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Der Freischütz   02.06.2015   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

"Johotralala" verkündet das Plakat zum diesjährigen Opernprojekt der Leipziger Musik- und Theaterhochschule, aber die Typographie läßt schon erahnen, daß Regisseur Matthias Oldag und seine Kreativfraktion das ironisch meinen dürften, und diese Vermutung stellt sich auch als goldrichtig heraus: "Johotralala" gibt es allenfalls in diversen musikalischen Aspekten und selbst da nicht zwingend ganz so, wie sich das mancher Traditionalist gern wünschen würde. Und obwohl sich diverse Grundaspekte der Oldag-Inszenierung auch so erschließen lassen, hilft ein Blick ins Programmheft bei der Ausfeilung eines zentralen Aspektes definitiv weiter. Lisanne Wiegend lenkt dort nämlich die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß Weber die Handlung im bzw. unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg angesiedelt hat, selbst aber auch in einer unmittelbaren Nachkriegszeit agierte: Wenige Jahre vor dem Entstehen des "Freischütz" waren in den napoleonischen Kriegen bisher unbekannte Truppenmassen durch die deutschen Lande geflutet, und auch wenn man das Ende der französischen Herrschaft überwiegend als Befreiung empfand, so war dieser Befreiung doch ungeahntes Leid vorausgegangen. Oldag nun siedelt seine Inszenierung in einer anderen Nachkriegszeit an, nämlich der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, auf die sich so manches im vorigen Satz Gesagte analog übertragen läßt. Das und auch so manches Detail gefällt freilich nicht jedem Besucher, so daß die Inszenierung sehr kontrovers diskutiert wird und nach der vierten Vorstellung, die der Rezensent erlebt, gar ein Publikumsgespräch in der Hochschule anberaumt wird, in dem fast bis zu mitternächtlicher Stunde hitzige Debatten geführt werden, teils sachlicher, teils auch ideologischer Art, ob man denn so etwas "dürfe", den Slogan "Nie wieder Krieg" schief in den Raum hängen etc. pp.
Überwiegend, so muß man als neutraler Beobachter, der zudem reichlich 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde, festhalten, spielt Oldag gekonnt auf der Klaviatur der Mittel, die ihm diese Zeitstellung zur Verfügung stellt. Kilian, der reiche Bauer im ersten Akt, begegnet uns als amerikanischer Kommandant Magdeburgs - so vermutet man jedenfalls, denn im Programmheft wird explizit auf das gern übersehene Detail hingewiesen, daß Kaspar bei der Zerstörung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg dabeigewesen sei. Gerade hier wirkt das Ganze aber nicht bis zu Ende gedacht, denn das auf die zwischen die Bühne und das dahinter sitzende Orchester gespannte halbtransparente Leinwand projizierte Trümmerfoto stammt gar nicht aus Magdeburg (das im Zweiten Weltkrieg ja abermals weitestgehend zerstört wurde), sondern aus Dresden. Samiel wird als Frauenrolle besetzt und hat im ersten und dritten Akt noch eine Zusatzfunktion, indem er als gepeinigte Germania durchs Bühnenbild rennt und Untergangsstimmung verbreitet - offenbar hat Oldag Rosamund Gilmores Mythische Elemente im derzeit an der Leipziger Oper geschmiedeten "Ring" für seine Zwecke adaptiert, und die Funktion als Störelement erfüllt diese Figur zumindest im ersten Akt ganz ausgezeichnet, denn in diesem geht so ziemlich alles den Bach runter, was nur den Bach runtergehen kann, und so erschafft der Regisseur eine erstklassig verstörende Dystopie, während er den zweiten Akt eher als klassische Horrorgeschichte ohne expliziten Zeitbezug umsetzt, was aber durchaus nicht schlecht ans zuvor Gehörte und vor allem Gesehene paßt. Umso unverständlicher dann der Umschwung im dritten Akt: Hat Oldag Angst vor der eigenen Courage bekommen, oder warum läßt er die bisher ziemlich stimmige düstere Inszenierung in der Jungfernkranz-Szene plötzlich in Klamauk abkippen, der dann auch bis fast zum Schluß völlig unpassenderweise die Szenerie bestimmt? Erst mit dem Eingreifen des Eremiten kommt Oldag wieder "auf Linie" und zaubert einen exzellenten dystopischen Schluß hervor: Mit dem Eremiten als hochrangiger Offizier zitiert er seine eigene "Zauberflöte"-Inszenierung, und der jubelnde Schluß gerät so motorisch, militärisch und damit verstörend, daß einem unwillkürlich das Finale von Schostakowitschs 5. Sinfonie in den Sinn kommt, zu dem der Komponist ja auch das Motto "Jubeln sollt ihr!", ausgerufen von den prügelnden Machthabern, bekanntgegeben hatte, wenngleich nur inoffiziell. Aber die militärische Komponente des Finales paßt wiederum bestens in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der trotz der Befreiung vom Nationalsozialismus keineswegs Friede, Freude, Eierkuchen herrschte, weder im lokalen noch im globalen Maßstab - ja, und dann darf "Nie wieder Krieg" schief hängen, muß es vielleicht sogar.
Die offenkundige Deromantisierung der Weber-Oper pflanzt sich auch bis ins Orchester fort: Zumindest an diesem Abend (es spielt die Zweitmannschaft - auch die Orchesterbesetzung bestreitet nicht alle sechs Aufführungen) intoniert vor allem das Blech schon seine markanten Passagen in der Ouvertüre derart militärisch-zackig, daß man bereits gewisse Ahnungen zu hegen beginnt. Matthias Foremny am Pult hat zwar die ganze Spielzeit mit gewissen Einsatz- und Abstimmungsproblemen zu kämpfen, aber was er stimmungs- und klangfarbenseitig aus den Musikern hervorholt, das überzeugt ohne Wenn und Aber. Bei den Sängern herrscht ein bunter Qualitätsmix, für den Elisabeth Rauch als Agathe zusammenfassend steht: Anfangs nach dem Motto "viel Power, wenig dahinter" oder (sorry für das Wortspiel) "viel Rauch um nichts", steigert sie sich im Verlaufe der Aufführung deutlich, wobei der Kontrast zu Anne Petzsch als Ännchen hilfreich sein mag: Die nervt - aber das muß sie in dieser Inszenierung auch. Und Ricardo Llamas als Kaspar hört man die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache deutlich an - aber der Spanier paßt trotzdem oder eben auch gerade deswegen prima in die Aufführung, weil man ihn sich als Fremdkörper vorzustellen hat, dem man auch abnimmt, daß er als ausländischer Söldner 1631 Magdeburg mit niedergebrannt hat (nicht zuletzt der Optik halber). Einige extrem bedrohlich wirkende Szenen mit ebensolcher Musik dargeboten zu haben darf sich der Opernchor der Hochschule gutschreiben lassen - daß der Jungfernkranz-Klamauk nicht funktioniert und es mit dem Jägerchor kaum besser aussieht, ist ja nicht ihm zuzuschreiben. Denn obwohl die Zwischentexte und Handlungsweisen vor allem im ersten Akt sowie im Finale des dritten kongenial auf die dystopische Wirkung hin umgesetzt und umgeschrieben wurden, so funktioniert ebendas mit der Klamaukphase eben nicht. (Und eine Zeitzeugin wies den Rezensenten darauf hin, daß man auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht in Arbeitskleidung zu einer Hochzeit erschien, sondern alle Hebel in Bewegung setzte, um zumindest irgend etwas halbwegs festlich Aussehendes tragen zu können.)
So bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Der dystopische Nachkriegs-"Freischütz" ist eine prima Idee, und phasenweise zeigt die Inszenierung, wie er kongenial und in gewisser Weise radikal, auf alle Fälle aber konsequent hätte umgesetzt werden können - eine Konsequenz, die der letztlich gespielten Fassung leider fehlt.



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