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Rock Station Vol. 3   08.10.2016   Jena, Kulturbahnhof
von jmt

Wieder ein kleines feines Festival lockt mich an diesem feuchtkühlen Herbstabend in die heimelige Wohnzimmerhöhle des Cosmic Dawn im Kulturbahnhof. Mein erster (olfaktorischer) Eindruck beim Anschließen des Rades: Oha, hier wird nicht nur Tabak geraucht. Dieser Eindruck setzt sich drinnen visuell fort: Auch bei der sehr ansprechenden Gestaltung der Plattenhüllen auf den Verkaufstischen scheinen bewusstseinserweiternde Einflüsse beteiligt gewesen zu sein, und wie um das Ganze zu komplettieren, steht dahinter ein Bärtiger mit langen blonden Dreadlocks. Mich erwartet eine Zeitreise in die 1970er.
Limestone Whale aus der Oberpfalz eröffnen den Konzertreigen mit einem Gitarrenintro (Flo Ryan Kiss), zu dem sich schließlich Schlagzeug (Maximilian Brev) und Baß (René Preiß) gesellen. Das noch sehr statische Publikum in den anfangs noch recht leeren Raum vor die Bühne zu locken und zu Bewegungen zu animieren ist freilich eine schwere Aufgabe. Dabei gefällt mir die vielrhythmische, von groovenden Gitarre-Bass-Linien getragene, von ausgedehnten Jampassagen durchzogene Musik gut - bis auf ... nun ja, ich möchte Sänger Clement Hoffer nicht Unrecht tun, zweifelsohne hat er Stimme und kann singen, aber tatsächlich ist es der Gesang, der mir die Musik verleidet, sie regelrecht zukleistert. Er hat genau den künstlich aufgerauten Stimm- und Sprachklang, wie er in der zeitgenössischen englischsprachigen Rockmusik üblich ist. Es wirkt auf mich, als bemühe er sich erfolgreich, "so zu klingen wie". Auf Arbeit bin ich oft einer Dauerbeschallung von einschlägigen Radiosendern ausgesetzt, und da lärmt mir diese Art von Gesang hundertfach austauschbar und aufdringlich entgegen. Schade, gerade das Debütalbum dieser vier Jungs hätte ich mir allein schon der besonders edlen Gestaltung wegen beinahe gekauft. Erholung bringt ein Instrumentalstück ("Ambrösl"). Außergewöhnlich auch "Swarms", in dessen erstem Teil deutsch gesungen wird. Der in diesem Musikgenre ungewohnte Sprachklang lässt aufhorchen, hebt sich anregend vom englischsprachigen Einerlei ab. Davon in Zukunft bitte mehr!
Die Umbaupause nutze ich, um die Wandgestaltung in der alten Bahnhofshalle zu bewundern, eine aus gebogenen Stahlstäben gefertigte Darstellung für Jena wichtiger Berufe: Glasmacher bei der Arbeit, Wissenschaftler, ein Teleskop.
Einige technische Probleme müssen noch behoben werden, dann geht es weiter mit Wedge aus Berlin. Sänger und Gitarrist Kiryk hat sich in Schale geschmissen mit schwarzem, weißgepunktetem Hemd und roten Absatzstiefeln. The Holg spielt Schlagzeug, David wechselt nahtlos zwischen Bass und Orgel. Was sie spielen, ist Rock'n'Roll! Durch den Orgeleinsatz und die rhythmischen Muster wirkt's zuweilen wie ein Deep-Purple- und Uriah-Heep-Verschnitt. Kiryks Gitarrenspiel ist nicht nur rasant, sondern läuft auch spielend durch die Tonarten. Und seine Stimme ist nun wirklich mal was anderes, nicht das übliche "klingt wie". Eine seiner Ansagen: "Passt auf, ihr könnt auch ausflippen und tanzen und alles, deswegen sind wir ja hier." Und beim Gitarrenstimmen: "Quatschen und stimmen ist noch öder als nur quatschen." Und ihnen gelingt das Unglaubliche: Sie bringen die Leute zum Tanzen! Nach dem Ende ihres regulären Programms haben sie noch 3 Minuten. Also genug Zeit, um eine ca. viertelstündige Zugabe zu spielen, ausgedehntes Schlagzeugsolo inklusive.
Falafelpause am "Sahara - arabic food". Der hat heute wenig Zulauf, bei dem Wetter ist es den meisten Leuten wohl einfach zu kalt draußen.
Asteroid aus Örebro/Schweden beginnen ausschweifend instrumental - der sphärisch-hallige Klang lässt tatsächlich an des Weltraums unendliche Weiten denken. Robin Hirse (Gitarre), Johannes Nilsson (Bass), Jimmi Kohlscheen (Schlagzeug). Hier nun hat sich der Bassist in Schale geschmissen - eine bärtige Wikingergestalt mit langen rotblonden Dreadlocks barfuß in langem, nachtblauem, goldbesticktem Gewand. Er (mit sehr klangvoller, heller Stimme) und der Gitarrist (meist die Hauptstimme übernehmend) singen teils im Wechsel, teils im Duett. Der Gesang kleistert nicht zu, sondern setzt wohldosierte melodische Akzente. Die Musik ist weniger komplex, meist in einer Tonart gehalten, Psychedelic Bluesrock mit etwas Doom. Die Ansagen klingen wie schon etwas vorgeglüht. Passender Zuruf aus dem Publikum: "Geh zurück an die Bar!"
Mitternacht. Letzte Umbaupause. Die Fläche vor der Bühne leert sich. Der Sänger von Brutus (Oslo/Norwegen) mit eindrucksvollem Backenbart macht eine lange Ansage, versucht, das Publikum wieder herzulocken, weist mehrfach darauf hin, wie schwer es sei, nach Asteroid zu spielen. Endlich fangen sie an: Ein bärtig-haariges Quintett (Jokke Stenby, Johan Forsberg, Kim Molander, Knut-Ole Mathisen, Christian Hellqvist) spielt bluesigen 70er-Jahre-Hardrock. Zwei Gitarristen, beide in gelbem T-Shirt und mit Jeansweste, einer mit Hut, flankieren die Bühne. Dazwischen der bärtig-haarig-knuddelige Bassist, dahinter der bärtig-haarige bestirnbandete Schlagzeuger. Vorn der backenbärtige Sänger, mit heller, dünner, aber durchdringender Stimme, der von Ozzy Osbourne nicht unähnlich, sehr passend zur Musik. Hält eine Weinpulle in der Hand, die tatsächlich leer wird - entsprechend lustig gestalten sich die Ansagen. Eine lustige Truppe, wie aus der Zeit gefallen - ihr kennt den Sketch "need more cowbell"? Ungefähr so sehen diese Typen hier aus. Sind aber wesentlich besser gelaunt. Damit der Sänger nicht weiter im Publikum schnorren muss, wird eine neue Weinpulle gebracht - weiter kann's gehen. Bis nach halb zwei. Dann emsiges Treiben - Equipment muss abgebaut und ins Auto verladen werden. Tonmann Thomas F. gibt mir noch eine erheiternde Information mit auf den Heimweg: Die Band ist etwas in Eile, sie müssen ihre Fähre schaffen. Die fährt in vier Stunden.
https://limestonewhale.bandcamp.com/
http://www.wedgeband.com/home.html
http://www.asteroid.se/
http://brutusband.com/
http://www.cosmic-dawn.de/ informiert stets aktuell über anstehende Termine im Jenaer Kulturbahnhof.



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