www.Crossover-agm.de 44 LENINGRAD: 20 Jahre
von rls

44 LENINGRAD: 20 Jahre   (Buschfunk)

1990 herrschte in der noch existierenden DDR die Strategie vor, sich von der oktroyierten Beziehung zum Großen Bruder im Osten, der selbst mit Auflösungserscheinungen kämpfenden Sowjetunion, zu lösen und sein Denken konsequent nach dem golden schimmernden Westen auszurichten. Gerade in diesem Jahr eine Band zu gründen, die sich der modernisierten Interpretation russischen Liedguts verschrieb, erforderte Mut und Durchhaltevermögen spätestens bis zum Anrollen der ersten Ostalgiewelle, also zu einer Zeit, als "Wladimir Kaminer" und "Russendisko" noch Fremdworte waren. Aber 44 Leningrad standen mit ihrer Strategie mehr oder weniger allein da und erwiesen sich zudem als äußerst spielstarke Liveband, so daß sie sich schnell einen stabilen Status erspielen konnten und, als die Nische "Russendisko" von immer mehr Bands besetzt, in gewissen Trendzeiten gar überflutet wurde, beruhigt die Position von Gottvatis dieser Richtung für sich reklamieren konnten. Da schadeten nicht mal mehrjährige Abstände zwischen den Tonträger-Releases - 44 Leningrad waren in erster Linie eine schweißtreibende Liveband, und das sind sie auch heute noch. Drei Jahre nach "Don Kilianov" blicken die Potsdamer nunmehr auf 20 Jahre Bandexistenz zurück und tun das mit einer Best-Of-CD in einem edlen Hardcover-Einband. 18 Songs bilden quasi die gesamte Schaffenszeit der Band ab, wobei das erwähnte "Don Kilianov" erstaunlicherweise nur zwei Tracks beisteuern darf, und "O Rus Moja" und "Morjak" sind noch nicht mal die stärksten Exempel, die man hätte auswählen können. Erstgenannter Track findet sich dafür gleich in zwei Fassungen auf der Jubiläums-CD, neben der flotten Speedfolk-Version von "Don Kilianov" noch in einer atmosphärischen, immer mehr Spannung auftürmenden Version, die in der Gesamtbetrachtung fast die Wirkung eines Intros entfaltet und darin richtig gut ist. Ansonsten halten viele der Umsetzungen das Tempo weit oben, aber 44 Leningrad wissen natürlich, daß es der Abwechslung bedarf, und sie überzeugen auch in anderen Tempobereichen. Gleich der Opener "Russkaja Wodka" beispielsweise ist eine große Midtempohymne geworden, der den im Intro von einer russischen Nachrichtensprecherin versprochenen Hörspaß zwar auch schon zu bereiten in der Lage ist, aber das Tanzbein zumindest im heimischen Wohnzimmer noch etwas verhaltener zucken läßt. "Natascha" wiederum, das zu Fortpflanzungsaktivitäten mit der Titelheldin auffordert und eine witzige Form der Selbstzensur des F-Wortes enthält, erfordert genaue Kenntnis der Studiofassung, um live alle Beschleunigungen und Abstoppungen ordnungsgemäß ins Tanzbein übertragen zu können. Das Bestreben 44 Leningrads war es offensichtlich, auf der vorliegenden CD rein stilistisch ein sehr breites Spektrum abzubilden. Das sakrale "Kompanija Wladimira Sa Stolom" steht also unmittelbar neben "Gorod", das durch ein heftiges Gitarrenriff eingeleitet wird und sich letztlich in flottem Folkpunk ergeht, der mit den technischen Limitierungen des Punk kokettiert (höre das Hauptsolo!), aber trotzdem oder auch deswegen viel Spaß macht. Mit "Rossija" kratzen 44 Leningrad gar am Metal, brechen diesen aber gleich wieder ironisch auf, indem sie ohne Vorwarnung im Mittelteil mal eben "Kalinka" intonieren. Bei der Auswahl der umzusetzenden Stücke kannten 44 Leningrad keine Berührungsängste, wie "Warschawjanka" deutlich macht, das man in der Originalversion heutzutage sonst nur noch auf Zusammenkünften Ewiggestriger hört. Als Hauptsolo schalten die Potsdamer hier übrigens mal eben Chatschaturjans "Säbeltanz" ein, und man höre mal genau hin, wie der Drummer nach hinten heraus scheinbar immer schneller wird! Das alte italienische Partisanenlied "Bella Ciao" wiederum bekommt "Nightwish auf Punk"-Züge und als Solo eine stimmungsmäßig etwas veränderte Instrumentalfassung von "Unsterbliche Opfer" verpaßt, und mit "Wospominanije" ist auch eine große melancholische Ballade an Bord. Da sich die Auswahl der Stücke wie erwähnt über die ganzen 20 Jahre Bandexistenz zieht, muß man verschiedene Besetzungen einkalkulieren, was besonders beim Leadgesang auffällt, wo das opereske Element mit einer der beiden Jules von Bord gegangen ist, während der Laie nicht wirklich heraushört, daß die Combo in den 17 Songs (das Intro nicht mitgezählt) insgesamt sieben Schlagzeuger beschäftigt. Mehr Details aus der Bandgeschichte erfährt man im Booklet (dort vor allem anhand der Fotos, während der Haupttext von Velten Schäfer poetischer an die Sache herangeht, aber dafür noch so Randdetails auffährt wie die Zahl der gespielten Konzerte, die interessanterweise mit der Zahl der verdrückten Liter Wodka übereinstimmt) oder im Film "Eine Reise mit 44 Leningrad", der den audiovisuellen Teil der CD darstellt. Die 7:34 min des Films sind nämlich dahingehend historisch, als die dortigen Geschehnisse die Besetzung mit Trompete beinhalten. Zu sehen gibt's eine Konzertanfahrt samt Jamsession im Stau, einen Livemitschnitt von "Elektrischka", die Rückfahrt sowie eine weitere Jamsession, diesmal hinter Getränkeflschen hier nicht zu nennender Marken. Ob sich im Audioteil der CD irgendwelche Raritäten oder unveröffentlichten Songs befinden, muß derjenige Mensch herausfinden, der im Gegensatz zum Rezensenten das aus acht Tonträgern bestehende Gesamtwerk vollständig im Schrank stehen hat (das Booklet zeigt u.a. das Cover der Debüt-MC "Greetings From Cold Omsk", das den Ackerbürger-Charakter auch russischer Großstädte perfekt illustriert); die Frage, ob man sich diese Best Of zulegen sollte, kann daher nur eingeschränkt beantwortet werden. Zum Hineinschnuppern ins Werk der Band um Ullli und Theodor Dietmarjewitsch ist sie allerdings bestens geeignet, wenngleich ein Konzertbesuch zum Antesten vielleicht die noch bessere Strategie darstellt ("Rodina" ist übrigens als Liveversion auf der CD vertreten, aber einen Konzertbesuch ersetzen kann es nicht, sondern nur eine Ahnung vermitteln - übrigens wird hier als Outro ein amerikanisches Volkslied eingeflochten, in dem die Familie Ramone von einer gewissen Sheena berichtet). Wer 44 Leningrad noch nicht kennt, aber die Leningrad Cowboys schätzt, wird in "Lei Lei Sa Kuschetkoi" (übersetzt "Lei Lei hinterm Sofa") übrigens ein ihm bekanntes Thema vorfinden. Neugierig? Selber rausfinden!
Kontakt: www.44leningrad.net, www.buschfunk.com

Tracklist:
Radioansage
Russkaja Wodka
Rossija
Natascha
O Rus Moja
O Rus Moja
Kompanija Wladimira Sa Stolom
Gorod
Warschawjanka
Wospominanije
Lei Lei Sa Kuschetkoi
Anastasija
Sascha
Morjak
Kasak
Rodina
Bella Ciao
Odinotschestwo
Video: Eine Reise mit 44 Leningrad



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