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Wolfgang Kabus (Hrsg.): Popularmusik und Kirche. Geistreiche Klänge - Sinnliche Orte
von rls anno 2009

Wolfgang Kabus (Hrsg.): Popularmusik und Kirche. Geistreiche Klänge - Sinnliche Orte

Der vierwortige Untertitel des Buches markierte zugleich das zentrale Thema des Vierten interdisziplinären Forums "Popularmusik und Kirche" anno 2007 in Hildesheim, und das Buch stellt nun so etwas wie einen Tagungsband des Forums dar, nicht deckungsgleich, aber doch in der Grundstruktur angelehnt und die meisten Beiträge des Forums versammelnd bzw. diese noch ergänzend. Interessant ist zunächst der Forumstitel an sich. Zum einen wäre er in der umgekehrten Adjektiv-Substantiv-Konstruktion leichter deutbar, zum anderen begibt sich seine erste Hälfte in gefährliche wie reizvolle Nähe des im Buch nur an einer Stelle vorkommenden und dort in den verdienten Schatten gestellten fundamentalchristlichen Streitschrifttums, das den Geist (in diesem Falle den Heiligen) nur an ganz bestimmte Klänge ankoppeln möchte. Popularmusik wird von diesen Kreisen gemeiniglich nicht dazu gezählt, wenngleich man auch an dieser Stelle gleich einhaken muß und auf die Definitionsunterschiede der Termini Popmusik und Popularmusik hinzuweisen genötigt ist (letztgenannte umfaßt beispielsweise auch Industrial, Death Metal und ähnliche Sorten eher nischenorientierter Musik, die man kaum unter das immer eine mitschwingende musikstilistische Komponente aufweisende Konstrukt "Popmusik" fassen kann respektive möchte).
Genug der Vorrede; was ist drin im Buch? Gehen wir am besten der Reihe nach durch: Zur Themeneinführung durch Thomas Feist muß man sicherlich nichts weiter sagen, vom kleinen Einwurf bezüglich der Aussage, das Gegenteil von "geistreich" sei "geistlos" und nicht "geistarm", abgesehen - im weiteren Verlauf des Buches findet sich nämlich sehr wohl auch die "geistarm"-Konstruktion. Also gleich weiter zu Holger Schulze, der sich mit vier verschiedenen Komponenten des Raumes in bezug auf den Klang befaßt und seinen Beitrag mit der Einführung des Terminus der Hörsamkeit kulminieren läßt, was bei genauerem Nachdenken exakt mit dem Untertitel seines Beitrages korrespondiert: "Zur Wiederentdeckung einer mutmaßlichen Selbstverständlichkeit". Hörsamkeit bezeichnet die Eignung eines Raumes für eine bestimmte Form von Beschallung, und daß diese Selbstverständlichkeit eben nur eine mutmaßliche ist, bekommt der häufige Konzertgänger leider immer wieder um die Ohren gehauen, wenn er etwa im Zwickauer Gasometer einen undurchhörbaren Soundbrei vorgesetzt bekommt oder selbst im Leipziger Gewandhaus, dessen kristallklarer Sound eines unverstärkten Orchesters zweifellos zur Weltspitze zu zählen ist, plötzlich feststellt, daß ein Konzert mit Verstärkung zum Durchhörproblem wird. Schulze behandelt aber noch weitere interessante Phänomene, etwa wie das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Musik auch die Arbeit mit dem Raum während des Aufnahmeprozesses quasi auf den Kopf gestellt hat. Lesenswert!
Tatjana Böhme-Mehner wählte den etwas sperrig anmutenden Titel "Musik im Raum - Räume in Musik: Begrenzung, Entgrenzung, Rahmen" für ihren Beitrag, der den stark theoretisierenden Inhalt schon erahnen läßt, wozu noch der Fakt tritt, daß der Beitrag so häufig betont, was er nicht leisten kann oder will, daß es schon fast zum Running Gag wird. Wer aber im vorliegenden Kontext schon immer etwas Systemtheorie für die Rahmung haben wollte und sehnlich auf den Namen Niklas Luhmann gewartet hat, der wird hier fündig. Letztlich landen wir dann beim französischen Radio, bei Pierre Schaeffer, der akusmatischen Musik (die nur mit bestimmten Lautsprecheranordnungen zu reproduzieren ist) und der musique concréte. Auf dem Weg dahin gewinnen wir aber immerhin zwei Erkenntnisse, die so wichtig sind, daß sie hier zitiert werden sollen, zumal sie sich trefflich auch in anderen Kontexten anwenden lassen. Die erste stammt aus der Systemtheorie:
"Im Sinne Luhmanns ist Kunst Kunst, weil sie im Kunstsystem mit Hilfe des dort geläufigen Codes als solche kommuniziert wird. Hört man also beispielsweise ohne Ankündigung, die das Ganze als im Kunstsystem zu Kommunizierendes prädeterminiert, auf einer Müllhalde den Dialog zwischen einem dort zu Werke gehenden Bagger und einem beim Entsorgen versehentlich eingeschalteten Radio, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies als Musik wahrgenommen wird, erheblich geringer als bei dem Wechselspiel einer Kettensäge und vierer Lautsprecher im Konzertsaal."
Die zweite wurde im Jahre 1927, also in der Embryonalphase des Rundfunks als revolutionäres Medium, niedergeschrieben und erfindet u.a. faktisch den Terminus der Klangtapete:
"Endlich gestattet der Lautsprecher unendlich viel mehr verschiedene Arten des Musikgenusses als das Konzert. Wer mehrere gleichzeitige Zerstreuungen liebt, kann dabei lesen, rauchen, sich unterhalten, umhergehen. Wer die reine Konzentration auf Musik vorzieht, wird nicht durch Nachbarn und die tausend unangenehmen Beigaben des Konzertsaals gestört. Er hört nichts als den abstrakten, gleichsam vom Himmel dahergewehten Klang. Das Podium mit all seinen Nachteilen ist unsichtbar geworden. Kein Grimassieren des Spielers, kein Virtuosenmätzchen stört. Fräulein Y. kann häßlich sein wie die Nacht; wir hören nur ihre schöne Stimme."
Jens Seipolt hält in "Raum für Klänge schaffen. Musik in der Kirche - Musik für die Kirche" ein flammendes Plädoyer für eine Verhaltensweise, die in der freien Wirtschaft seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten gängig ist, aber in Kirchenkreisen tatsächlich bisher nur punktuelle Verbreitung gefunden hat: die Zielgruppenorientierung. Damit meint er nicht eine zwanghafte Monostilisierung oder gar Ausgrenzung, sondern argumentiert eher im Sinne des Pauluswortes "den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche" zu sein, dabei aber für die jeweils anderen Verständnis aufzubringen, ohne ihr Tun deshalb zwingend nachahmen zu müssen. Seine drei Abschlußthesen verstehen sich denn auch in diesem Kontext und sollten eigentlich in die Ausbildung von Kirchenmusikern wie Theologen aufgenommen werden.
Wem auch das bisher noch zu kopflastig vorgekommen sein sollte, der findet mit den nächsten beiden Beiträgen Ersatzfutter, denn Jochen Arnold und Wolfgang Teichmann untersuchen das Auftreten von Affekten bzw. ihren musikalischen Umsetzungen in ausgewählten Kantaten Johann Sebastian Bachs und im Jazz. Arnold legt dabei zunächst das philosophiegeschichtliche Fundament und geht dann zu Bach weiter (in dessen Zeiten verstand das Publikum halt bestimmte Sachen noch auf ganz bestimmte Weise, während die dafür notwendigen Kenntnisse später verlorengingen), während Teichmann die Affektgeladenheit des Jazz in besonderer Kombination mit der in diesem Genre verbreiteten Improvisationsfreudigkeit behandelt, wodurch die Rolle von Komponist und Interpret quasi in den identischen Moment implodiert. Einige Thesen sind dabei durchaus streitbar, etwa wenn Arnold gleich in der Einleitung Beethovens Pastorale die programmatische Aussage einer Idylle der Landbevölkerung nachsagt, womit er sich zwar im Einklang mit der älteren, aber keineswegs der neueren Musikwissenschaft befindet (und eine interessante musikalische Deutung dieser Sinfonie als Pyrrhussieg des nervösen Städters konnte man justament im Mai 2009 in der Leipziger Musikhochschule hören). Trotzdem zweifellos lesenswert.
"Aufgießen - Umrühren - Fertig! Sound als zentrale Komponente der Popmusik" hat Manfred Staiger einen weiteren Grundlagenbeitrag überschrieben, in dem er beispielsweise untersucht, welchen Einfluß Produzenten auf die Klangverhältnisse der Erzeugnisse der von ihnen betreuten Künstler ausüben bzw. ausgeübt haben. Man kennt ja das Phänomen, ein Album zu hören und anhand von Vergleichsbeispielen, die man in seinem inneren Ohr gespeichert hat, sofort zuordnen zu können, wo und unter wessen Ägide es entstanden ist, unabhängig davon, wer hier musiziert; die von Staiger gebrachten Beispiele könnte man aus den Frühneunzigern beispielsweise noch um den typischen Sound des Stockholmer Sunlight-Studios erweitern, was dazu führte, daß alle dort unter Tomas Skogsberg entstandenen Death Metal-Alben irgendwie ähnlich klangen. Zudem stellt Staiger korrekt fest, daß der Begriff "Sound" eigentlich hochgradig schwammig ist; auch wir im Journalismus gebrauchen ihn ja in unterschiedlichsten Kontexten. Seine Ausführungen untermauerte der Autor auf dem Forum mit zahlreichen Hörbeispielen, die im Buch natürlich fehlen (eine CD-Beilage wäre dann doch zu aufwendig gewesen), aber anhand einer gutsortierten Sammlung kann man zu Hause doch einiges nachvollziehen und sich vieles anderes, was man gerade nicht greifbar hat, zumindest vorstellen. Und Erkenntnisgewinn ermöglicht der Beitrag durchaus, etwa wenn der Autor feststellt, daß man in einer Kirche mit sieben Sekunden Nachhall nun mal kein Schlagzeug spielen und "vernünftig" klingen lassen kann, "auch wenn es immer wieder versucht wird". Statt dessen bietet der Nachhall ganz andere klangliche Möglichkeiten, wenngleich von eher peripherer praktischer Bedeutung: "Von einem Luftschutzbunker wurde berichtet, dass ein Bundeswehr-Posaunist bequem Dreiklänge erzeugen konnte, die dann eine halbe Minute gut hörbar im Raum standen." Auch auf das Phänomen der persönlichen musikalischen Handschrift eines Künstlers, die sich an bestimmten Soundelementen manifestiert, geht Staiger ein, wobei man seine Beispielliste auch hier noch problemlos erweitern könnte. Interessante Lektüre, in die nur die eingewobene Geschichte vom Kalif Storch nicht so richtig passen will - aber die ergibt wenigstens für sich betrachtet Sinn, und man freut sich, sie einmal wiedergelesen zu haben.
Wieder eher in der Kulturtheorie landen wir mit Thomas Feists "Sound als Raum. Einblicke in die klingende Textur unserer Zeit", in der wir u.a. etwas über die Unterschiede von Sound und Klang erfahren und die Bedeutung der Elektrifizierung der Musik, ohne die ein Gutteil des heutigen musikalischen Betriebs nicht möglich wäre und auch der Rezensent diesen Text hier nicht zur Klangtapete von Teddy Stauffer und UFO eintippen könnte, erfahren. Insgesamt gesehen ist der Text eine partielle Eindampfung des Feistschen Buches "Musik als Kulturfaktor", über das man auf diesen Seiten eine gesonderte Rezension nachlesen kann.
Bernd Adamek-Schyma eröffnet mit "Flüssiger Raum? Zugänge zu den Geographien der Musik" noch eine ganz neue Herangehensweise, leider mit einem bereits vom Anfang dieses Jahrtausends stammenden und offensichtlich auch nicht grundlegend überabeiteten Beitrag, wie man seine ganze Lektüre über schon geahnt hat und dies dann auf seiner letzten Seite auch bestätigt findet. Dabei geht es partiell um eine Zuordnung bestimmter Stilistika zu geographisch definierten Räumen (vom Philly-Sound über die Hamburger Schule bis hin zum Göteborg-Death Metal reicht die diesbezüglich mögliche Skala), verstärkt noch um die etwas anders gerichtete Frage, wie Musik bestimmte Orte beeinflußt und umgekehrt, um den Einfluß der Urbanität und der Lokationen auf die Musik - leider scheut Adamek-Schyma ein weiteres höchst interessantes Thema im Rahmen "Geographie und Musik", nämlich die Umsetzung bestimmter geographischer Strukturen in Musik (das geht ja mittlerweile so weit, daß etwa Kristian Blak die Küstenlinien bestimmter der Färöer Inseln vertont hat). Statt dessen landen wir letztlich im philosophischen und titelgebenden Konstrukt des Flüssigen Raumes sowie in einer Kritik des Internets als der ursprünglichen Idee eines Netzwerkes zuwiderlaufender Entwicklung, die sich zwar interessant liest, aber an den Realitäten dann doch scheitert.
Felix F. Falk fällt die Aufgabe zu, einige bereits in vorausgegangenen Beiträgen angesprochene Aspekte, vor allem solche aus den Beiträgen von Staiger und Feist (im letzteren Fall die elektrische, im ersteren die humane Komponente), noch einmal ausführlicher herauszuarbeiten, zusammenzufassen und mit weiterführenden Ansätzen und Beispielen zu ergänzen. Das Resultat nennt sich "Elektrisierender Sound. Das künstliche Sprachrohr der populären Musik" (wohlgemerkt: nicht "künstlerische"!) und liest sich gleichermaßen interessant wie angenehm. Freilich sollte man auch in diesem Kontext nicht die Aufmerksamkeit verlieren und die Lektoratsabteilung darauf hinweisen, wieso bestimmte Jazzklassiker auf S. 158 plötzlich mit der eigentümlichen Schreibweise "Trane" statt "Train" angeführt werden (da ist man wohl doch zu lange bei der Fußnote 82 über John Coltrane hängengeblieben ...).
Eine komplette gedankliche Kehrtwende ist schließlich bei Steffi Krapfs Beitrag "Alter Raum im neuen Sound. Praxisfeld Jugendkirche Hannover" nötig, der da ganz hinten etwas verloren steht und am ehesten hinter Seipolts Beitrag gepaßt hätte, da er ein Praxisbeispiel der musisch-kulturellen Zielgruppenorientierung im Zeitalter der Vergreisung der Gesellschaft wie der Kirche vorstellt. Und die Hannoverer Jugend nimmt dieses auf sie zugeschnittene Angebot offensichtlich auch an, wobei das Modell keinesfalls neu ist - man hat gewissermaßen einfach die Strategie beispielsweise der Jesus Freaks auf eine institutionelle Basis gestellt.
Soweit, so interessant - Thomas Feists Schlußgedanken werfen nun allerdings Probleme auf, denn so inhomogen die Tagung als solche besetzt war, so schwammig (wie der Soundbegriff) sind ihre Ergebnisse zu bewerten, und vor allem die letzte Seite mit ihrem Angriff auf scheinbar geistlose Musik reißt eigentlich diverse Gräben, die im Rahmen der Tagung zugeschüttet werden sollten oder tatsächlich worden waren, wieder auf. Gewiß, Differenzierung muß sein, aber die hier bewegt sich hart an der Grenze zur Pauschalisierung, und das haben viele der Tagungsbeiträge besser, da stimmiger und nachvollziehbarer hinbekommen. Das schmälert den prinzipiellen Wert der Tagung bzw. der Lektüre des Bandes nicht, aber die Grundhaltung "Schön, daß wir mal drüber gesprochen haben, und jetzt weiter wie bisher" schwebt irgendwie über dem ganzen, vor allem für den Praktiker wenig greifbaren Material, während der Kulturtheoretiker deutlich öfter fündig geworden sein dürfte. Ob ihm das genügt, um 39 Euro zu investieren, bleibt wie immer eine individuelle Entscheidung.

Wolfgang Kabus (Hrsg.): Popularmusik und Kirche. Geistreiche Klänge - Sinnliche Orte. Friedensauer Schriftenreihe Reihe C Musik - Kirche - Kultur, Band 11. Frankfurt/M. et al: Peter Lang 2008. ISBN 978-3.631-57721-9. 184 Seiten. 39,00 Euro.
 






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