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Leipziger Universitätsorchester   07.02.2016   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Die Leipziger Universität hat auch eine Germanistenabteilung, aber laut Auskunft aus der Verwaltung des Leipziger Universitätsorchesters handelt es sich trotzdem um einen puren Zufall, daß der reguläre Teil des aktuellen Konzertprogramms aus Werken von Komponisten besteht, deren Vornamen mit den ersten drei Buchstaben des Alphabets beginnen und das auch noch in der richtigen Reihenfolge. Die Besucher im sehr gut gefüllten Leipziger Gewandhaus bekommen also zuerst Antonín Dvorák zu hören, allerdings keine seiner neun Sinfonien, sondern eine Sinfonische Dichtung, nämlich "Der Wassermann", und im Gegensatz zur hochgradig populären Neunten ("Aus der neuen Welt") und diversen anderen bisweilen gespielten Sinfonien sieht man diese und Dvoráks andere Sinfonische Dichtungen nur sehr selten mal auf den Konzertplänen - eine willkommene Gelegenheit zur musikalischen Weiterbildung also. Das Thema fluviatilen Urspungs lädt natürlich zu entsprechend naturalistischen Klängen ein, und auch wenn jeder böhmische Komponist, der das tut, mit dem über ihm schwebenden Smetana-Geist kämpfen muß, so zieht sich Dvorák doch erstklassig aus der Affäre - es handelt sich um ein Spätwerk des erfahrenen Komponisten, 1896 uraufgeführt und thematisch hochgradig dramatisch (eine Beziehung zwischen einem Wassermann und einem Menschenmädchen endet tragisch, weil beide Seiten und ihr jeweiliges Umfeld nicht bereit sind, sich weit genug auf die Bedürfnisse und Situationen des jeweiligen Gegenübers einzulassen - eine fast aktuell anmutende Konstellation). Frédéric Tschumi, der neue Dirigent des Orchesters, dirigiert auswendig und bekommt prima naturalistische Stimmungen geformt, etwa gleich im eröffnenden Geplätscher. Auch das Wassermann-Bild im Tutti überzeugt, wenngleich so mancher Einsatz doch ziemlich holpert und die Flöten bisweilen paradoxerweise etwas zu trocken agieren. Dafür entschädigt die prima herausgearbeitete slawische Komponente in der Melodik, und auch die Energie im ersten der zentralen Streite nimmt schon recht beträchtliche Ausmaße an. Und man spürt den Willen des Orchesters - da patzt die Tuba mal, aber bügelt das in der Wiederholung des Parts gleich wieder prima aus. Auch Tschumis Händchen für die stückinterne Dynamik überzeugt - der nächste der zentralen Streite gerät lauter als der erste, die choralartigen Passagen haben epische Breite, und der große Sturm bricht in ziemlicher Apokalyptizität über die Hörer herein. Zwar paßt die Feinabstimmung danach nicht immer ganz, und auch der eigentlich richtig finster gedachte Schlußton geht in die Hose, aber der Gesamteindruck vom Stück wie von der Umsetzung bleibt prinzipiell positiv.
Im Alphabet folgt dann Béla Bartók, und zwar mit seinem dritten und letzten Klavierkonzert, das er nicht mehr bis ins letzte Detail vollenden konnte, aber wenigstens "nur" die letzten 17 Takte zwar noch entworfen, aber nicht mehr orchestriert hatte, so daß dem Werk eine Geschichte wie Bruckners Neunter oder Mahlers Zehnter erspart blieb. Pianist Toshihiro Kaneshige und das Orchester offenbaren in der Einleitung des ersten, "Allegretto" überschriebenen Satzes noch einige Abstimmungsschwierigkeiten, aber sobald die zentrale folkloristische Thematik entwickelt ist, wird das deutlich besser, so daß auch die kammermusikartigen Dialoge des Solisten mit diversen Orchesterinstrumenten, etwa der Flötenwitz im Satzschluß, teilweise richtig viel Hörspaß machen, zumal Tschumi das lange, teils recht kleinteilige Hin und Her mit einer nachvollziehbaren Linie im Griff hat und sich die Hornfraktion mit einigen der gestopften Passagen ein Sonderlob verdient.
So richtig klasse wird's aber erst im zweiten Satz, einem Adagio religioso. Diese Bezeichnung nehmen Tschumi und Kaneshige nicht ganz wörtlich, sondern konzentrieren sich aufs Herausarbeiten von Tiefe und Fragilität. Wenn da gleich am Satzbeginn die Celli verklingen und der Pianist einsetzt, wagt man jedenfalls kaum zu atmen, und die Beteiligten halten das Tempo auch weiterhin sehr weit unten, bringen aber das Kunststück fertig, trotzdem zwar reihenweise interessante Stimmungen, aber keine abgrundtiefe Düsternis zu erzeugen. Auch wenn die Energie im Klavier dann doch zunimmt, bleibt das Tempo weit unten, bis sich die zentrale Klangfläche entwickelt, die Bartók mit diversen Vogelstimmenimitationen garniert hat. Damit ist die angespannte Stimmung erstmal aufgehoben, der Satzschluß gerät etwas zu beliebig und holpert einsatztechnisch bisweilen etwas, aber die letzten Töne geraten wieder so spannend, daß man erneut die Luft anzuhalten versucht ist.
Atmen darf man dann wieder im attacca angeschlossenen Schlußsatz, "Allegro vivace" überschrieben, dessen Einleitung angesichts des weit zurückgenommenen Finales von Satz 2 auch ohne große Anstrengung einen sehr starken Kontrast evoziert. Wieder gibt es viel Hin und Her, in das Tschumi erstmal einen gangbaren Pfad schlagen muß, aber das tut er sehr gekonnt, wie der lehrbuchreife Spannungsaufbau hin zum großen Orchesterausbruch hin zeigt. Leider wollen danach alle Beteiligten zuviel, und im Schlußteil deckt das Orchester den Pianisten weitestgehend zu, nachdem in den bisherigen zweieinhalb Sätzen die Klangbalance prima austariert worden war. Der fetzige Schluß holt allerdings einiges wieder raus, und der Pianist bedankt sich für den Applaus noch mit einer Zugabe, auch aus dem Schaffen von Bartók, der bekanntlich zahlreiche ungarische Volkslieder gesammelt und teilweise auch in seine eigenen Kompositionen einfließen lassen hat. Sz 35a ist die Klavieradaption eines solchen Volksliedes, lange eher bedächtig, aber munter durch den Quintenzirkel, ähem, gezirkelt, bevor der flotte Schluß die elegische Stimmung prima auflöst.
Nach der Pause gibt es die 3. Sinfonie von Carl Nielsen zu hören, einem Dänen, dessen Schaffen im Gewandhaus eher selten präsent war, bis Herbert Blomstedt in seiner siebenjährigen Ära als Gewandhauskapellmeister rund um den Jahrtausendwechsel diesen Zustand nachhaltig änderte und das Leipziger Publikum mit einigen hochinteressanten Werken vertraut machte, darunter allen sechs Sinfonien des auf Fünen lebenden Komponisten. Die besagte Dritte, mit dem Beinamen "Sinfonia espansiva" versehen und anno 1912 uraufgeführt, beteiligt sich nicht an den stilistischen Diskursen, die zu dieser Zeit von der Avantgarde wie dem im Jahr zuvor verstorbenen Gustav Mahler oder Arnold Schönberg ans Tageslicht gehoben wurden, sondern setzt überwiegend auf Bekanntes und Bewährtes, wenngleich durchaus in eigenständiger Verarbeitung. Tschumi ist zwar Schweizer, besitzt aber offensichtlich ein durchaus gutes Händchen für die Ausarbeitung von an der Grenze zwischen Mittel- und Nordeuropa anzusiedelnden naturalistischen Klanglandschaften, so wie er zuvor bereits mit der slawischen und der ungarischen Herangehensweise zurechtgekommen war. Jedenfalls zeichnet er nach den noch etwas an Markanz entbehrenden eröffnenden Schlägen im ersten Satz (Allegro espansivo) durchaus weite und große Bilder und nutzt die wenigen Ruhepole, um ringsherum umso mehr Zug zum Tor zu entwickeln. Das gipfelt dann in ziemlich cineastisch wirkender Breite, allerdings reizt der Dirigent die Dynamikkurve während des Satzes schon so weit aus, daß er zum Schluß keine Reserven mehr in der Hinterhand hat.
Satz 2 (Andante pastorale) hebt choralartig an und entwickelt dann hübsche kammermusikalische Passagen über einem Teppich aus Kontrabässen, den größere, aber baßlose Streicherflächen ablösen. Mit Katharina Kunz und Diogo Mendes kommen hier auch zwei Sänger zum Zuge, die allerdings keinen Text, sondern nur Vokalisen beisteuern, wobei man die Sopranistin in den Höhenlagen gut vernehmen kann, während sie in den Tiefen vom Orchester nachhaltig zugedeckt wird - der Tenor hingegen kann sich in allen Lagen durchsetzen, verhindert aber auch nicht, daß eine irgendwie indifferente Stimmung aufkommt: Für ein Schäferstündchen ist das Ganze jedenfalls nicht pastoral genug.
Das Allegretto un poco an dritter Position wird mit einem Hornruf eröffnet, aber noch bricht die wilde Scherzo-Jagd nicht los - das Holz wirft noch kammermusikalische Soli dazwischen, die als Gliederungselemente auch während des dann doch losgaloppierenden Hauptteils erhalten bleiben. Sie sind denn auch das Auffälligste am ganzen Satz, zusammen mit seinem Schluß, der überraschend düster ausfällt - haben die Jäger etwa keine Beute gemacht?
Egal - im abschließenden Allegrosatz entwickelt Tschumi abermals große Flächen, die allerdings viel weniger Zacken aufweisen als im ersten Satz. Mehr Druck gibt's erst nach dem ersten Tutti, aber auch dort schleicht sich schnell wieder Holzkammermusik ein, die selbst den ersten Triumphmarsch nochmal zu neutralisieren vermag, bevor der zweite ganz unten in den Tiefen anhebt und Tschumis gutes gestalterisches Händchen bei der Dynamikwahl nochmals verdeutlicht - am Ende sind so gut wie keine Reserven mehr da, aber die braucht man ja dann auch nicht mehr, und so belohnt großer Applaus eine insgesamt starke Leistung aller Beteiligten.
Ist mit dem neuen Dirigenten die Tradition der absonderlichen und humorisierten Zugabe weggefallen? Natürlich nicht - dazu haben alle Beteiligten offenbar zuviel Spaß dabei. Diesmal gibt es Tschaikowskis "Romeo und Julia", wie üblich mit diversen Einlagen garniert. Eine Auswahl: Die Bratschen schwingen das Tanzbein, in den Flöten sitzt ein Gespenst, an anderen Stellen kommen Kopftücher oder gar ein Pferdekopf zum Einsatz, die Schlagzeuger duellieren sich im Rhythmus des Stückes, wenn der Pauker nicht gerade Trompeterin Hannah May mit Rosenblütenblättern überschüttet, Konzertmeisterin Annika Pauligk reminisziert mit einer grünen Girlande den Wassermann, einen der Hauptsoloparts spielt ein Saxophon, diverse Streicherbögen werden in Alufolie eingewickelt, und die Bassisten setzen den Schlußpunkt mit einem exakt nach dem Schlußton plazierten Plopp ihrer Bügel-Bierflaschen. Auf politische Untertöne verzichtet man diesmal (das Kopftuch ist eines aus der Oma-Fraktion, kein arabisch geprägtes), aber das ist im Karneval zwei Tage vor Faschingsdienstag ja auch legitim, und nicht aller Humor muß unbedingt welterklärende Hintergründe aufweisen. Ein sehr unterhaltsamer Abschluß eines sehr langen, aber nicht langweiligen Konzertes!



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