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Giuseppe Verdi: Requiem   25.05.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Wieso setzt die Oper Leipzig ausgerechnet zu Pfingsten Verdis Requiem an zwei Abenden auf den Spielplan? Wie geschickt dieser Schachzug ist, offenbart sich am ersten der zwei Abende, wenn man sich dem Gewandhaus nähert. Vor der Abendkasse steht nämlich eine Schlange von geschätzt 200 Besuchern des gleichzeitig in der Messestadt stattfindenden Wave Gotik Treffens und hofft, noch Restkarten zu bekommen. Einige Tickets sind tatsächlich noch zu vergeben, und so nehmen die in ihre typischen Gewänder gehüllten Gothics letztlich etwa ein Drittel der Orgelempore ein - ein mehr als ungewohntes Bild im Gewandhaus, aber im Sinne der Aufbrechung des klassischen Elfenbeinturmes und der Gewinnung neuer Publikumsschichten natürlich mehr als begrüßenswert und zudem sicher auch finanziell für den Veranstalter kein schlechtes Geschäft, wenngleich von den Plätzen in der teuersten Kategorie dann doch einige leer bleiben. Daß die Veranstaltung im Gewand- und nicht im Opernhaus über die Bühne geht, findet seine simple Erklärung in den Bauarbeiten, die das letztgenannte momentan außer Gefecht setzen, aber da das Gewandhausorchester ja zugleich auch als Opernorchester arbeitet und Riccardo Chailly nicht nur Gewandhauskapellmeister, sondern auch Generalmusikdirektor der Oper ist, bereitet die Verlagerung von der Nordseite des Augustusplatzes auf seine Südseite keine Probleme.
Chailly steht auch selbst am Pult des Gewandhausorchesters, und das erweist sich als Glücksfall. Klischee hin, Klischee her: Verdis Requiem ist Italienische Oper mit Requiemstext, und Chailly ist Italiener und scheint diese Musik im Blut zu haben. Die These, daß diese Konstellation dem Werk durchaus förderlich sein kann, findet eine weitere Bestätigung in der vierköpfigen Solistenriege, aus der einer turmhoch herausragt: der Tenorist Massimo Giordano - der Leser ahnt es schon: Es ist der einzige Italiener unter den vieren, und das hört man auch. Genau die richtige Dosis Pathos, immer kurz vorm Überkippen in den Kitsch, dabei trotzdem so laut und deutlich wie ein römischer Offizier, so daß man ihn selbst vom Platz des Rezensenten aus klar vernehmen kann, was nicht die Regel ist: Der Rezensent sitzt nämlich Parkett links in der 4. Reihe, was an diesem Abend allerdings die 1. Reihe bedeutet, denn die drei Reihen davor sind abgebaut worden, um der notwendigen Erweiterung des Orchesterpodiums Raum zu schaffen. Der Platz liegt fast rechtwinklig zu den vier Solisten, die also in eine ganz andere Richtung singen, trotzdem nahe genug an ihnen, um ihre Stimmen noch nicht im vermischten Gesamtklang zu hören, was eine Unbewertbarkeit des Zusammen"spiels" nach sich zieht. Bassist Ildar Abdrasakow, der aus Rezensentenrichtung noch hinter dem Tenor steht, geht akustisch dementsprechend etwas unter, aber wenn er mal zu hören ist, dann beweist er voluminöse Power in den tiefen Lagen, aber auch Fähigkeiten in den höheren, ohne allerdings richtig zu glänzen. Das schaffen auch die beiden Damen nicht. Ines Salazar singt einen soliden Sopran mit ein paar kleinen Geniestreichmomenten (weiche Übergänge in großen Höhen hinzubekommen ist schwierige Kunst - Verdi fordert diese Kunst mehrmals heraus, Salazar ist ihr nicht durchgehend, aber zumindest punktuell gewachsen), María José Montiels Mezzosopran läßt besonders zu Beginn die tonliche Treffsicherheit des öfteren vermissen, was durch eine gute Affektdarstellung nicht aufgewogen werden kann; sie steigert sich im Verlaufe der anderthalb Stunden noch, ohne allerdings richtig zu überzeugen, was die Tatsache, daß sie von den Solisten den stärksten Applaus erhält, doch relativ paradox macht. Over the top singt wie erwähnt einzig Tenorist Massimo Giordano, der Italiener, und damit kann er Riccardo Chailly die Hand reichen, denn auch der Dirigent scheint in dieser Musik förmlich aufzugehen. Zwar liefert ihm Verdi kaum Gelegenheiten, eine seiner ganz großen Stärken auszuleben, nämlich das Ausspielenlassen ersterbender Passagen und ihre Transformierung in eine förmlich mit Händen zu greifende Spannung, aber Chailly (der übrigens den kompletten Text vor sich hin mitsingt) brilliert statt dessen eben in der Gestaltung der Laut-Leise-Dynamiken, wozu ihm allein das ausladende Dies Irae reichlich Stoff bietet. Viel raumgreifender kann man die lauten Parts sinnvoll vermutlich nicht inszenieren, zumal auch die Ferntechnik mit einigen Emporenbläsern wieder zum Zuge kommt und für Surroundfeeling sorgt. Das sehr deutlich modellierte Sanctus bildet einen weiteren Höhepunkt der Aufführung (der Chor, zusammengesetzt aus dem GewandhausChor und dem erweiterten Opernchor, bekommt die Fugenstruktur so plastisch hin, daß man daraus ein Haus bauen könnte), wohingegen beispielsweise das Agnus Dei etwas zu ungeordnet daherkommt, was allerdings auch ein Eindruck des akustisch schwierigen Platzes des Rezensenten sein kann, der zwei Meter vom vordersten Kontrabaß entfernt sitzt und etwa den Chor nur durch eine Streicherwand hindurch hören kann; trotzdem entsteht in ihm der Wunsch, die Solisten hätten sich auf eine einheitliche Aussprache mancher Worte (z.B. "rationis" im Dies Irae) geeinigt. Das bleibt allerdings ein kleiner Schönheitsfehler einer starken Aufführung, die vom Publikum mit minutenlangen Standing Ovations und lauten Bravorufen gefeiert wird und damit einen würdigen Grabstein für Alessandro Manzoni (den italienischen Dichter, anläßlich dessen Tod Verdi anno 1873/74 das Requiem komponiert hatte) und Romano Gandolfi (dem Andenken des 2006 verstorbenen Leiters des Mailänder Verdi-Chores, der mit seinem Ensemble schon 2004 mit dem gleichen Werk unter Chailly an der Leipziger Oper zu hören gewesen war, widmete die Oper diese beiden Aufführungen im Mai 2007) setzt.



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