www.Crossover-agm.de
Grosses Concert III/4   04.02.2016   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Bereits lange vor dem großen 2011er Mahler-Festival im Gewandhaus konnte man anhand einiger exemplarischer Aufführungen am gleichen Ort, nicht zuletzt der formidablen Dritten zum 25jährigen Jubiläum des Neuen Gewandhauses anno 2006, die "Mahler-Formel" aufstellen, die da "Mahler + Chailly = Weltklasse" lautete. Von daher durfte mit Spannung erwartet werden, ob eine der letzten Leipziger Mahler-Aufführungen von Dirigent Riccardo Chailly mit dem Gewandhausorchester eine weitere Bestätigung dieser Formel bringen würde: Auf dem Programm stand die 10. Sinfonie, von Mahler nicht mehr selbst vollendet und in späteren Jahrzehnten von mehreren Menschen zu vervollständigen versucht, wobei hier die Wahl auf die weitgehend auf nachkomponierte Passagen verzichtende Fassung von Deryck Cooke fiel. Eine Woche vor den drei Leipziger Konzerten aber kommt die Hiobsbotschaft: Chailly ist krank und kann die Konzerte nicht selbst leiten. Zum Glück findet sich mit Markus Stenz, Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters im niederländischen Hilversum, ein Mann, der diese herkulische Aufgabe schultern kann und die Leitung der Konzerte übernimmt, von denen der Rezensent das erste erlebt. Das Werk ist unter Chailly schon einmal im Gewandhaus gespielt worden, auch in der gleichen Fassung, aber der Rezensent war damals im September 2009 nicht vor Ort, hätte daher sowieso keine Vergleiche ziehen können und kann das zumindest aus eigenem Livehöreindruck heraus jetzt natürlich erst recht nicht - auch nicht zu eventuellen anderen Aufführungen des Werkes unter Stenz oder überhaupt zu dessen Konzerten, denn er erlebt den Dirigenten an diesem Abend zum ersten Mal.
Versuchen wir also eine Betrachtung ohne Berücksichtigung des Gedankens "What would Chailly do?". Das Werk beginnt mit einem ausgedehnten Adagiosatz, und das nimmt Stenz wörtlich - er hält das Tempo konsequent unten. Daß einsatztechnisch hier noch so mancherlei holpert, erscheint angesichts der Rahmenbedingungen nicht ungewöhnlich und wird sich in den weiteren Aufführungen sicherlich nivelliert haben, wie das im gewissen Maße auch an diesem Abend schon stattfindet - ein schönes Beispiel geben die Bratschen ab, die im einleitenden Solopart viel zu unruhig agieren, die spätere Wiederholung aber deutlich flüssiger hinbekommen. Dafür kommen die diversen Naturgeräusche mit der gewohnten Leichtigkeit aus dem Holz geflattert. Stenz beweist auch ein gutes Händchen für die dynamische Gestaltung: Die ersten Tutti zieht er in die Breite und erzielt somit eine eher zurückhaltende Wirkung, aber spätestens nachdem die Holzgeräusche richtig grell-verstörend geworden sind und es an der Zeit ist, auch in einen pianissimo ausgerollten Violinenteppich eine sinistre Stimmung zu legen, läßt Stenz kontrastierend auch die Tutti anders spielen: Das Tempo bleibt weit unten und die Lautstärke auch allenfalls im mittleren Bereich, aber das Orchester entwickelt eine enorme Aggressivität samt entsprechendem Niederschmetterpotential. Der Satzschluß gelingt gut, läßt aber an Spannungsentwicklung noch ein paar Reserven offen.
Danach folgen quasi drei Scherzosätze aufeinander. In den ersten der drei rettet Stenz zunächst die Lockerheit der holzinduzierten Vögel herüber, betont diverse Brüche etwas stärker und hält die Düsternis der Dreiertaktpassagen im eher mäßigen Bereich. Den Schlußwitz nach all den Zerklüftungen nimmt der Dirigent ganz unironisch ernst, zumal im nächsten Satz, mit "Purgatorio" überschrieben, schon wieder Vögel flattern, die allerdings im Fegefeuer gebraten, im vorliegenden Falle vom Blech erlegt werden, aber per Reinkarnation wiederkehren, freilich in bester "Friedhof der Kuscheltiere"-Manier in eher böser Absicht. Das Highlight des Satzes an diesem Abend bildet das brillant ausgefeilte Drei-Ton-Gesäge der Kontrabässe plus der Gong im Pianissimo am Satzende. Wesentlich beruhigender wird auch das dritte Scherzo nicht, wofür schon die fiesen Töne aus den gestopften Hörnern sorgen. Auch hier baut Stenz die Dynamik klug auf, indem er den ersten Tutti-Ausbruch energietechnisch noch drosselt. Daß die kammermusikalischen Einschübe einen nervösen Eindruck hinterlassen, weil sich die Solovioline und die Holzbläsersolisten nicht finden, könnte sogar gestalterische Absicht gewesen sein, und die Einsatzwackler häufen sich hier auch wieder. Aber das macht nichts: Etwa ab der Satzmitte bekommt Stenz eine spürbare und anhaltende Steigerung der Eindringlichkeit hin, wie sie - man verzeihe, daß der Vergleich doch kommt - von Chailly an dieser Stelle auch erwartbar gewesen wäre. Zu erwähnen ist unbedingt noch der enorm spannende Satzschluß, in der die große Trommel in regelmäßigen Abständen planmäßig alles niedermäht, was noch steht, und das tut ihr Bediener mit derartiger Vehemenz, daß das Fell reißt. Aber er weiß sich zu helfen, dreht den Riesenapparat um und spielt den Rest der Sinfonie auf dem Resonanzfell weiter, was interessanterweise den niederschmetternden Charakter der betreffenden Passagen noch zu verstärken scheint.
Wie dann im Finale die Spannungsauflösung hin zum ersten Idyll gelingt, das stellt Stenz ein exzellentes Zeugnis aus. Zwar kehrt der trommelnde Schnitter nochmal zurück, und auch im weiteren Verlauf des Satzes werden noch einige Rückzugsgefechte geführt, aber hier siegt dann doch immer wieder die Freude, obwohl die Effekte der Hörner immer merkwürdiger werden, ihr Choral brüchig wirkt und die Trompeten lange hohe Töne an der Spielbarkeitsgrenze auferlegt bekommen. Die Spannung ist hier schon lange vor dem letzten Teil raus, ein letzter großer Celloeinsatz führt zum Finale im Frieden - aber das sind die Teile, die Mahler nicht mehr fertiggestellt und Cooke gemäß seinem eigenen Anspruch auch nicht nachkomponiert hat, so daß spekulativ bleibt, was hier in einer "fertigen" Sinfonie noch gekommen wäre. Auch so ist's auf alle Fälle eine interessante Strukturierung, und Stenz und das Orchester werden vom praktisch ausverkauften Gewandhaus mit reichlich Applaus für eine starke, wenngleich unter Idealbedingungen sicherlich steigerungsfähige Aufführung belohnt.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver