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Hochschulsinfonieorchester   04.11.2015   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Nanu, eine Umbesetzung am Dirigentenpult? Nachdem das Hochschulsinfonieorchester seine Plätze eingenommen hat, tritt jedenfalls keiner der angekündigten Dirigierstudenten ans Pult, sondern Dirigierprofessor Matthias Foremny, der das Orchester mit gleichem Programm am Vorabend auch schon im Großen Saal des Gewandhauses geleitet hatte. Aber die Lage klärt sich schnell - Foremny hält vor jedem der drei Werke des Abends eine ebenso kenntnisreiche wie launige Einführung, dann räumt er das Feld für Benjamin Huth, der das erste Stück leitet, und das ist traditionsgemäß in den Konzerten zum Todestag Mendelssohns eins des Hochschulgründers, diesmal die Ouvertüre "Meeresstille und glückliche Fahrt", eine sinfonische Umsetzung zweier Goethe-Gedichte, aber keine chorsinfonische - die Lautmalerei bleibt hier allein den Instrumenten überlassen. Huth entscheidet sich im ersten Teil für ein sehr schleppendes, fast lähmendes Tempo, welches das Orchester mit guter Paßgenauigkeit umsetzt, und der Übergang in die glückliche Fahrt, als dann endlich doch Wind aufkommt, wird von den Beteiligten förmlich aus dem Ärmel geschüttelt. Im Wellengang schleicht sich allerdings bisweilen etwas (ungeplante) Unordnung ein, und auch die Piccoloflöte sirent mitunter etwas zu schräg vor sich hin. Huth dirigiert solide und völlig ironiefrei; über etwaige Metaebenen macht sich sein Realismus gar nicht erst Gedanken. Anstrengend ist der trotzdem oder gerade deshalb: Der junge Dirigent, der bereits ein Kirchenmusikerstudium absolviert hat, sieht am Ende aus, als habe er soeben Mahlers Auferstehungssinfonie hinter sich gebracht. Das Ergebnis klingt gut, reißt aber keine Bäume aus.
Für William Waltons Violakonzert bleibt Foremny dann doch am Pult stehen. Das Werk zählt zur Standardliteratur für Bratschensolisten, und man täte ihm unrecht, würde man polemisch einwerfen, davon gäbe es ja auch nicht so sehr viel. 1928 geschrieben, markiert es eine wichtige Station des Komponisten auf dem Weg von seinen sehr experimentellen Frühwerken zur strukturierteren und eigentlich schon fast anachronistischen Spätromantik, die diesen Touch aber wieder verliert, wenn man ihre Verquickung mit jazzigen Einflüssen betrachtet - Foremny zieht in seinen einführenden Worten Parallelen zu Prokofjew, aber auch das Jugendwerk Schostakowitschs könnte hier Spuren hinterlassen haben, wenn Walton dessen 1. Sinfonie gekannt haben sollte. Das Konzert ist jedenfalls dreisätzig, aber nicht schnell-langsam-schnell, wie das üblich wäre, sondern reziprok, wobei das Tempomanagement in den einzelnen Sätzen allerdings durchaus mancherlei Variationen unterworfen ist. Das einleitende Andante commodo nimmt Foremny jedenfalls zunächst sehr bedächtig, aber die sich aus dem fast kammermusikalischen Duktus entwickelnden Tempoattacken läßt er die Studenten durchaus genußvoll ausspielen, und die Solistin Neasa Ní Bhriain, selbst noch Hochschulstudentin, reiht sich da offensichtlich gerne ein. Interessanterweise hört man ihre Solobratsche jederzeit problemlos durch - gerade dieses Instrument ist ja prädestiniert, vom Orchester akustisch zugedeckt zu werden. Aber die Feinabstimmung klappt problemlos, selbst wenn Solistin und Dirigent zumindest optisch wahrnehmbar kaum miteinander arbeiten und die Solistin offenbar auch noch durch eine Erkältung gehandicapt ist. Der 1. Satz mit seinen jazzigen Einwürfen macht jedenfalls richtig Hörspaß, ebenso das Themenhinundherwerfen im "Vivo, con molto preciso" überschriebenen zweiten Satz, wo Walton wohlweislich im großen zentralen Orchesterausbruch die Bratsche schweigen läßt. Der abgehackte Schlußwitz hingegen überzeugt weniger, aber die hübsche, vom Solofagott eingeleitete Kammermusik am Beginn des "Allegro moderato" betitelten dritten Satzes umso mehr. Tja, und in den Anflügen gälischer Folklore, die Walton in diesem Satz verarbeitet, fühlt sich die irische Solistin natürlich ganz besonders zu Hause. Der Mittelausbruch gerät weniger energisch als im zweiten Satz, aber der Bombastteppich, den das Orchester in der großen Fugenarchitektur ausrollt, weist trotzdem keine Flicken auf. Krönung ist allerdings der hochemotionale Satzschluß, wo die in ein langes blaues Kleid gehüllte Solistin ihrer angestrengt wirkenden Miene zum Trotz nochmal auf ihrem Instrument zaubert und unter Beweis stellt, wie gefühlvoll man das tun kann, auch dann, wenn man eigentlich Geigerin ist und erst seit fünf Jahren Bratsche spielt. Auf dem Notizzettel des Rezensenten finden sich noch die Worte "Coffin Ships" - Primordial-Hörer wissen mehr. Den ausdauernden Applaus des Publikums belohnt die Solistin noch mit einer Zugabe, und zwar bezieht sie ihre Orchesterbratschenkollegen in eine reizende Version eines der Mendelssohnschen Lieder ohne Worte ein.
Von Dmitri Schostakowitsch stand vor noch gar nicht allzulanger Zeit schon eine Sinfonie auf dem Plan des Hochschulsinfonieorchesters, nämlich die Sechste - an diesem Abend erklingt die Neunte, nicht ganz so großen Underdog-Charakter aufweisend wie die Sechste, aber trotzdem eher selten zu hören. Man hatte weiland vom Komponisten eine große Siegessinfonie erwartet (Hitlerdeutschland hatte justament den Kampf gegen die Rote Armee eingestellt), aber Schostakowitsch schrieb eine Quasi-Miniatur von nicht einmal einer halben Stunde Spielzeit, die sich zudem musikalisch allen Erwartungen widersetzt und ihr Pendant vielleicht tatsächlich am ehesten in der Ersten findet (womit wir auch gleich den Bezug zu Walton hergestellt hätten). Jazzverwandtes gibt es hier übrigens auch, gerade im eröffnenden Allegro, das phasenweise Ironie pur darstellt und worin Damian Ibn Salem am Pult schon viel Zug zum Tor entwickeln kann. Zwar dirigiert er sehr deutlich, aber er könnte hier auch vieles einfach laufen lassen, was im Moderato an zweiter Satzposition dann natürlich nicht mehr geht. Unter mehreren Möglichkeiten entscheidet sich der Dirigent hier für eine völlig ironiefreie Deutung, wird in der von den Holzbläsern bestrittenen Einleitung in dieser Hinsicht mal ungewollt sabotiert (wenn die zu angestrengt klingen), mal befeuert (wenn sie die große Emotionalität auszupacken in der Lage sind). Später entwickelt sich ein seltsamer Düsternis-Romantik-Mix, der schwer zu deuten ist - aber bei Schostakowitsch schwingen bekanntlich oft mehrere Ebenen mit. Nach diesem Satz entsteht eine kleine dramaturgische Lücke, denn für die letzten drei übernimmt Hsien-Wen Tsen das Pult - allerdings wählt sie für das Presto an dritter Position sowieso ein eher überschaubares Tempo, setzt also nicht auf eine schroffe Kontrastwirkung. Die arbeitet sie dafür genüßlich im Tiefblechchoral heraus, der etwas von "Chef (= Stalin) kommt und ordnet Trauer an" hat, die dann im Largo-Satz ausgebreitet wird, wobei die Taiwanesin die Fagottsoli kurzerhand undirigiert läßt. Die große Ironiekeule holt sie dann im Schluß-Allegretto heraus: Sie entwickelt den zirkusartigen Charakter langsam, aber stetig, und sie wächst immer stärker in die Rolle eines statisch agierenden Provinzkapellmeisters hinein, die ihr offensichtlich jede Menge Spaß bereitet und eine prächtige Illustration für Schostakowitschs Anti-Triumph-Sinfonie darstellt. Selbst den Schlußwitz läßt sie ins Leere laufen, und das Publikum weiß die Tatsache, daß hier jemand den schwierigen, nicht einmal nur doppel-, sondern mehrfachbödigen Charakter dieses Werkes gut verinnerlicht hat, offensichtlich sehr zu schätzen.



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