www.Crossover-agm.de
Siegfried   24.05.2015   Leipzig, Oper
von rls

Daß die Leipziger Oper die Besucher des Wave Gotik Treffens als Zielgruppe entdeckt hatte, ist so neu nicht - man erinnere sich an die Aufführung des Verdi-Requiems im Gewandhaus am Pfingstfreitag 2007, als eine riesige Schlange Schwarzgekleideter an der Abendkasse nach Restkarten anstand und die Orgelempore des Gewandhauses dann mehr oder weniger nur eine Farbe kannte. Nun steht am Pfingstsonntag die dritte Aufführung von "Siegfried" an, dem dritten Teil der Tetralogie "Der Ring des Nibelungen", und auch hierfür wissen sich einige WGT-Besucher zu begeistern, was freilich für sonst eher seltene Probleme sorgt, indem der Kopfschmuck mancher Dame durchaus geeignet ist, das Sichtfeld der hinter ihr Sitzenden etwas zu beeinträchtigen. So ein Wesen sitzt einige Plätze rechts neben dem Rezensenten, aber in diesem Falle nehmen es die hinter ihr Sitzenden mit Humor, und da die Dame samt Begleiter nach dem zweiten Akt verschwindet (was aber ein Einzelfall bleibt), ist die freie Sicht im dritten Akt wieder hergestellt.
Das Interesse verwundert freilich nicht, denn der "Ring" als Ganzes wie auch "Siegfried" selbst beinhaltet durchaus Elemente, die man in anderem Kontext auch in der Gothic-Szene verarbeitet findet (das Ragnarök-Motiv an vorderster Stelle), und weite Teile der Musik sind düster genug, um allein schon deshalb für gewisse Schnittmengen in den Zielgruppen zu sorgen. Freilich beinhaltet "Siegfried" ein Happy End (wenngleich kein ungetrübtes, denn alle Elemente der dann in der "Götterdämmerung" hereinbrechenden Katastrophe sind hier bereits vorhanden bzw. vorangelegt), aber das ist ja kein Anzeichen für Gothic-Inkompatibilität, und da viele Gothics durchaus auch mal über sich selbst lachen können, haben wir schon eine weitere Parallele: Der dritte Akt wirkt aus heutiger Sicht textlich derart komisch, daß es schwerfällt, ihn als Katastrophenvorbote ernstzunehmen (schon zuvor hat man über Wagners Alliterationsexzesse eher belustigt den Kopf geschüttelt). Regisseurin Rosalind Gilmore tut das scheinbar trotzdem, aber auch wiederum nicht: Sie weicht einerseits nicht von ihrer Linie ab, eine historisch orientierte Inszenierung zu schaffen, die zu 97% auch schon vor 100 Jahren über die Bühne hätte gehen können - aber das Mischungsverhältnis ist diesmal etwas anders als in der "Walküre". Die Mythischen Elemente fügen sich nämlich diesmal so organisch ins Gesamtgeschehen ein, daß man sie in die 97% einzurechnen geneigt ist, vielleicht mit Ausnahme von Ziv Frenkel, der im dritten Akt wieder Brünnhildes Roß Grane spielen muß, sich aber eher im Hintergrund hält, während Sandra Lommersheim als hochelegantes weißes Waldvöglein so anmutig durch die Szenerie schwebt, daß sie ohne Wenn und Aber dazugehört. Dafür versucht Gilmore diesmal aber eine stärkere ironische Brechung einzubringen, indem in Mimes Schmiedewerkstatt im ersten Akt beispielsweise ein Kinderwagen und ein Sonnenschirm stehen und der Zwerg seine Giftküche mit einem durchaus modernen Kocher samt Feuerzeug ausgerüstet hat. Am rechten Bühnenrand steht zudem ein Fahrrad (ein älteres Modell ohne Gangschaltung), das dann im zweiten Akt sogar noch praktisch eingesetzt wird, indem Mime mit ihm zur Höhle Fafners fährt, während der jugendliche und vor Kraft strotzende Siegfried laufen muß. Stärker als diese Elemente, die eher stören als bereichern, wirkt aber die Zeichnung Siegfrieds als großes Kind mit Bärenkräften und dem Verstand eines Pantoffeltierchens ironisch brechend, und selbst als er im letzten Akt Wotans feuerfestes Hemd und eine moderne Hose anstatt seiner Latzhosenkluft trägt, bleibt er doch das große Kind, das, als er feststelt, daß er da keinen Krieger, sondern mit Brünnhilde eine ausgewachsene Frau aufgeweckt hat, als erstes an seine Mutter denkt (und interessanterweise Brünnhilde später Liebesdetails verspricht, von denen er eigentlich noch gar nicht wissen kann, daß sie existieren). So ergibt sich selbst in der Entwicklung des Schlußbildes, als Siegfried und Brünnhilde nach intensiver und langwieriger Erörterung und Beratung der damit verbundenen Gefahren dann doch noch übereinander herfallen, kein strahlender Held als Schlußbild, obwohl Wagner einen solchen durchaus im Sinne hatte (und interessanterweise Siegfried von keinem der fallenden Lindenblätter getroffen wird!). Daß das Kind durchaus gefährlich ist, zeigt der Kampf mit Fafner, für den Gilmore einfache, aber wirkungsvolle Tricks anwendet (der Drache sitzt wieder in Riesengestalt auf einem Sofa, und die Mythischen Elemente spiegeln das Kampfgeschehen), und daß neben dem geldgierigen, aber primitiven Mime sein Bruder Alberich als geschickter Plutokrat gezeichnet ist, paßt bestens ins Gesamtbild, trotz oder auch gerade wegen der geringfügigen Abweichung von der Linie der Historienvorstellung. Interessantes Detail am Rande: Vor Mimes Haus wächst eine Wiese, und auch Fafners Höhleneingang ist bewachsen - aber Brünnhildes Felsen bleibt kahl, selbst wenn Grane laut Text nach seiner Wiedererweckung (wie hat Siegfried das eigentlich gemacht und wann?) schon wieder etwas zum Grasen findet.
Hatte in der "Walküre" das im Graben agierende Gewandhausorchester unter Ulf Schirmer Grund zur Kritik abgegeben, so funktioniert die Gesamtbalance diesmal wieder deutlich besser, und obwohl gerade aus dem tiefen Blech deutlich zu viele Holperer kommen, so ist doch genau dieses tiefe Blech maßgeblich für viele der düsteren Stimmungen, so etwa gleich zu Beginn der ersten beiden Akte, verantwortlich und entledigt sich dieser Aufgabe in hochklassiger Manier. Auch das alte Wagner-Problem, daß die Sänger an besonders dramatischen Stellen vom Orchester zugedeckt zu werden drohen, bekommt Schirmer meist in den Griff - außer bei Dan Karlström als Mime, der aber sowieso mit dieser Rolle überfordert scheint, kaum listig wirkt und ziemliche Kreativität an den Tag legt, was die Aussprache des Textes betrifft. Letzteres Problem betrifft anfangs auch John Lundgren als Wanderer (= Wotan), aber der steigert sich während seiner Auftritte enorm und führt ein durchaus beeindruckendes Stimmpotential ins Feld. Eun Yee You als Waldvögleinstimme versteht man nur mittels der Übertitel - die Idee, sie aus der Distanz singen zu lassen, war vielleicht doch nicht die beste, während Fafners "Höhlenstimme" (Rúni Brattaberg) überzeugt und der Bassist auch sonst seine Sache gut macht, ebenso wie Jochen Schmeckenbecher als Alberich. Christian Franz in der Titelrolle hat mit Abstand am meisten Singarbeit, und er steht diese Kraftprobe problemlos durch, ohne aber stimmgestalterische Bäume auszureißen. Letzteres bleibt Nicole Piccolomini als Erda vorbehalten, die nur im dritten Akt und dort auch nicht allzulange im Einsatz ist, aber mit ihrem vielschichtigen Mezzo der müden Erdgöttin Profil zu verleihen imstande ist, obwohl es sich zumindest im "Siegfried"-Rahmen nur um einen Nebenkriegsschauplatz handelt (dessen Bedeutung dann erst in der "Götterdämmerung" offenbart wird). Daß sie auch optisch aufs WGT passen würde, dürfte freilich Zufall sein (die Premiere hat bereits sechs Wochen zuvor stattgefunden). Tja, und dann wäre da theoretisch noch Elisabet Strid als Brünnhilde, wenn, ja wenn sie nicht anderthalb Tage vorher von einem grippalen Infekt befallen worden wäre. Zum Glück ist Irene Theorin, die fünf Tage später in der "Walküre" Brünnhilde singen wird, bereits in der Stadt und erklärt sich kurzfristig zum Einspringen bereit. Wäre das nicht vorab verkündet worden, am Spiel hätte man es nicht gemerkt, und auch stimmlich zieht sich Theorin erstklassig aus der Affäre, mixt Dankbarkeit, Hektik und diverseste andere Schattierungen äußerst gekonnt, kriegt auch den hohen Schluß noch hin (wenngleich ein wenig die Leichtigkeit fehlt) und bildet somit einen mehr als würdigen Ersatz in einer interessanten Aufführung, die für die "Götterdämmerung" eine Kombination der Stärken aller drei bisherigen Teile erhoffen läßt. www.oper-leipzig.de informiert über Termine und alles weitere Wissenswerte.

Die Mythischen Elemente auf der Wiese vor Mimes Behausung  Der Wanderer bedroht Mime

Siegfried  Siegfried und sein Opfer

Alberich und Mime beraten über die Verteilung der Beute  Das Waldvöglein zwitschert

Wie bekomme ich Brünnhilde wieder wach??

Fotos: Tom Schulze (Oper Leipzig)



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver