das ja auch nicht und hängt sich den Himmel ins Schlafzimmer, den Wald ins Wohnzimmer und den Wasserfall ins Bad und wirft die Felsen weg, weil man sie vielleicht nicht ganz so mag. "Mai Guai" selbst steht jedenfalls nicht im Set (was aus der Hälfte des Songs geworden ist, kann man in der obigen Beschreibung nachlesen, und die andere Hälfte wurde offensichtlich weggeworfen), der sich bis auf "Ma Pur Te" und eine weitere Ausnahme ausschließlich aus Debütmaterial zusammensetzt, für das über weite Strecken das oben zu "Ma Pur Te" gefällte Urteil zutrifft und auch diverse Eindrücke aus dem Livereview von Plauen 2010 übernommen werden können. "Lüna" wird erneut mit Waldgeräuschen bereichert, und am Ende des einstündigen Gigs wiegt Elisabeth den Hörer mit "Dorm Saurì" wieder in den Schlaf, ihn fast alles vergessen lassend, was er in der Dreiviertelstunde der ersten CD gehört hat. Dazu kommt die erste "richtige" Coverversion im Ganes-Set, nämlich Bob Marleys "Redemption Song", der sich erstaunlich gut ins Repertoire einfügt und gekonnt in den Ganes-Stil eingepaßt wurde, welcher in einigen Songs um Orchesterparts des Deutschen Filmorchesters Babelsberg bereichert wurde. Das wäre zwar nicht zwingend nötig gewesen, aber es stört auch nicht prinzipiell, wenngleich nicht in jedem Song ein entscheidend neuer Eindruck gewonnen werden kann. Aber das Material funktioniert auch so, was der oben genannten Hoffnung, die "Mai Guai"-Songs würden vielleicht doch noch den einen oder anderen Liveknaller hervorbringen, neue Nahrung gibt. Und wenn in "Motivaziun" das Orchester große Klanglandschaften malt, ergibt sich dann doch noch ein gewisser Mehrwert gegenüber der Studiofassung. Ob es das Livealbum auch getrennt zu erwerben gibt, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten; in der vorliegenden Kombination jedenfalls macht es deutlich mehr Hörspaß als das eigentliche Hauptalbum. Um für letzteres mal wieder ein Bild aus dem Review zum Debütalbum zu adaptieren: Diesmal liegt man neben Elisabeth auf der Blumenwiese an der Fanesalm ein gutes Stück näher an der Limojochstraße, von der immer mal Staubwolken oder gar Steine herübergeflogen kommen.
Kontakt: www.ganes-music.com, www.blankomusik.de

Tracklist:
CD 1:
Au Au
Mai Guai
Anima
Maestra
Bun Sciöch'al É
Recordete
Gunela
Vire
Vijin
Ma Pur Te
Mai Odü

CD 2:
Intro
Jora
Motivaziun
Tristėza É
Bel'indô
Olâ Est'Pa
Da Sora
Chissà
En Pü'd'amur
Lüna
Redemption Song
Ma Pur Te
Dorm Saurì
 




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