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5. Philharmonisches Konzert   12.02.2012   Dresden, Kulturpalast
von rls

Die Dresdner Philharmonie widmet das 5. Sinfoniekonzert ihrer Spielzeit 2011/2012, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen erklingend, der Zerstörung ihrer Heimatstadt durch die Bombenangriffe fast genau bzw. exakt 67 Jahre zuvor. Welches Werk eignet sich für so ein Gedenkkonzert besser als Dmitri Schostakowitschs 7. Sinfonie, als "Leningrader" apostrophiert. Und es ist im Prinzip egal, welche der beiden Deutungshauptvarianten dieses Werkes man nun bevorzugt, ob man also der offiziellen Linie folgt und das Werk auf die Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg bezieht oder ob man einbezieht, daß Schostakowitsch die Grundzüge der Sinfonie, besonders des eine Schlüsselrolle einnehmenden ersten Satzes, bereits fertig hatte, als der Hitler-Stalin-Pakt noch galt und der Gröfaz und der Generalissimus sich zumindest partiell bestens verstanden, so daß sich das berühmte Variationsthema, das einen fremden Einmarsch und die Zerstörung einer Idylle darstellt, eben nicht auf die Wehrmacht beziehen kann, sondern eine Karikatur des Generalissimus darstellt: Beide Deutungsvarianten weisen genügend Parallelen zum Schicksal Dresdens auf, um die Wahl programmatisch äußerst sinnvoll erscheinen zu lassen, und mit dem Dirigenten Michael Sanderling hat man zudem einen exzellenten Mann für diese Sorte Musik im Hause: Vater Kurt Sanderling hat einige sehr starke Schostakowitsch-Sinfonieeinspielungen vorgelegt und galt als eine der profiliertesten Kräfte auf diesem Gebiet, und Sohn Michael hat davon offensichtlich einiges geerbt.
Trotzdem erlebt der Rezensent eine gehörige Überraschung. Normalerweise muß man sich nach einer guten Aufführung der Leningrader Sinfonie so fühlen, als sei gerade ein Panzer über einen hinweggerollt. Das ist an diesem Abend anders - und es ist vor allem nicht weniger gut. Vielleicht hält die Bauweise des Kulturpalastes, die den von der Bühne kommenden Schall schnell in die Breite trägt, eine Aktie daran, vielleicht sitzt der Rezensent (der bisher in diesem Raum ausschließlich Rockkonzerte erlebt hat, also zu den gängigen Soundverhältnissen bei dortigen Klassikkonzerten nichts sagen kann) auch zu weit vorne und bekommt daher einen noch nicht vollständig ineinandergeflossenen Schall der verschiedenen Instrumentengruppen mit - aber so transparent wie an diesem Abend hat er diese Sinfonie jedenfalls noch nicht erlebt und stellt überrascht fest, in bestimmten Passagen Instrumente wahrzunehmen, die er dort noch nie wahrgenommen hat. Sanderling und die Dresdner Philharmonie schaffen allerdings das Kunststück, aller Transparenz zum Trotz Power und Brutalität trotzdem angemessen zu transportieren. Nur wird man in diesem Fall eben nicht vom Panzer überrollt, sondern mit einer Laserwaffe in Scheiben geschnitten. Die gab es zwar im Zweiten Weltkrieg noch nicht, aber das raubt der Grundaussage nicht ihre Wirkung.
Die überraschende Transparenz nimmt man jedenfalls schon im Eröffnungsbombast wahr, der mit erstaunlicher Weichheit von der Bühne geflogen kommt. Daß das zweite Thema unter diesen Umständen geradezu hochromantisch ausfallen muß, versteht sich von selbst (Sonderlob an die Flöte!). Die nicht ins Bild passende zu nervöse Piccoloflöte macht eine traumhafte Solovioline locker wett. Die Invasion beginnt akustisch sehr weit entfernt, die Dynamikkurve zeichnet Sanderling ohne viel Mühe, dafür mit einem detailverliebten Händchen. Daß der Rezensent relativ nahe an den Kontrabässen sitzt, erlaubt ihm die Wahrnehmung von deren strukturimmanenter Wirkung in manchen Passagen, etwa der dritten Variation, besonders deutlich, aber generell wirkt das Orchester hier eben nicht wie eine lückenlos marschierende Grenadierreihe, sondern wie ein offener Schützenschwarm, um mal ein Bild aus dem Krieg Napoleons gegen Preußen 1806 zu adaptieren. Der Höhepunkt des Kampfes erschallt extrem laut, aber auch dieser Lärm verteilt sich in der Breite und fasert sozusagen aus - richtige Massivität, wie man sie sonst an dieser Stelle gewöhnt ist, klingt anders, aber auch Sanderlings Herangehensweise hat wie berichtet ihren Reiz. Die Stimmung im fagottdominierten Trauergesang wird etwas durch das unruhige Publikum torpediert, aber im Satzschluß liegt die Dynamik dann wieder in der Nähe der Grasnarbe und wird auch nicht entscheidend gestört.
Vor dem Problem, daß die Sätze 2 bis 4 eigentlich nur ein großer Appendix zum gewaltigen ersten sind, stehen alle Dirigenten gleichermaßen und damit auch vor der Aufgabe, was sie jetzt noch machen wollen. Sanderling jedenfalls verfolgt seine Transparenzstrategie weiter. Das Moderato beginnt ebenso leise, wie der erste Satz ausgeklungen ist, und verschafft den Kämpfenden eine verdiente Ruhepause. Das Tempo bleibt relativ weit unten, einige hübsche Wirkungen ermöglichend, bevor verstimmtes Holz zu einem russischen Fest mit mancherlei geistigem Getränk ruft. Die Stufung der Rückführung paßt ebenso wie die mehr als nur latente Nervosität im Holz danach, bevor die Streicher nachhaltig für Beruhigung sorgen und die Dynamikkurve wieder in die Nähe des Erdbodens zeigt.
Nicht als programmgemäß geht die leichte Harfenunordnung im Intro des Adagios durch, aber die hat man spätestens nach den sehr ausdrucksstarken finsteren Passagen des Kontrafagotts wieder vergessen. Sanderling nimmt hier das Tempo noch konsequenter heraus als zuvor und verstärkt damit die Wirkung des wild galoppierenden Zwischenteils, der trotzdem nicht an Semjon Budjonny erinnert und in seiner Energie mäßig bleibt. Viel Ruhe bekommen Musiker und Dirigent ins Kontrabaßsolo und den anschließenden Scheinfrieden hinein. Das Finale folgt attacca und bietet nach einer gekonnten Nervösmachung die einzigen Anflüge von richtiger Kampfeswirrnis alter Schule. Nach dem endlosen Lavieren treten im Schlußteil nämlich wieder die Laserwaffen an die vorderste Front und zerlegen den Gesamtklang wie das Ohr des Hörers in einzelne Schichten, was eine eigenartige Stimmung hervorruft. Freilich liegt es nicht an dieser ungewohnten transparenten Lesart, daß eine merkwürdige Reaktion erfolgt: Zunächst steht die Spannung nach dem Schlußton nicht. Im Programmheft war gebeten worden, am zweiten Abend, also dem der Zerstörung Dresdens vor 67 Jahren, nicht zu klatschen. An diesem Abend nun macht sich Unsicherheit breit, wie man angemessen reagieren soll: Einige klatschen, andere nicht, einige stehen auch stumm auf. Letztlich bricht sich der auch die Beklemmung des Publikums sprengende (und verdiente!) Beifall dann doch Bahn, und die beiden Schlußgesten lösen das Problem schließlich in Wohlgefallen auf: Das Orchester verneigt sich komplett in Richtung des Publikums (aber natürlich dieses nicht meinend, sondern die Opfer, denen das Konzert gewidmet ist), und Sanderling legt seinen Blumenstrauß auf die Partitur, was mehr sagt als tausend Worte.



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