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Hochschulsinfonieorchester   26.01.2013   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

In traditioneller Weise dienen die Konzerte des Sinfonieorchesters der Leipziger Musikhochschule nicht nur den Studenten zur Gewinnung von Praxiserfahrung im Orchesterspiel, sondern auch den Dirigierstudenten, die natürlich nicht in die Praxis losgelassen werden, ohne zuvor etliche Male vor einem strukturell durchaus kompliziert zu handhabenden, da für jedes Konzertprojekt neu zusammengewürfelten Orchester gestanden zu haben. Dirigierprofessor Ulrich Windfuhr leitet das erste der beiden Konzerte im Januar 2013, und drei seiner Studenten teilen sich in die Pultfunktion am zweiten Abend, also demjenigen, den der Rezensent erlebt.
Giedre Slekyte hat das kürzeste Stück des Abends vor sich, zugleich auch das wohl bekannteste: Beethovens "Fidelio"-Ouvertüre, also die für die Letztfassung des "Leonore"-/"Fidelio"-Openkomplexes bestimmte. Die Litauerin läßt sich von dem Problemfall, daß die Hörner ihren Einsatz versemmeln und das Holz wenig später an der strukturell identischen Stelle genauso, nicht ins Bockshorn jagen, zumal beide Instrumentengruppen ihre Patzer mit wirklich schönen Klangwirkungen wieder wettzumachen versuchen. Slekyte wählt relativ weit außen liegende Dynamikgrenzen, schon in der Einleitung, wo die kurzen Powereinschübe recht rabiat von der Bühne geflogen kommen, aber auch im weiteren Verlaufe, wo vor allem die entschleunigten Passagen sehr weit zurückgenommen werden. Gegen Ende verstärkt sie diese Kontraste sogar noch, und während man in manchen Beschleunigungspassagen das Gefühl hätte, als ob hier die Gefahr des Entgleitens bestünde, hat die Dirigentin spätestens mit dem energischen Schlußpart alle Zügel wieder fest im Griff.
Für das 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow steht Ruth Reinhardt am Pult, wobei der Rezensent hier keine Einschätzung zur visuell wahrnehmbaren Arbeit vornehmen kann - sie steht exakt hinter dem geöffneten Klavierdeckel. Am Tasteninstrument sitzt mit Jae-Yeon Won ein junger Pianist mit offensichtlicher Neigung zu stark expressiver Gestaltung, und ein reizvolles Showstück wie eben dieses Rachmaninow-Konzert kommt seinem Ausdrucksdrang offensichtlich sehr entgegen - zur Verifizierung dieser These genügt das Erlebnis der ersten Klavierpassagen im Eröffnungssatz voll und ganz. Das Problem: Pianist, Dirigentin und Orchester brauchen lange, bis sie sich aufeinander eingestellt haben. Schon der erste Orchestereinsatz paßt vom Timing her nicht exakt, auch mit den Celli, die einige Male direkte Symbiosen mit dem Soloklavier einzugehen haben, gelingt lange kein richtiges Miteinander - eine Lage, die sich erst im Laufe des ersten Satzes schrittweise zu bessern beginnt, dann allerdings auch zu hoher Güte geführt wird, etwa in der exakt getimten Schlußbeschleunigung dieses Satzes. Ab diesem Zeitpunkt aber haben alle Beteiligten offensichtlich den Schalter in die richtige Richtung gelegt, und als Zuhörer kann man seine Aufmerksamkeit wieder eher in Richtung der Gestaltung und nicht der Technik ausjustieren - unterstützt wird man dabei übrigens von dem seltenen Glücksfall einer fast perfekt austarierten Balance zwischen Soloklavier und Orchester, so daß man das Klavier auch in wilden Orchestertutti noch gut hört. Satz 2, ein Adagio sostenuto, bietet besonders viel Gelegenheit zu expressiver Gestaltung in alle Richtungen, und diese Chance nutzt der Südkoreaner mit sichtlichem Vergnügen, unterstützt durch Reinhardts Strategie, die zurückhaltenden Passagen sehr weit zurückzunehmen, was einerseits wieder Entschleunigung, andererseits aber trotzdem schöne Klangwirkungen ermöglicht. Auch die dramatischen Parts in der Mitte des Satzes bleiben zunächst noch mit angezogener Handbremse, bevor die Dirigentin dann doch mal kurz eine große Klangblase erzeugt, diese aber schnell wieder in Richtung der Entschleunigung platzen läßt, und der Pianist bedankt sich, indem er im Schluß das Echopedal so lange durchgetreten läßt, bis die Spannung fast unerträglich geworden ist. Interessanterweise steht danach zunächst im dritten Satz kein furioser Kehraus - Reinhardt nimmt das Allegro scherzando zwar durchaus flott und auch locker, aber sie läßt noch große Dynamikreserven für den weiteren Verlauf. Den Wechsel der zurückhaltenden Passagen von schwelgend in sinister gestaltet sie äußerst gekonnt, und auch für die weiteren zahllosen Mäander findet sie eine gangbare Linie. Was sie sich aufgespart hat, zeigt der Schluß: Die zahlreichen Orchesterfanfareneinwürfe läßt sie äußerst zackig spielen, setzt große Bombasttürme daneben und bindet doch den Schluß knackig-knapp zusammen. Das sorgt in Verbindung mit der wieder mal sehr guten pianistischen Leistung für viel Applaus, und der übrigens eine sehr interessante Spielmimik an den Tag legende Pianist läßt sich auch nicht lange zu einer Zugabe bitten und sorgt zudem unfreiwillig für Heiterkeit, als er nach dem letzten Vorhang beim Abgang über seinen Klavierhocker fällt.
Nikolas Nägele hat nach der Pause die vermutlich schwierigste Aufgabe des Abends zu lösen: Wie deutet man Dmitri Schostakowitschs 6. Sinfonie h-Moll? Sie steht immer ein wenig im Schatten ihrer Nachbarwerke, der pflichtschuldig optimistischen Fünften mit ihrem erzwungen-fröhlichen Finale und der kriegerischen Siebenten mit ihrem gewaltigen ersten Satz. Daß die Sinfonie nur dreisätzig ist, mit einem riesigen Largosatz beginnt und ihr quasi der Kopfsatz fehlt, sie also kopflos ist, kann man als so plakatives Zeichen für die Ausdünnung der sowjetischen Intelligenzia durch Stalin in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre werten, daß keiner ernsthaft in Betracht gezogen hat, es könne ernst gemeint sein. Schostakowitsch aber war es ernst damit, todernst sogar - auch sein Leben hatte während der Säuberungen oftmals am seidenen Faden gehangen, und nur weil Stalin ihn offenbar noch für nützliche Tätigkeiten wie das Komponieren von Filmmusik benötigte, blieb er in diesem Lotteriespiel letztlich am Leben. Und so wird diese 6. Sinfonie, uraufgeführt 1939, plötzlich zu einem Abbild der Jahre zuvor: der Trauer der Intelligenzia über ihre gewaltigen Opfer und der nervösen Freude, selber am Leben geblieben zu sein, immer gepaart mit der staatlichen Anordnung zur Freude über die weisen Entscheidungen des Genossen Stalin, die Schostakowitsch schon im Finale der Fünften gegeißelt hatte und deren Untertöne von den westeuropäischen Hörern kaum je wahrgenommen wurden. Und der Komponist bietet dem Dirigenten in seiner Sechsten ein umfangreiches Arsenal an Gestaltungsmöglichkeiten, dessen sich Nägele auch mit Freude und Geschicklichkeit bedient, ohne daß der 1987 in Radolfzell am Bodensee Geborene praktische Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus gesammelt hat. Schon die in der Eröffnung des Largos geschichteten, scheinbar harmlosen Streicher entfalten bald gekonnte Störeffekte, und Nägele beginnt das Orchester zum Lavieren zu bringen, einige sehr eindringliche Elemente wie den Piccolosoli über den vereinzelten Kontrabaßtönen inclusive. Gellende Trompeten und Streicher bereiten einen äußerst dramatischen großen Ausbruch vor, der schnell zusammenbricht - und danach beginnt Nägeles Meisterstück: Solche Spannung in die düsteren, leisen, nur von einem großen Schicksalsbogen unterbrochenen Passagen hineinlegen zu können, das bedarf einer fähigen Hand, und die hat der Dirigent offenbar, selbst wenn in Details immer noch gefeilt werden kann: Im Satzschluß klingen die ersten Violinen noch aus, während Nägele seine Hände schon wieder unten hat. Das Allegro an zweiter Stelle läßt Vögel zwitschern und Bäche murmeln, aber alles mit übertriebenem und nervösem Ausdruck, und den bekommen Dirigent und Orchester auch sehr gekonnt hin. Von den beiden zentralen Ausbrüchen liegt der zweite schon fast am Dynamikgipfel, aber auch er bricht schnell zusammen, und die niedergetrampelte Wiese beginnt dann doch hier und da wieder zu blühen. Satz 3, "Presto" überschrieben, bringt wiederum ein für Schostakowitsch typisches Stilmittel: Immer wieder mischen sich zirkusartige Klänge in die diesmal äußerst plakativ nervöse Freude des Sowjetmenschen, und daß die Violinen anfangs ein an Rossini erinnerndes Thema einwerfen, ist natürlich auch alles andere als Zufall. Alles wirkt auch hier aufgesetzt und übertrieben - keine leichte Darstellungsaufgabe, aber eine, die Dirigent und Orchester auch hier problemlos meistern, und die musikalische Umsetzung einer Zwangsjacke läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Daß der zentrale Ausbruch dieses Satzes lange nicht so intensiv ausfällt wie der im zweiten, ist natürlich Absicht und reiht sich ins interessante Verwirrspiel des Ganzen problemlos ein. Das Publikum im sehr gut gefüllten Großen Saal der Hochschule bedenkt Dirigent und Orchester dann auch mit verdienten Bravorufen und langem Applaus.



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