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von rls

DESPAIRATION: A Requiem In Winter's Hue   (My Kingdom Music)

Jawoll, Despairation gehen zurück zu ihren Power-/Speed-Wurzeln vom Debüt "Winter 1945"! Das schreit einem jedenfalls der schleifende Gitarrenlauf von Martin F. Jungkunz in den ersten drei Sekunden von "Kiss Of Ashes" entgegen, bevor man ab der vierten Sekunde gewahr wird, daß einem hier ein Streich gespielt wurde, über den man allerdings herzlich lachen kann, denn erstens spiegelt er die diffuse Erwartungshaltung des auch mit der frühen Bandvergangenheit vertrauten Hörers wider, und zweitens entspinnt sich statt eines Powerkrachers ein fröhlicher (!) Melodic Rock-Track, der so gar nichts von der Stilschublade "Melancholic Rock" wissen möchte, welche Band und Label aufmachen - und, wie die weiteren zehn Songs offenbaren, zu Recht, denn da ist's aus mit der Fröhlichkeit, und Despairation plazieren sich geschickt auf der Gratschneide zwischen Melodic Rock, Progrock und Gothic Rock, die ihren höchsten Gipfel an letztgenannter Position trägt. Der Quasi-Titeltrack "A Lovelorn Requiem" macht schön deutlich, wie man diese drei Stilrichtungen unter einen Hut bekommt, ohne die Experimentierfreude in immense Höhen treiben zu müssen - dafür sorgen dann wieder andere Songs wie "Musique De La Décadence", seinem französischen Titel durch akkordeonartige Keyboards und eine Leadgitarre, die klingt, als ob sie durch einen dicken französischen Käse hindurchschneiden müßte, entsprechend und dem gemeinen Rockhörer möglicherweise etwas säuerlich aufstoßend, wenngleich es bei objektiver Herangehensweise dafür sicherlich keinen Grund gibt (der Refrain wird übrigens keineswegs in Französisch, sondern in der englischen Entsprechung vorgetragen). Überhaupt verlangt die knappe Stunde eine intensive Beschäftigung - als Hintergrundmusik ist "A Requiem In Winter's Hue" kaum geeignet und beginnt in diesem Kontext schnell zu langweilen (Selbstversuch ist erfolgt), während ein hingebungsvolles Lauschen durchaus reich belohnt wird, wenngleich je nach stilistischer Vorliebe des Hörers auch dann noch genügend Stolpersteine warten. Der den Drumcomputer nicht sonderlich liebende Rezensent notiert auf der Habenseite, daß wie schon beim Livegig anno 2005 auch auf der Tonkonserve ein leibhaftiger Schlagzeuger vorhanden ist, der Anteil mehr oder weniger kraftlos zischelnder Loops, unter den Gotikern ja nicht eben niedrig, sich hier also im eher marginalen Bereich bewegt und die elektronischen Rhythmuselemente, wenn sie denn mal zum Einsatz kommen, diesen meist durch spezielle Wirkungen rechtfertigen können, so etwa in "Farewell In Blue", dessen ausgedehnter instrumentaler Schlußteil von der Kombination aus Livedrums, einem düsteren Loop und einer extrem warmen Hammondteppichuntermalung lebt, zu der die vorhergegangenen Parts des Songs mit der Einzelvorstellung der Elemente schrittweise hingeführt haben. Diese organische Einbindung gelingt der Band allerdings nicht durchgängig - in "Letters From A Coffin", aufgepeppt noch durch Gastcellistin Judith Meyer und die fettesten Gitarrenriffs der ganzen Platte, stehen Livedrums und Loops nicht selten mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu bedingen, was die letzteren im Prinzip überflüssig macht. Zu solchen Einschätzungen kommt man dankbarerweise aber nur an wenigen Stellen; streiten hingegen kann man über die Neuaufnahme der Ballade "The Shallow Sea". Deren Originalversion von "Winter 1945" gehört atmosphärisch wie emotional immer noch zum Besten, Ergreifendsten, was auf diesem Sektor jemals produziert worden ist. 2005 hatten Despairation eine umarrangierte und noch durch Akustikgitarren erweiterte Fassung live gespielt (das Original beschränkt sich auf Klavier und Gesang), die vom einmaligen Hören her zweifellos interessant war, aber noch keinen Rückschluß auf die Qualitäten einer damals noch nicht absehbaren neuen Studiofassung zuließ. Letztgenannte liegt nun vor und stürzt den Rezensenten in ein Wechselbad: Sie ist gut, sehr gut vielleicht sogar - aber sie berührt ihn nicht so wie damals die Erstfassung. Rational begründen kann man das nicht, rein stilistisch fügt sie sich sogar besser ein als die Erstfassung in den mal donnernden, mal verspielten Powerspeed des Debütalbums - aber der emotionale Kick, der aus einem guten Song ein eternales Meisterwerk zaubert, der fehlt hier und ist paradoxerweise im Piano-/Gesang-Outro "Inner Peace" stärker spürbar, wenngleich auch hier das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht zu sein scheint (viel fehlt allerdings nicht - vielleicht wandelt sich diese Einschätzung nach den nächsten 18 Hördurchläufen auch noch, und "Inner Peace" wird plötzlich zum neuen "The Shallow Sea" im Hirn des Rezensenten). Dafür hätten einige andere Refrains durchaus das Zeug, zu Meisterwerken ernannt zu werden, etwa der von "Cathartic Revelation", aber da fehlt's dann wieder am Drumherum, und das ist auch einer der Songs, wo das Loopgeklapper gleich im Intro den Rockfreund eher verstört als in den Song hineinsaugt - das passiert erst später, wenn man nämlich bis zum ersten Refrain vorgedrungen ist. Auf die Dauer wirkt sich auch das gleichförmige Tempo vieler Songs problematisch aus - zwar passiert in den Songs immer noch genug, um die Aufmerksamkeit des Hörers nicht erlahmen zu lassen, aber man sehnt sich zumindest hier und da doch mal nach einem wie auch immer gearteten Ausbruch. Andererseits erlangt "A Requiem In Winter's Hue" dadurch eine Kompaktheit, die eine fröhlich-springende Einlage auf der Beerdigung (das Abschiedsmotiv kreist durchs ganze Album), vom Opener mal abgesehen, unnötig macht. Daß die beteiligten vier Herren ihr musikalisches Handwerk verstehen, ist nicht erst seit gestern bekannt (das Kerntrio musiziert immerhin schon seit dem letzten Jahrtausend gemeinsam) und auch in den neuen elf Songs stets deutlich zu vernehmen, ohne daß sie das aber explizit herausstellen müßten. Gesanglich trifft die Einschätzung vom Livegig, daß Sascha sowohl die ganz hohen als auch die ganz tiefen Töne gekappt hat und sich dafür in der Mitte breit macht, auch aufs drei Jahre später erschienene Album zu - wenn dem Rezensenten jetzt noch einfiele, an wen ihn der rauhe Gesang in "Lucid Lullaby" kurz vor Minute 5 erinnert ... In der Gesamtbetrachtung eine starke Platte, der sich der Gothic Rock-Anhänger definitiv, der Melodic- und Progrockanhänger zumindest testhalber mit offenem Herzen nähern sollte.
Kontakt: www.mykingdommusic.net, www.despairation.com

Tracklist:
Kiss Of Ashes
A Lovelorn Requiem
The One Who Ceased To Breathe
Musique De La Décadence
Farewell In Blue
The Shallow Sea
Letters From A Coffin
Cathartic Revelation
Humanity As A Child
Lucid Lullaby
Inner Peace

 




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