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Thomas Feist: Musik als Kulturfaktor
von rls anno 2006

Thomas Feist: Musik als Kulturfaktor

Zwei Dinge vorweg. Erstens: Der Rezensent kennt und schätzt den Autor des Buches seit einer knappen Dekade, ist diesem freundschaftlich verbunden und arbeitet verschiedentlich auch mit ihm zusammen. Sollte der eine oder andere Leser argwöhnen, dadurch werde das kritische Urteilsvermögen des Rezensenten beeinträchtigt und somit eine Verfälschung des Rezensionsergebnisses induziert, steht es ihm frei, die Lektüre der Rezension an dieser Stelle zu beenden. Zweitens: Der Rezensent ist kein Systemtheoretiker, das Buch beschäftigt sich zu einem sehr großen Teil allerdings mit Systemtheorie (oder angewandter Systemtheorie, die man eigentlich auch Systempraxis nennen könnte); die Rezension kann also nicht beurteilen, inwieweit das Buch im systemtheoretischen Sinne stichhaltig ist, sondern diese Passagen lediglich anhand logischer Gesichtspunkte zu prüfen versuchen.
Genug der Vorrede, hinein ins Getümmel, das da erstmal mit dem völlig aussagelosen und so eigentlich irreführenden Titel vor einem liegt. Über den systemtheoretischen Ansatz des Buches verrät der nämlich gar nichts, weshalb man zur genaueren Einordnung den Rücktiteltext heranziehen muß und dort mit dem ersten Satz fündig wird: "Diese Arbeit unternimmt den Versuch, christliche Popularmusik als speziell musikwissenschaftliches Phänomen zu begreifen und ihr eine systemtheoretische Grundlage zu geben." Na also. Man könnte es auch umbasteln: Das Buch fragt, ob Christliche Popularmusik ein System ist, bejaht diese Frage und untermauert diese Bejahung mit den verschiedensten Mitteln sowohl theoretisch-erörternder Art als auch einer empirischen Studie. "System" versteht sich hier wie erwähnt im Sinne der Systemtheorie eines Talcott Parsons und besonders eines Niklas Luhmann, so daß deren Theoriegebilde im ersten Teil des Buches in der gebotenen Kürze vorgestellt werden. Damit ist auch beim systemtheoretisch nicht vorgebildeten Leser so etwas Ähnliches wie eine Grundlage vorhanden (natürlich wird man durch die Lektüre dieses Kapitels nicht automatisch zum perfekten Systemtheoretiker), und er beginnt das Grundproblem zu verstehen, dem die Arbeit nachgeht: Wohin mit der Christlichen Popularmusik im wissenschaftlichen Sinne? Damit ist nicht nur, aber auch "im musikwissenschaftlichen Sinne" gemeint, denn die Musikwissenschaft hat sich schon mit der Einbeziehung der säkularen Popularmusik schwergetan (und tut dies noch heute), kurzerhand auf den alten Adorno verweisend, der, hätte er Walter Ulbricht geheißen, sicherlich eine Formulierung der Marke "Mit der Monotonie des Yeah Yeah Yeah oder wie das alles heißt sollte man doch Schluß machen" gebraucht hätte. Dem stellt der Autor eine Analyse der acht Qualitäten von Popularmusik gegenüber (Zweiflern seien sie an dieser Stelle zumindest aufgezählt: kommunikative, soziale, kulturelle, ästhetische, religiöse, systemische, nichtsystemische und synthetische Qualität), wobei noch zu bemerken wäre, daß sich hinter dem Terminus Popularmusik eine immense Stilfülle verbirgt, man also nicht dem irrigen Glauben anhängen darf, Popularmusik und Popmusik sei das Gleiche (vom billigsten volksmusikartigen Schlager bis zur anspruchsvollsten "Jazzorientierte Death Metal-Band trifft Kammerorchester"-Kombination subsumiert der Terminus sämtliche denkbaren Zwischenstufen). Im Folgekapitel entwirft der Autor ein Theoriegebäude christlicher Popularmusik, versucht deren Abgrenzungskritierien zu definieren und auch eine Trennlinie zur "klassischen" Kirchenmusik zu ziehen. Hierbei dient ein Feldversuch als Grundlage. Einem kleinen Ausflug in Richtung Christliche Popularkultur (Kultur und all ihre Subformen seien im systemtheoretischen Sinne kein System, heißt es - das klingt zunächst unlogisch, macht aber bei genauerer Betrachtung dann doch Sinn, da es sich eher um einen Rahmen als um Inhalt handelt, um mal Systemtheorie in Normalsprache zu übersetzen) folgt der Hauptteil des Buches, nämlich die Auswertung zweier empirischer Studien von 1998/99 bzw. 2002/03, mit denen der Systemcharakter der Christlichen Popularmusik nachgewiesen werden sollte. Dementsprechend werden die Ergebnisse der einzelnen Fragen bzw. Fragenkomplexe nacheinander auf ihre systemtheoretische Nutzbarkeit abgeklopft, was letztlich das bereits eingangs erwähnte Ergebnis zeitigt, daß ein Systemcharakter der Christlichen Popularmusik vorliegt (der abschließend dann noch grafisch und mit Beziehungsuntersuchungen unter die Lupe genommen wird). Dieser Hauptteil des Buches enthält somit die größten Stärken der gesamten Untersuchung, allerdings auch ihre größten Schwächen, denn die Aufarbeitungsqualität der Ergebnisse unterliegt bisweilen Schwankungen. Gerade die Übersichtlichkeit vieler Diagramme läßt zu wünschen übrig, wenn sich Graphen überlagern oder, wie in Abbildung 7/14 auf S. 232, wohl aufgrund limitierter Ressourcen im Diagrammprogramm die gleiche Graphenform (durchgezogen, gestrichelt ...) für mehrere Graphen verwendet werden muß. Viele dieser Probleme hätten sich lösen lassen, wenn man anstelle der Liniendiagramme Kreis- oder Säulendiagramme verwendet hätte, was zudem der Aussage der Werte eher entsprochen hätte, da es sich in den meisten Fällen nicht um zeitlich fortlaufende Werte handelt, die man mit einem Liniendiagramm am ehesten assoziiert. Auch die Tabellenköpfe erfordern häufig hohes Um-die-Ecke-Denkvermögen, um nachzuvollziehen, was mit welchem Wert gemeint ist; ob die durchgängige Verwendung des Begriffes "Altersgruppen" auch dann, wenn es gar nicht um vom Lebensalter, sondern ob des Vorhandenseins einer konfessionellen Bindung abgegrenzte Gruppen der Befragten geht, im stochastischen Sinne durchgehen kann, maßt sich der Rezensent nicht an zu entscheiden, sondern stellt lediglich fest, daß es unlogisch klingt. Schlußendlich gehen zahlreiche Links innerhalb der Fragenauswertung leider ins Leere, wenn in der Behandlung einer Frage darauf verwiesen wird, daß eine Korrelation mit einer anderen Frage interessant wäre, aber weder hier noch dort eine solche Korrelation erfolgt und diese in vielen Fällen nicht einmal für den Leser in Eigenregie herstellbar ist, weil er in den Tabellen nicht immer die für eine solche Korrelation nötige Aufsplittung der Ergebnisse nach bestimmten Kategorien findet. Hier wäre auf der zweifellos guten Basis noch viel mehr herauszuholen gewesen (was im Analogieschluß übrigens auch für Orthographie und Grammatik gilt - an manchen Fehlern kann man dafür schön die ausgeführten Korrekturphasen nachvollziehen).
Somit bleibt unterm Strich ein wertvolles Buch mit ein paar Schwächen, das allerdings ein größeres dreifaches Problem haben dürfte: Erstens ist seine Zielgruppe immens gering, und die dürfte aufgrund der eingangs beschriebenen Aussagelosigkeit des Titels auch noch akute Schwierigkeiten haben, ohne intensives Bibliographieren überhaupt auf das Buch zu stoßen. Zudem macht der Preis das Buch fast nur Besserverdienenden zugänglich (ob der Kalkulator im Verlag, als er die Zahl 51,50 Euro ansetzte, wußte, daß der Code "5150" im amerikanischen Polizeiwesen für "entlaufener Geisteskranker" steht?). Letztlich ist es kein Praxisbuch für den Pfarrer oder Musiker, sondern ein Theoriebuch für den Kulturwissenschaftler oder eben Systemtheoretiker. Diese beiden Gruppen sollten allerdings wichtige Erkenntnisse gewinnen können.

Thomas Feist: Musik als Kulturfaktor. Beobachtungen zur Theorie und Empirie christlicher Popularmusik. Friedensauer Schriftenreihe Reihe C (Musik - Kirche - Kultur) Band 8. Frankfurt am Main et al: Peter Lang 2005. 296 Seiten. ISBN 3-631-53976-2. 51,50 Euro
 






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