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GANES: Rai De Sorëdl
von rls

GANES: Rai De Sorëdl   (Lawine/Sony)

Erster Gedankengang im Rezensentenhirn: Sind die gängigen Alpenorte bzw. -täler bandnamentechnisch mittlerweile so weit abgegrast, daß man auf kleine Nebenbäche ausweichen muß? Zweiter Gedankengang: Halt, stop - Verknüpfungsfehler. Der kleine Bach nordwestlich von Cortina d'Ampezzo in den Dolomiten heißt nicht Ganes, sondern Fanes. Paradoxerweise führt die falsche Verknüpfung aber doch auf den richtigen Weg. Geht man nämlich das Tal des Fanesbaches aufwärts zur Fanesalm und weiter nach Norden über das Limojoch, so gelangt man über das Antoniusjoch im Kreuzkofelkamm zwischen dem Neuner und der Antonispitze auf Weg Nr. 13 nach Wengen/La Valle/La Val, und das ist der Heimatort von Maria Moling und der Schwestern Elisabeth und Marlene Schuen, die sich unter dem Namen Ganes zusammengetan haben und mit "Rai De Sorëdl" ihr Debütalbum vorlegen. Wem die Namen bekannt vorkommen: Jawohl, man kennt alle drei aus der Begleitband Hubert von Goiserns, mit dem sie im Rahmen der "Linz Europa Tour" unterwegs waren und auch das Album "S'Nix" eingespielt haben. Die "Linz Europa Tour" fand bekanntlich mit einem Schiff statt, das Hubert und seine Mitmusiker auf der Donau und anderen europäischen Gewässern vom Schwarzen Meer bis zur Nordsee führte, und die Zeit, die die drei Musikerinnen während der Schiffsreise hatten, nutzten sie, um die ersten Songideen für das zusammenzutragen, was nun als ihr Debütalbum vorliegt, ergänzt noch in mehreren Sessions mit unterschiedlichen Partnern. Aus der Goisern-Band fehlt eigentlich nur Gitarrist Severin Trogbacher, seine Stelle nehmen Kilian Reischl, Titus Vollmer und in vier Songs HvG höchstselbst ein. Eine nicht zu unterschätzende tragende Rolle spielt Keyboarder David Lackner, der auch zu einer der Livebesetzungen von Ganes gehört (es gibt mehrere Inkarnationen vom Akustiktrio bis hin zur vollen Bandbesetzung) und dessen Vorlieben für "historische" Keyboardsounds, nicht selten auch stilecht auf "historischen" Instrumenten eingespielt, wie schon in den letzten Goisern-Produktionen so auch hier deutlich durchzuhören sind. Den Gesang teilen sich die drei Hauptprotagonistinnen, und es ist aufgrund gewisser Ähnlichkeiten in der Stimmfärbung mitunter gar nicht so leicht zu entscheiden, wer hier jeweils singt (wenn man nicht das Booklet zu Rate zieht, wo die Leadaufteilung festgehalten ist). Interessant ist beim Gesang allerdings nicht nur die Frage des Wer, sondern auch die des Wie, und die bezieht sich weniger auf Komponenten der Stimmfärbung oder der Technik, sondern auf die Sprache. Dem Leser wird oben die dreifache Benennung des Heimatortes der Sängerinnen aufgefallen sein. Das liegt darin begründet, daß sich der betreffende Ort in Südtirol befindet (also prinzipiell erstmal aus historischen Gründen ein zweisprachiges System unterlegt hat, nämlich Deutsch und Italienisch) und dort wiederum zum ladinischen Sprachgebiet gehört (das ist die dritte Ortsbezeichnung). Ladinisch ist mit dem Rätoromanischen, wie es beispielsweise im Schweizer Kanton Graubünden noch zu finden ist, verwandt; um seine Entstehung ranken sich diverse Mythen, und die sprachwissenschaftliche Einordnung wirft noch heute die eine oder andere ungelöste Frage auf. Im bis vor kurzer Zeit noch relativ schwer zugänglichen Gadertal, zu dem Wengen gehört, und in etlichen Nachbartälern hat sich diese Sprache bis heute erhalten, es gibt noch ca. 30000 Sprecher, und drei davon sind die Ganes-Chefinnen, die sich nach diversen Experimenten während des Songwritings letztlich dazu entschlossen, 13 der 14 Songs konsequent in Ladinisch zu betexten - die erste populärmusikalisch ausgerichtete Platte auf Ladinisch war geboren. Der Schritt ist riskant: Viele potentielle Hörer, denen das Material rein musikalisch durchaus gefallen könnte, dürften bei einer unverständlichen Sprache von vornherein abwinken - andererseits aber sind Marlene, Elisabeth und Maria damit (mittlerweile übrigens auch polit-offiziell zu solchen ernannte) Kulturbotschafter ihrer eigenen Heimat, zu der sie eine enge Beziehung bewahrt haben, auch wenn sie heute in München, Salzburg und Klagenfurt wohnen. Dazu paßt der Bandname: Ganes sind Wassernixen der ladinischen Mythologie, meist gutartigen Charakters, aber auch zu Streichen aufgelegt, von denen die Musikerinnen live gern zu erzählen pflegen (O-Ton: "Ganes zeigen sich oftmals als hübsche junge Frauen, die bisweilen auch einen Menschen heiraten, aber am Morgen nach der Hochzeit wieder verschwunden sind. Deswegen haben sie die Füße nach hinten, damit sie unauffälliger weglaufen können ... Warum das bei uns nicht so ist? Ja, wir haben uns umoperieren lassen ..."). Die Songs auf dem Debütalbum sind nur als "Basisversionen" zu verstehen, die live dann je nach Gegebenheit unterschiedlich interpretiert werden; in der Konservenfassung kann man sie am ehesten ins Genre des Italopop stecken, allerdings ohne den Hang zur großen Geste oder gar zur Schwülstigkeit, den andere Protagonisten dieses Genres bisweilen aufzutischen pflegen. Da spiegelt sich dann doch die Bodenständigkeit des Gebirgsbewohners wider. Mit der offenen strukturellen Herangehensweise entsprechen sie derjenigen Hubert von Goiserns, der sich in "Olâ Est'Pa?" mit Elisabeth die Leadvocals teilt und sich dieser ungewohnten Aufgabe (für ihn ist das Ladinische ja auch eine Fremdsprache wie für x Milliarden weitere Menschen ebenfalls) gekonnt entledigt. Was dem Album freilich nahezu komplett abgeht, ist der Rockfaktor, der im Goisern-Schaffen der letzten Jahre einen gewissen Raum eingenommen hatte, und generell neigt man fast dazu, der Hörstunde etwas zuviel Unauffälligkeit im musikalischen Sinne zu attestieren, obwohl man beim häufigeren Hören doch immer wieder auf interessante Details stößt. Aber um mal wieder in die Herkunftsregion zurückzukehren: "Rai De Sorëdl" entspricht trotz einer gewissen Stimmungsvielfalt ungefähr der Vorstellung, neben Elisabeth an einem warmen Sommertag auf einer blumenbestandenen Wiese an der Fanesalm, ein Stück abseits der staubigen Limojochstraße, zu liegen (die Grillen in "Lüna" helfen dabei durchaus und der kuschelige Closer "Dorm Sauri", übersetzt "Schlaf gut", noch viel mehr, nicht nur aufgrund seiner zwischenzeitlichen Anklänge an Goiserns "Auseinandertreiben"), hält aber wenig bis nichts für die Vorstellung bereit, gemeinsam mit ihr vom Heiligkreuzhospiz über die Kreuzkofelscharte auf den Heiligkreuzkofel und den Zehner zu steigen. Vielleicht kommt das ja dann auf dem zweiten Album zum Tragen; bis dahin besorgen sich Goisern-Anhänger, Italopopper, Sprachforscher und Blumenwiesenkinder "Rai De Sorëdl" (übersetzt "Sonnenstrahl") und/oder gehen auf ein Konzert der ladinischen Wassernixen.
Kontakt: www.ganes-music.com

Tracklist:
Motivaziun
Bel'indô
Jora
Barcaurela
Da Sóra
Ci Morvöia
Chissà
Nia L'dërt
En Pü'd'amur
Tristëza É
Olâ Est'Pa?
Lüna
Bel Müs
Dorm Sauri
 




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