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Leipziger Universitätsorchester   26.06.2016   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Osteuropa-Zeit in Leipzig: Während die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im EM-Achtelfinale die Slowakei mit 3:0 schlägt, spielt das Leipziger Universitätsorchester ein Programm aus osteuropäischen Werken - die Gleichzeitigkeit und inhaltliche Konnotation konnte bei der Programmplanung natürlich noch niemand erahnen, aber sie ist strukturell natürlich reizvoll, auch wenn Tschechien und Rußland, woselbst die vertretenen Komponisten geboren wurden, zum besagten Zeitpunkt aufgrund des Scheiterns in der Vorrunde schon wieder zu Hause sind.
Nachdem das Wintersemesterkonzert des Orchesters mit "Der Wassermann" von Antonín Dvorák begonnen hatte, steht diesmal das "Fantastické Scherzo" seines Schülers Josef Suk am Beginn, dem das Programmheft übrigens genauso die Lebensdaten von Dvorák zuweist wie bei den weiteren Stücken den diesmaligen Komponisten diejenigen ihrer beim Wintersemester gespielten Kollegen. Wüßte man freilich nicht um die kompositionelle Urheberschaft, würde man bei einem Blindfold-Test das Stück aber durchaus auch Dvorák zuordnen können, freilich einem hypothetischen ganz späten Dvorák, denn so ein paar Tempowechsel, wie sie erst im 20. Jahrhundert üblich wurden, schmuggelt Suk in das 1903 entstandene Stück dann doch hinein. Dirigent Frédéric Tschumi läßt zunächst den Eindruck viel böhmischer Weite aufkommen, bevor das Stück teilweise in starke Holzdominanz übergeht, die an diesem Abend nicht immer sicher gelingt (hier und da gibt es auch im weiteren Verlauf des Stückes einige Feinabstimmungsproblme z.B. bei hin- und herflitzenden Phrasen), aber teilweise durch traumhafte Holzkammermusik mit Harfenbegleitung flankiert wird. Auch die Streicherflächen hinterlassen überwiegend einen positiven Eindruck, während die Tutti lange Zeit eher harmlos bleiben. Das dürfte freilich Tschumis Absicht gewesen sein, denn im Finale wird das Stück zumindest für kurze Zeit doch noch richtig dramatisch, und der finale Eindruck bleibt auch am längsten haften.
Dmitri Kabalewski schrieb die meisten seiner Solokonzerte im Spannungsfeld zwischen seiner Lehrtätigkeit am Moskauer Konservatorium und dem von den kulturpolitischen Stellen der Sowjetunion geforderten Kurs des Sozialistischen Realismus. Heißt praktisch: Wir hören mit seinem Cellokonzert Nr. 1 op. 49 ein Werk, dem man seine Entstehungszeit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht anhört, da keinerlei Anklänge an den westlichen Avantgardismus zu vernehmen sind - wir hören aber trotzdem ein interessantes und technisch alles andere als anspruchsloses Werk. Das eröffnende Allegro entwickelt sich mit langen Melodien des von Moritz Klauk gespielten und überraschend distanziert klingenden Solocellos über Zupfstreichern, wobei die Tempovariabilität dann doch ins 20. Jahrhundert weist und auch die düsteren Klanglandschaften eindeutig in selbiges gehören. Aber sie bleiben nicht lange erhalten, die Sonne kehrt bald zurück. Die gute Feinabstimmung des Solocellisten mit den Holzbläsern wird schon hier deutlich - die Blechabteilung hat Kabalewski interessanterweise mit nur zwei Hörnern, einer Trompete und einer Posaune ziemlich dünn besetzt, was einen Hinweis auf die angestrebte Leichtfüßigkeit gibt. Das schließt große melancholische Linien wie die des Solocellos im Largo molto espressivo an zweiter Satzposition nicht aus - was Klauk und die Fagotte hier über einem Tiefstreicherteppich anstellen, überzeugt gleichfalls, während der Dialog des Solocellos mit dem Horn noch Reserven offenläßt, auch der ganz am Schluß des Satzes nach dem kadenzartigen Part Klauks, der im Satzfinale abermals zaubert, aber keinen ähnlich kongenialen Partner am Horn sitzen hat, so daß das Ganze hier gut, aber eben nicht sehr gut gelingt. Im abschließenden Allegretto sorgt das Holz (geplant!) zunächst für weiteren Trübsinn, bis Klauk das Tempo anzieht und Themen mit leichter folkloristischer Note einwirft. Es entwickelt sich allerdings kein rasantes Toben, sondern eine fragmentierte Struktur, die immer wieder an einen ironiefreien Schostakowitsch erinnert, wozu auch der nach abermals exzellenter Dialogarbeit Klauks mit den Holzbläsern angehängte seltsame Schluß paßt. Trotzdem gibt's natürlich viel Applaus vom anständig besuchten Gewandhaus, und Klauk gibt noch zwei Zugaben. Die erste bestreitet er zusammen mit sechs Orchestercellisten: "Salut d'amour" von Edward Elgar wechselt zwischen romantischen Klanglandschaften und melodischen Anklängen an "Auferstanden aus Ruinen", während das Impromptu von Ernst Toch als zweite Zugabe rein solistisch erklingt, einen fast improvisatorischen Eindruck hinterläßt und einen wirkungsvollen bunten Speiltechnikmischmasch auffährt.
Sergej Rachmaninoffs Sinfonische Tänze op. 27 sind sein letztes vollendetes sinfonisches Werk, und auch hier wähnt man sich beim Hören durchaus nicht im Jahr 1940. Der kurios mit "Non allegro" überschriebene erste Satz macht an diesem Abend schon zu Anfang relativ viel Druck, und Tschumi setzt in den blitzartigen Orchesterschlägen auch schon einiges an Energie frei und sorgt für einen gewissen Fluß des Werkes - mehr als im Konzert des Welsh National Youth Orchestra anno 2013 in Altenburg, aber, so wirft die Begleiterin des Rezensenten ein, deutlich weniger als in der Fassung für zwei Klaviere mit Martha Argerich. Immerhin hört man auch hier in der Orchesterfassung das Klavier an den richtigen Stellen noch durch, und für den ultrafinsteren Fagottübergang in den großen Tempoausbruch verdienen sich die Beteiligten ebenso ein Sonderlob wie für dessen zackige Abwürgung. Danach geht das Stück an diesem Abend aber ziemlich in die Breite, und das tut ihm durchaus nicht immer gut. Daß der Walzer im zweiten Satz nicht in Gang kommt, ist dagegen so geplant - aber auch er mäandert lange Zeit etwas zu sehr vor sich hin, selbst die Blechsignale bleiben eher nett als aufrüttelnd, und nur an wenigen Stellen schüttelt Tschumi die Walzertempostörfaktoren etwas vehementer aus dem Handgelenk, bevor nach dem einzigen Tutti der Satz wieder seinem Ende entgegenmäandert. Im Schlußsatz läßt der Dirigent das Orchester zunächst recht zerklüftete Landschaften aufbauen, unter denen aber trotzdem erstaunlicherweise ein stoischer Grundbeat liegt, der nur sehr selten durchbrochen wird. Bis zum großen Zusammenbruch herrscht relativ viel Zug zum Tor, aber dann nimmt Tschumi das Tempo nachhaltig raus, bereitet den großen Ausbruch aber mustergültig vor und bekommt auch den pseudomilitärischen Charakter der zum Finallärm hinführenden schlagzeuglastigen Passage gut gebacken, auch wenn der Dynamikhöhepunkt schon vor dem Schlußgedröhn erreicht ist und der Schlußgong noch laaaaaange nachhallt.
Wie üblich reicht das Orchester auch an diesem Abend noch eine Zugabe aus - und man bleibt in Osteuropa, sofern man Armenien noch zu Europa rechnen will: Aram Chatschaturjans berühmter Säbeltanz aus dem Ballett "Gajaneh" wird in bewährter Weise mit mancherlei humoristischen Einlagen aufgepeppt, die allerdings bisweilen auch einen konkreten musikalischen Effekt haben, wenn etwa das markante "heulende" Signal von einer urlangen Zugtrompete (!) gespielt wird. Ansonsten bekriegen sich die Schlagzeuger gegenseitig mit Pappschwertern, die Cellisten tragen Kronen, die Bratscher erzeugen Seifenblasen, die Violinisten fordern mit Plakaten "Tanz mit dem LUO!", Süßigkeiten fliegen ins Publikum - aber, und das ist ungewöhnlich, es gibt diesmal keine ploppenden Bierflaschen ...



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