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Arktis, Ito, Tranquillizer, Angry Rhino   08.10.2016   Leipzig, Bandhaus
von rls

Eine vorgelagerte Familienfeier führt dazu, daß dem Rezensenten die laut Ablaufplan für Angry Rhino vorgesehenen 25 Minuten entgehen, und er trifft erst ein, als sich auch der Set von Tranquillizer schon dem Ende entgegenneigt. Zwei Songs spielen die Exoten des Billings noch: Das Quintett hat im Gegensatz zu den drei anderen Bands überhaupt nichts mit Core jeglicher Art zu tun, sondern spielt melodischen Black Metal, wie er vor 20 Jahren en vogue zu werden begann und auch heutzutage noch nicht ausgestorben ist. Dabei verzichten Tranquillizer allerdings auf Keyboards und setzen statt dessen ein im Metal seltenes, wenngleich nahezu komplett metallisches Instrument ein: Der Sänger greift bisweilen zu einer Posaune, was er im vom Rezensenten miterlebten Teil allerdings nur im Setcloser "Blutrot" tut. Der Soundmensch schafft es auch tatsächlich, das Instrument durchhörbar zu gestalten, wobei es allerdings in einer Phase eingesetzt wird, wo der Drummer nicht gerade in Höchstgeschwindigkeit schwelgt. Generell zeigen sich Tranquillizer sehr variabel - schon "Kapitulation", der vorletzte Song, beinhaltet von wildem Geprügel bis zu sanften, allerdings mit Gekreisch unterlegten Akustikparts das komplette Programm, ohne allerdings zu planlos zu wirken. Der komplett auf die deutsche Sprache setzende Sänger wechselt gekonnt zwischen Gekreisch und Grunzen und verzichtet auf Cleangesang, der Backinggesang des Rhythmusgitarristen steuert allerdings doch die eine oder andere rauhe Melodie bei, die sonst eher aus den Gitarren kommt, die man im prinzipiell annehmbaren Gesamtmix gern noch etwas deutlicher gehört hätte. Zugabeforderungen äußern Teile des Publikums hier übrigens nicht mit dem Wort "Zugabe", sondern mit dem Wort "Posaune" - allerdings kommt dieses Instrument in "Werdet zu Staub" dann aber gar nicht vor. Die Stimmung ist trotzdem gut, und wer sich eine härtere und um die erwähnte Posaune ergänzte Version von Abrogation vorstellen kann, der sollte Tranquillizer ein Ohr leihen.
Ito sind die eigentlichen Hauptprotagonisten des Abends, denn sie feiern hier die Releaseparty ihrer Debüt-EP "Vergessen Erinnern Überleben", die folgerichtig auch das Gros des Sets stellt. Eine neue Band sind sie aber keineswegs - vielleicht kennt der eine oder andere Szenegänger In Thy Orisons noch, die nach einer gewissen Stiländerung und konsequenter Hinwendung zu, nein, nicht japanischen, sondern deutschen Texten nun als Ito firmieren, was zugleich das Kürzel des alten Namens darstellt. Der Basser trägt trotzdem ein Stirnband in asiatischem Stil, aber ansonsten sind die Vorbilder für den klassischen Metalcore, dem das Quintett jetzt frönt, eher weit östlich des Pazifik anzusiedeln. Der Sänger brüllt bisweilen wild ins Mikro, singt aber auch oft clean, so daß man seine Botschaften nachvollziehen kann (auch der Sound ist schön klar), und daß ein Song auch noch "Melodie" heißt, dürfte sicherlich kein Zufall sein. In "Erinnern" gerät der Übergang vom Intro in den eigentlichen Song etwas holprig, aber selbiger fällt dann sowieso etwas aus dem Rahmen, ist er doch derjenige, der dem klassischen Melodic Death Metal am nächsten kommt. Die Songs sind für Metalcoreverhältnisse ziemlich lang, und die alte Metalcorekrankheit, in jedem Song alle Stilelemente des Bandschaffens unterbringen zu müssen, hat Ito dankenswerterweise nur gestreift. Das Intro von "Ozean" hätten auch Ahab mit Kußhand übernommen, aber natürlich einen ganz anderen Hauptteil dahintergebastelt, und der Closer "Farbenspiel" bietet ein extrem langes Akustikoutro auf, bei dem sich die Band schon (verdient!) feiern läßt - als die letzten Takte vom Band verklingen, ist das Drumkit schon halb abgebaut, so daß zugleich klar wird, daß keine Zugabe eingeplant ist, obwohl die Anwesenden zuvor ordentlich Stimmung gemacht haben.
Arktis kommen nicht aus selbiger, sondern "nur" aus Hannover, aber sie haben ihre Optik zumindest partiell an ihren Bandnamen angepaßt, indem sie komplett in weißen Shirts antreten und auch die Backdrops allesamt eine weiße Grundfarbe aufweisen, wenngleich die abgebildeten floralen Motive keineswegs in die boreale oder nivale Zone gehören. Nach einem zumindest partiell recht flotten Opener nimmt das Quintett konsequent das Tempo heraus, indem schon an zweiter Position eine Halbballade steht und auch im weiteren Verlaufe des Sets eher untere Tempolagen bedient werden, wobei man die gelegentlichen Speedeinlagen als Bereicherung des Postcores der Band zu verstehen in der Lage ist, sie also nicht als Störfaktoren wirken, obwohl die Intensität, die Arktis zu erzeugen imstande sind, tatsächlich in den langsameren Passagen besonders groß ist. Der Sänger fokussiert sich zwar aufs Gekreisch, ist aber auch zu Cleangesang fähig, beherrscht diesen richtig gut und bekommt sogar ansatzlose Wechsel aus dem einen in den anderen Stil problemlos hin - übrigens bedienen sich auch Arktis konsequent deutscher Texte. Kurios hingegen ist die Optik des spindeldürren schlaksigen und bebrillten Sängers, den man mit seiner teilblondierten Frisur in irgendeiner halbverrückten NDW-Revivalband verortet hätte, aber nicht in einer Postcore-Truppe - stimmlich aber paßt er hier natürlich prima, obwohl er mit seiner Cleanstimme auch die hypothetische NDW-Revivalband aufgewertet hätte. Sympathische wie engagierte Ansagen gibt's hier wie auch schon bei Ito natürlich auch, und obwohl sich das Publikum ein wenig ausgedünnt hat, so ist die Stimmung doch gut genug, um die Hannoverer zu zwei Zugaben zu überreden. Das hätte man, so erkennt man hinterher, aber besser bleiben lassen: Zunächst erklingt eine seltsame Ballade, die den ruhigen Nummern des Hauptsets nicht das Wasser reichen kann, und dann versuchen sich Arktis auch noch am Mittneunziger-Crossover aka Rapcore, der schon damals nur in den wenigen lichten Momenten von Bands wie Thumb genießbar war ("Haunted"!) und in den insgesamt sehr gelungenen Abend einen unnötigen Wermutstropfen kippt.



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