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Despairation, The Ancient Gallery, Expretus   10.06.2005   Chemnitz, ZV-Bunker
von rls

Eine gewisse Verzögerung beim wie meist um 21 Uhr verbrieften Konzertbeginn ist man im ZV-Bunker ja gewöhnt, und so bereitete es dem Rezensenten zunächst keine explizite Seelenpein, daß er wieder mal nicht pünktlich sein Büro verließ und erst um 21.45 Uhr vor Ort aufschlug - nur um festzustellen, daß man dort noch lange nicht an einen Beginn dachte. Erst als sich die Uhr schon gegen 23 Uhr (!) hin bewegte und abzusehen war, daß sich das mächtige Häuflein im Auditorium wohl nicht mehr entscheidend vermehren würde, ging's los, und zwar mit den mir vorher völlig unbekannten Expretus. Selbige entpuppten sich zumindest optisch als eine pure Patchwork-Band, um mal einen soziologischen Begriff zu gebrauchen. Als da waren: ein Sänger vom Typus Ville Valo meets Jim Morrison, ein Gitarrist, der optisch wahlweise in eine Skandirock- oder in eine Britpopband gepaßt hätte, ein Gitarrist/Bassist mit metallischer Optik und Obituary-Shirt, ein Keyboarder, wie man ihn auch auf der Love Parade hätte einfangen können, und ein zweiter Keyboarder, der wie der Normalodüstermetaller von nebenan aussah. Wäre die Musik auch nur halb so interessant ausgefallen wie diese optische Kombination, hätten wir hier ein kleines Highlight begrüßen dürfen, aber in der gebotenen Form war der elektronisch angehauchte Gothic Rock (man vergegenwärtige sich, daß die genannte Besetzung keinen Schlagzeuger beinhaltet) noch nicht so ganz das Gelbe vom Ei, zumal anhand des etwas verwaschenen Soundgewandes auch die akustische Durchdringbarkeit etwas zu wünschen übrig ließ. Ob die Band für das Gebotene nun unbedingt zwei Keyboarder braucht, sei ebenfalls dahingestellt (der zweite spielte, wenn ich richtig hingeschaut habe, auch noch auf einem doppelmanualigen) - das, was akustisch zu vernehmen war, hätte jedenfalls auch einer alleine hinbekommen, zumal die Drums nicht mal in den Keys erzeugt, sondern durch einen zusätzlichen Rechner gesteuert wurden. Man sollte allerdings die positiven Ansätze, die der Band durchaus gute Entwicklungschancen einräumen können, nicht außer acht lassen. Das Experiment, in "Sunday" ganz ohne Gitarren zu arbeiten, an Saiteninstrumenten nur den Baß zu nutzen, präsentierte sich (nicht nur, aber sicher auch wegen der besseren Durchhörbarkeit) als gelungen, der Sänger durchlitt die Songs durchaus kompetent, und das überlange Songmonster "No Tomorrow" steigerte sich zum Schluß in ein Inferno, wie es Grateful Dead wahrscheinlich auch nicht besser hätten inszenieren können. Von dieser Sorte bitte das nächste Mal etwas mehr und dafür etwas weniger Rhythmusgezischel der Marke "Computerflatulenz".
The Ancient Gallery hatten deutlich mehr Platz auf der Bühne als Expretus, denn ein Keyboard samt Planstelle wurde wegrationalisiert. Das nutzte besonders der Bassist aus, der sich wie ein wildes Rock'n'Roll-Tier gebärdete, und auch der Sänger (barfuß, mit freiem Oberkörper und in einer Art Kilt) lieferte eine intensive Performance ab, was die Optik anging, wohingegen mir sein pathetischer Gesang nur phasenweise zusagte. Auch The Ancient Gallery holten ihre Drums aus der Konserve, legten härteseitig im Vergleich zu Expretus aber noch eins drauf und kamen irgendwo in der Grauzone zwischen Nu Metal und mittelalterlastigeren NDH-Vertretern zum Stehen; auch bedienten sie sich durchaus geschickt der deutschen Sprache. Leider soll dies aber auch schon das Spannendste bleiben, was von ihrem Gig zu berichten wäre - zu monoton gestaltete sich das Songmaterial, nicht mal ein etwas schnellerer punklastiger Track wirkte aphrodisiakal, und nach den ersten sechs, sieben Songs schien hier musikalisch irgendwie alles gesagt zu sein, weshalb der Rezensent seinem etwas angeschlagenen Gesundheitszustand Tribut zollte und sich im Auto 30 Minuten Schlaf gönnte.
Kurz vor Ende der Geisterstunde betrat ich die Lokalität wieder - gerade zur rechten Zeit, denn Despairation spielten justament ihr improvisiertes Intro. Ein Blick zur Bühne offenbarte die aufgerüstete Fünferbesetzung der Band, die auch das bereits bei den beiden anderen Bands auf der Bühne stehende, aber ungenutzte Drumkit in Beschlag nahm. Der Neuzugang an den Drums (jahrelang hatten auch Despairation bzw. ihre frühere Namensinkarnation Desperation einen elektronischen Taktgeber beschäftigt) machte dann auch gleich den Unterschied deutlich: Selbst wenn er loopähnliche Figuren spielte oder eher Geräusch- als Rhythmuserzeuger war, wirkte sein Spiel immer noch bedeutend lebendiger, auch wärmer und damit vertrauenerweckender als die Elektrodrums bei Expretus und The Ancient Gallery. Und Improvisationen, wie sie Despairation mittlerweile als musikalisches Umsetzungsmittel entdeckt zu haben scheinen, machen mit einem Drumcomputer auch nur halb soviel Spaß. Die Band präsentierte sich jedenfalls in guter Spiellaune, auch wenn nicht jedes Gitarrensolo so erklang wie geplant. Den einen oder anderen Stilwechsel ist man ja aus der Vergangenheit gewöhnt, trotzdem machte der Set (Liste siehe unten) einen durchaus homogenen Eindruck in der Grauzone zwischen Siebziger-Rock, Jazz und Gothic. Mit dem Erklingen der Power/Speed-Songs vom Fulltimedebüt "Winter 1945" dürfte keiner der Anwesenden ernstlich gerechnet haben (sofern es außer dem Rezensenten überhaupt noch jemanden im Auditorium gab, der dieses Meisterwerk - ja, zu dieser Einschätzung stehe ich immer noch - kennt), aber auf "The Shallow Sea" hatte ich im stillen doch gehofft, und tatsächlich plazierte die Band diese phantastische Ballade fast zentral in der Setmitte, wenn auch in einem gegenüber der reinen Piano-plus-Gesang-Version der CD noch durch zartes Saitenspiel erweiterten Arrangement. Dieses Stück sollte auch das einzige bleiben, in dem Sänger Sascha seine ganz tiefe dunkle Stimme hervorkramte (die Passage "A place where's silence all around ..." gehört immer noch zu den emotionalsten Momenten der jüngeren Musikgeschichte), während er sich ansonsten eher in normalen Lagen aufhielt, die leicht an Warrel Dane erinnernden gepreßten Höhen also auch weitgehend außen vor ließ. Die hätten zum Material der drei neueren Alben (von denen das aktuelle den Namen "Music For The Night" trägt, was angesichts der Zeit - der Gig endete irgendwann gegen 2.15 Uhr - ungewollt programmatische Züge beinhaltete) auch nicht so richtig gepaßt. In "The Electric Shaman" bastelte die Band eine endlos scheinende (und trotzdem hervorragende!) Improvisation ein, wie man sie auch von Bands wie Uriah Heep oder Deep Purple kennt und schätzt, und als der Rezensent letztlich um 4.10 Uhr ins Bett fiel, da sangen passend zum ebenfalls in der Setlist befindlich gewesenen "Song Of The Nightingale" draußen auch schon wieder die ersten Vögel (wenngleich es keine Nachtigallen waren).
Setlist Despairation:
1. Intro-Improvisation
2. River Of Perdition
3. Cosmic Trigger
4. Dancing Into The Apocalyptic Sun
5. Drift
6. Magic Caravan
7. The Shallow Sea
8. Asteroid YB5
9. Blue Haven
10. Cygnet
11. Song Of The Nightingale
12. Electric Shaman

13. Anaesthesia



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