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Christian Graf: Punk! Das Lexikon
von rls anno 2007

Christian Graf: Punk! Das Lexikon

Liest man sich mal die Vorworte durch, fällt die holprige Entstehungsgeschichte dieses Buches auf, dessen Erstauflage anno 2000 derart fehlerdurchsetzt gewesen sein soll, daß innerhalb weniger als eines Jahres eine komplett überarbeitete Neuausgabe notwendig wurde. Dem Rezensenten liegt nun die dritte Auflage mit einem Redaktionsschluß vom 15.6.2003 vor, die zudem als "erweiterte Neuausgabe" gekennzeichnet ist. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das 250 neue Bandeinträge seit der zweiten Auflage - ein Beleg für die nach wie vor vorhandene Lebendigkeit des schon oft totgesagten Genres Punk und seine Relevanz auch über die ersten Gehversuche von jungen Bands, bei denen das musikalische Können noch nicht für sinfonischen Power Metal oder halsbrecherischen Cool Jazz ausreicht, hinaus. Punk lebt auch in der Erwachsenenmusikwelt, einerseits natürlich mit den alten Bands (sofern sie ihre No Future-Haltung nicht mit dem Eintritt der Mitglieder in den Ehehafen abgelegt haben oder am selbstzerstörerischen Lebensstil zugrunde gegangen sind), andererseits aber auch mit immer wieder nachwachsenden jungen Bands, deren Vorbilder nicht Sex Pistols oder Discharge, sondern Green Day oder The Offspring heißen. Manche alten Bands schreiben ihre Klassiker erst nach fast 20 Jahren (höre The Exploited mit "Beat The Bastards", zum Reviewzeitpunkt des Buches allerdings auch schon wieder 11 Jahre alt), viele junge Bands begannen (was aber auch etliche alte schon getan hatten und zu Begründern von Gothic, [New] Wave oder Gothic wurden) mit dem Experimentieren und dem Verschieben der naturgemäß recht eng gesetzten stilistischen Grenzen nach außen, und der Ska erlebte in Verbindung mit dem Punk ein erstaunliches Revival nach dem anderen. So stellt sich heute die Punkszene als recht vielgestaltig dar, steht zum Reviewzeitpunkt Mitte 2007 allerdings nicht ganz so stark im Fokus der Musikwelt wie in den 90ern, als eben Acts wie The Offspring scheinbar aus dem Nichts kamen und Millionen von Platten verkauften. Trotzdem scheint es dafür gereicht zu haben, daß die Drittauflage des Buches mittlerweile zumindest regulär im Buchhandel vergriffen ist und nur noch antiquarische Restbestände aufzutreiben sein dürften.
Die Idee eines Punk-Lexikons, um "Ordnung" zu halten, erschien also prinzipiell keineswegs abwegig; daß man es dabei anfangs mit der Ordnung nicht so genau nahm, steht auf einem anderen Blatt. Christian Graf bekam jedenfalls nach der mißglückten Erstauflage mit Sven Voigt einen Co-Autor an die Seite gestellt, der die Inhalte mit durchleuchten half. Nun ist der Rezensent allenfalls Punk-Gelegenheitshörer (wenngleich ihm die Terrorgruppe auf der 2007er Urlaubsheimfahrt das Leben gerettet hat, indem sie ihn auf den letzten 50 Kilometern vor dem Einschlafen am Steuer bewahrte), also keinesfalls faktologischer Experte, und deshalb hält er sich mit einer Einschätzung der generellen Fehlerquote in der dritten Auflage zurück (als generelles Verdikt läßt sich allenfalls festhalten, daß die Tippfehlerquote bei Jahreszahlen und Instrumentangaben immer noch deutlich zu hoch ist). Allerdings fällt erneut ein Phänomen ins Auge, das es in ähnlicher Form auch schon in Grafs in der gleichen Serie erschienenen "Nu Metal & CrossOver Lexikon" zu betrachten gegeben hatte: Sobald die Betrachtungsperspektive aus der Richtung des Metals angesiedelt wird, kommt Graf ins Schwimmen. Nur so läßt sich die Skurrilität erklären, daß beispielsweise Helstar den Weg ins Buch gefunden haben - die legendäre Texas-Truppe um James Rivera spielte bekanntlich typischen US-Power Metal und keineswegs eine "ultrabrutale Kreuzung aus Punk und Metal", wie sie Graf für das Debüt "Burning Star" diagnostiziert - er verkennt zudem, daß die Karriere der Band keineswegs mit dem 1989er "Nosferatu" endete, sondern mit "Multiples Of Black" 1995 zumindest auf Sparflamme weiterging. Und bei den Dictators verweist der Autor darauf, daß Ross "The Boss" Funichello nach dem 1978/79er Aus der Band eine Combo namens Shakin' Street formierte, verschweigt aber völlig, daß Funichello zwischen 1982 und 1988 mit Manowar gleich sechs "Weltkulturalben" des Heavy Metal einspielen sollte. Dafür spielten die Satanic Surfers nun keineswegs Power Metal, wie im Adhesive-Kapitel behauptet, und das Plasmatics-Kapitel fällt nicht nur aufgrund seines dem Lexikon-Charakter unwürdigen Schreibstils auf, sondern auch dadurch, daß in die Aufzählung der Platten von Jean Beauvoir mit Crown Of Thorns auch noch "The Burning" und "Eternal Death" gepackt wurden - das sind aber die beiden ersten Scheiben der gleichnamigen schwedischen Death Metaller, die sich danach in The Crown umbenennen mußten. Als letzter beispielhafter Problempunkt sei noch die Definition des Pogo angeführt, der zumindest heutzutage nichts mehr mit Auf-der-Stelle-Hochspringen zu tun hat, das aber auch 2003 schon nicht hatte.
Daß die generelle Struktur des Lexikons der des "Nu Metal & Crossover Lexikons" ähnelt, ist keine Überraschung, und so kann man die grundlegenden Punkte positiver wie negativer Natur in dessen Review nachlesen. Immerhin ist das Punklexikon doppelt so dick wie jenes, aber das Punkgenre ist ja auch älter, und (das sei ebenso positiv hervorgehoben wie ein gut bestücktes Literaturverzeichnis mit auch jeder Menge englischsprachiger Primärliteratur) der Autor läßt Punk keinesfalls erst mit den Ramones und den Sex Pistols beginnen, sondern führt auch eine ganze Reihe von Proto-Punk-Bands aus den Sechzigern und Frühsiebzigern an, die mit ihrer basischen Herangehensweise die Saat in den Boden brachten, deren Ernte dann in den Endsiebzigern vorgenommen wurde. Zu empfehlen wäre allerdings wie schon beim "Nu Metal & Crossover Lexikon", in Folgeauflagen noch stärker den deutschen Underground zu berücksichtigen; auch die mit der vorliegenden Auflage vorgenommene Erweiterung des skandinavischen Bandbestandes ist durchaus noch ausbaufähig, wenn man sich allein mal den schwedischen Doppelsampler "Vägra Raggarna Benzin" vornimmt. Aber das könnte dann auch wieder den vertretbaren Umfang sprengen. Dafür dürfen in der nächsten Auflage Skrewdriver gern gestrichen werden, denn die stellten ihre (in der Frühzeit politisch scheinbar noch relativ harmlose) Tätigkeit keineswegs mit der 1978er Single "Built Up Knocked Down" ein, sondern entwickelten sich in der Folgezeit zur zentralen Band der internationalen nationalsozialistisch orientierten Musikszene, worüber der Lexikoneintrag kein Sterbenswörtchen verliert und damit einen völlig verzerrten Eindruck hervorruft. Glücklicherweise bleibt das ein Ausnahmefall, denn ansonsten erkennt der Autor politische Zusammenhänge durchaus und begeht auch keineswegs den Fehler, alle Oi-Bands über einen Kamm zu scheren, wie das in der Öffentlichkeit mitunter gern geschieht.
So bleibt unterm Strich festzuhalten, daß mit dem Punk-Lexikon ein brauchbarer Überblick über die Szene mit ihren verschiedenen Subspielarten wie etwa Cowpunk, Skapunk etc. entstanden ist, dessen Datenbestand allerdings nach wie vor mit etwas Vorsicht zu gebrauchen ist, vor allem im metallischen Randgebiet. Aber dafür gibt's ja dann auch Metal-Lexika ...

Christian Graf: Punk! Das Lexikon. Erweiterte Neuausgabe. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag 2003. ISBN 3-89602-521-X. 656 Seiten. 15,90 Euro
 






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