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Gerd Gebhardt/Jürgen Stark: Wem gehört die Popgeschichte?
von rls anno 2012

Gerd Gebhardt/Jürgen Stark: Wem gehört die Popgeschichte?

Eine Abhandlung über die Geschichte der populären Musik nach Verständnis des 20. Jahrhunderts legen Gerd Gebhardt (weiland in der Leitungsebene von Warner tätig gewesen und eine maßgebliche Figur bei der "Echo"-Verleihung) und Jürgen Stark (Kulturmanager und einer der Ideengeber für die ab 1984 erfolgte Herausgabe des Metal Hammer als erster professioneller deutschsprachiger Metal-Zeitschrift) hier auf knapp 400 Seiten vor. Die Einschränkung "nach Verständnis des 20. Jahrhunderts" ist wichtig, denn Mozarts "Eine kleine Nachtmusik" ist auch Pop - nur eben Pop nach Verständnis des 18. Jahrhunderts. So weit in der Geschichte setzen Gebhardt/Stark nicht an - sie gehen nach Ouvertüre, Gebrauchsanweisung und Intro, die summiert schon mal ein Zehntel des Buches einnehmen, vom Blues als der Urmutter aller populären Musikstile des 20. Jahrhunderts aus, und der ist nun mal in seiner Form, welche diese Urmuttersubstanz darstellt, nicht wesentlich älter als das 20. Jahrhundert, wenngleich wiederum einige seiner Wurzeln viel weiter in die Geschichte zurückreichen, in Zeiten, als die Vorfahren der amerikanischen Südstaatensklaven noch in Timbuktu oder anderswo auf ihrem Heimatkontinent wohnten, wohin der Blues in einer Ironie der Geschichte erst im späten 20. Jahrhundert zurückgekehrt ist.
Gebhardt und Stark starten mit ihrer Betrachtung also im Mississippi-Delta, aber sie richten ihre Betrachtungsweise weitgehend auf die Entwicklungen in Deutschland aus und setzen diese in einen kulturellen Kontext mit der weltweiten Entwicklung. Da gab es Zeiten, in denen Deutsche bei der Entwicklung ganz vorn mitmischten und etwaige Vorbilder bald in den Schatten stellten - man erinnere sich an Marlene Dietrich, Kraftwerk, den Krautrock, Harold Faltermeyer, Accept und Rammstein. Die vier Erstgenannten finden im Buch ausführlich Beachtung, die beiden letztgenannten nur in einer Randnotiz (Rammstein) oder gar nicht, obwohl gerade hier nach den Scorpions die ersten (und einzigen!) Beispiele eines hochgradig erfolgreichen Exportes deutscher innovativer populärmusikalischer Klänge zu finden sind, die für die Entwicklung der jeweiligen Szenen stilprägend wirkten, wie das die vier anderen genannten Künstler bzw. Stilistika vorher taten. Überhaupt konzentrieren sich die beiden Autoren überwiegend auf den "Mainstream". Das ist einerseits verständlich, denn Mainstream und Popgeschichte gehören so zusammen wie Heino und seine Sonnenbrille (wobei übrigens auch Heino nicht im Buch vorkommt und sein Fast-Namensvetter Heintje auch nur in einer Liste mit den Nummer-1-Hits der deutschen Charts anno 1968), verstellt aber andererseits ein wenig den Blick auf die bunten Randbereiche mit ihrer vielfältigen Szeneausprägung, wo sich durchaus noch mehr Beispiele finden lassen, die, sagen wir, kulturpolitisch betrachtet ähnlich wichtige Rollen spielten wie Accept und Rammstein, wenngleich sich ihre Verkaufszahlen in deutlich niedrigeren Regionen bewegten. Zurück zum Geschehen im Buch anstelle des Nicht-Geschehens: Gebhardt und Stark teilen die Geschichte in Kapitel ein, die nicht zwingend nacheinander abgelaufen sind und entsprechend auch bei der Lektüre mitunter Überschneidungen ergeben - so wird Udo Lindenberg erst relativ spät eingeführt, nämlich im Kapitel über die Wiedersalonfähigwerdung der deutschen Sprache in der populären Musik, das etwas außerhalb der eigentlichen Chronologie steht, und auch die Behandlung der Geschehnisse in der DDR bekommt ein Sonderkapitel, das freilich wiederum durch das Fehlen stilprägender Bands wie der Stern-Combo Meißen oder den unter dem Namen "die anderen bands" zusammengefaßten Rebellen der 80er ein unvollständiges Bild zeichnet.
Immerhin gelingt es den Autoren aber in einem großen Teil des Buches, interessante Geschichten zu erzählen und dabei auch den Aspekt der mannigfachen Beeinflussung der populären Musik, sei es durch die politischen Umstände oder schlicht und einfach durchs Geld, in vielgestaltiger Form zu reflektieren. Da tut sich hier und da der eine oder andere Zusammenhang auf, den man vielleicht noch nicht in dieser Form gesehen hatte. Die Linie spannt sich von den erwähnten Anfängen im Blues über das Vor- und Nachkriegsdeutschland bis nach Hamburg, das in den Frühsechzigern den Nährboden für eine erstaunliche internationale Szeneentwicklung bildete - und damit sind nicht nur die allgemein bekannten Zeiten gemeint, als eine Combo namens The Beatles dort ihre Embryonalzeiten auf dem Weg zu angesehenen Popkünstlern verlebte. Über beispielsweise Amon Düül II, Falco und den bereits erwähnten Udo Lindenberg landen die Autoren dann in den Neunzigern, wo sie ihre Betrachtung beenden, da der Abstand zu den jüngeren Entwicklungen noch zu kurz sei, um sie schon ins große Bild einordnen zu können.
Beide Autoren schreiben äußerst flüssig und unterhaltsam, würzen die Kapitel mit etlichen O-Tönen (die sie in fast allen Fällen auch ordnungsgemäß nachweisen), stellen jeweils eine Playlist mit Songs, die das Lebensgefühl im betreffenden Kapitel abbilden, voran und hangeln sich neben der eigentlichen Betrachtung noch von einer Anekdote zur nächsten. Was etwas nervt, ist die militant-atheistische Grundhaltung, die in den wenigen Momenten, wo es um die Beziehung von Religion und populärer Musik geht, aufscheint und die zeigt, daß auch Gebhardt und Stark nicht in der Lage sind, zwischen Glauben und organisierter Religion zu unterscheiden, was auch eine maßgebliche Rolle im Kapitel über den Guru Bhagwan Rajneesh und dessen seltsame Praktiken, die die Autoren mehr oder weniger als archetypisch für alle religiösen Sinnsucher gleich welcher Schattierung hinstellen, spielt. Zudem erfordert die anekdotengespickte Erzählweise natürlich auch ein waches Auge und Hirn beim Lesen, was den Wahrheitsgehalt betrifft, etwa gleich auf S. 18, wo es in drei Sätzen um die Liveumsetzung des John-Cage-Werkes "Organ 2/ASLSP" in Halberstadt geht: "Für das Jahr 2639 wünscht sich der Komponist John Cage das Erklingen des letzten Orgeltons aus diesem Werk." Dumm nur, daß Cage von diesem Projekt nie etwas wußte - er starb 1992, aber die Idee für das Halberstadt-Projekt gebaren die Organologen erst Jahre später in Trossingen ...
Beachtet man all diese Fallstricke, offenbart sich allerdings ein reizvolles Panoptikum der Geschichte der populären Musik mit wie erwähnt mancherlei bisher nicht gedachten Gedanken, das allein schon deshalb die Lektüre lohnt, auch wenn man ihren befreiungstheologischen Ansatz mit der Popularmusik als messianischem Geist sicherlich nicht bis ins Letzte mitgehen muß. Ganz zum Schluß beantworten die Autoren dann auch noch die titelgebende Frage. Wie, das soll hier natürlich nicht verraten werden ...

Gerd Gebhardt/Jürgen Stark: Wem gehört die Popgeschichte? Berlin: Bosworth Edition 2010. 384 Seiten. ISBN 978-3-86543-289-6. 19,95 Euro. www.bosworth.de
 






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