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Leipziger Universitätsorchester   08.02.2015   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Das Leipziger Universitätsorchester ist für stilistisch bunte Programme bekannt, und ein solches steht auch im diesmaligen Semesterkonzert an, wobei man allerdings bei genauerer Betrachtung überrascht bemerkt, daß alle drei Werke praktisch zur gleichen Zeit entstanden sind, nämlich kurz vor oder kurz nach 1890. Nun ist entsprechende Buntheit trotz gleicher Entstehungszeit ja nichts Ungewöhnliches, nicht in der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit (man stelle sich ein 1981-Programm mit "Fire Down Under" von Riot, Angelika Manns "Was treibt mich nur?", AC/DCs "For Those About To Rock" und dem Trio-Debütalbum vor) und natürlich auch nicht in weiter zurückliegenden Perioden. Trotzdem können sich durchaus homogene Programme ergeben, wie dieser frühe Abend im sehr gut gefüllten Gewandhaus unter Beweis stellt (und im obengenannten Fall brauchte man ja auch nur Angelika Mann durch "4" von Foreigner und Trio durch Black Sabbaths "The Mob Rules" zu ersetzen, um einen gepflegten und dennoch bunten 1981-Hardrockabend zu verbringen).
Daß Opernouvertüren ein Eigenleben als Konzertstücke zu führen beginnen, ist so ungewöhnlich nicht, und Engelbert Humperdincks Ouvertüre zur Märchenoper "Hänsel und Gretel" gehört zweifellos in diese Kategorie - ein dankbares und zugängliches Stück, zudem ideal zum "Warmspielen". So brauchen die Hörner gleich zu Beginn ein wenig Anlaufzeit, bis ihre choralartigen Passagen richtig sitzen, auch die Flöten sind vor der ersten Tempoverschärfung noch nicht richtig warm, und im Tutti herrscht auch noch etwas Unordnung, was aber die Entfaltung einer richtigen klangschönen Landschaft nur unwesentlich behindert. Manche Lautmalerei ruft einem längst vergangene Zeiten ins Gedächtnis, und Dirigent Raphael Heger hält das Orchester hier von jeglichen dynamischen Extremen fern, was das Gesamtbild durchaus homogen, aber auch einen Tick zu unauffällig erscheinen läßt. Liegt's daran oder am holzseitig verhagelten Schlußton, daß der Applaus eher mager ausfällt?
Gustav Mahlers "Wunderhorn"-Lieder haben einen ganz speziellen Leipzig-Bezug, da sie zum Teil hier komponiert wurden, als Mahler nur ein paar Meter weiter am anderen Ende des Augustusplatzes, nämlich im Neuen Theater, als Zweiter Kapellmeister angestellt war. An diesem Abend erklingt eine Auswahl von sieben Liedern mit zwei Solisten, wobei Isabelle Voßkühler kurzfristig für die erkrankte Henriette Reinhold eingesprungen ist. Ihre dadurch bedingte kurze Vorbereitungszeit fällt nicht ins Gewicht - im Gegensatz zu ihrem männlichen Partner Diogo Mendes kann sie von Anfang an überzeugen. Bereits im witzigen Duett "Verlor'ne Müh'!" führt sie von Beginn an eine im besten Sinne als normal zu bezeichnende Sopranstimme ins Feld und gestaltet interessante Steigerungen, während Mendes sich hier noch nicht so richtig durchzusetzen weiß und einen eher blassen Eindruck hinterläßt. "Das irdische Leben" demonstriert die Gefahr, daß aber auch die Sopranstimme in den tieferen Lagen vom Orchester zugedeckt werden kann, was den exzellent arrangierten Stimmungsschwankungen zwischen Hoffnung und Düsternis einen Deut seiner Wirkung raubt. Dafür entschädigt der brillant komponierte und brillant gespielte Orchesterschluß: Der Sensenmann winkt aus den Violinen, die Tiefstimmen erwecken den Anschein einer totalen Verwirrung, und mit einem einzelnen Gongschlag bleibt die Lebensuhr stehen. "Des Antonius von Padua Fischpredigt" zeigt Mendes auf dem aufsteigenden Ast: Auch er hat eine prinzipiell schöne Stimme und kann den Text verständlich transportieren, nur an der Grundenergie mangelt es immer noch, und so bleibt vom Schlußwitz vokal wenig übrig, was das Orchester mit der erstklassig umgesetzten Lautmalerei kompensieren muß und auch kompensiert. Lautmalerei ist auch in "Rheinliedchen" mit seiner kuriosen Mixtur aus Kunst und Volkston wichtig, Voßkühler singt solide, und Haeger animiert das Orchester zu wunderbaren Wellenbewegungen. Mendes steigert sich in "Der Tamboursg'sell" abermals, aus dem Orchester kommt eine abgrundtiefe, aber gekonnt schattierte Düsternis, und der Sänger überzeugt sowohl mit Niedergeschlagenheit als auch mit einer Portion Galgenhumor (interessanterweise läßt ihn Mahler akustisch nicht aufhängen, sondern von der Pauke erschießen). Das hochwitzige "Lob des hohen Verstands" stellt eine Paradenummer für Voßkühler dar und stößt beim Publikum auf große Heiterkeit, und zum Schluß dürfen beide Sänger in "Trost im Unglück" nochmal gemeinsam ran, wobei sie in der letzten Strophe beweisen, daß ihre Stimmen richtig gut harmonieren, während Mendes zuvor den geforderten appellativ-patriotischen Tonfall so gut hinbekommen hat, daß er glattweg auch bei Legida-Veranstaltungen singen könnte, zählte er als Portugiesischstämmiger (wenn auch in Bayern Geborener) nicht zu einem Personenkreis, der nach Legida-Definition hierzulande eigentlich nichts verloren haben soll.
Nationalbewußtsein meinte um 1890 etwas völlig anderes als das, was gewisse Kreise heutzutage darunter zu verstehen vorgeben. Antonín Dvoráks 8. Sinfonie ist mit dem Beinamen "Die Englische" in die Geschichte eingegangen, weil sie sich auf der britischen Insel großer Beliebtheit erfreute - rein musikalisch allerdings beackert sie völlig andere Felder, denn Dvorák verarbeitet hier mancherlei Einflüsse aus der slawischen Folklore, ohne freilich aus dem Werk eine Programmsinfonie zu machen. Daß der 1890 uraufgeführte Viersätzer gelegentlich als Dvoráks Pastorale bezeichnet wird, hat trotz fehlender Direktbezüge eine gewisse Berechtigung, und wenn wie an diesem Abend die cellogeführte Einleitung des Eröffnungssatzes so schön eskapistisch gelingt, dann fühlt man sich in der Tat ein wenig pastoral. Haeger schichtet die Tuttipassagen schön schrittweise und hält die Energie noch im Zaum, um den großen Ausbruch umso mächtiger erscheinen zu lassen, die Hörner lärmen gekonnt in ihrer Ecke und trotz einiger Wackler klappt der Energietransport auch im Satzschluß ganz famos.
Im Adagio läßt Heger gekonnt mit düsteren Farben malen und hält vor dem ersten Paukenwirbel Tempo und Dynamik sehr weit unten, bevor sich plangemäß ein deutlich vielschichtigerer Satz entwickelt und eben kein klassischer Trauermarsch. Das erfordert eine schwierige Detailarbeit, aber Haeger und das Orchester sind der Lage gewachsen, meißeln ein monumentales großes Tutti aus den böhmischen Felsen und bringen diese ebenso gekonnt zum Einsturz. Und wenn's dann nach dem Klarinettensolo doch nochmal richtig schleppend zugeht, dann führt Haeger das Orchester bis in die Nähe des Stillstandes und weiß damit eine enorme Spannung zu erzeugen, die auch den Satzschluß prägt.
Solche Spannung verlangt nach Entladung, aber die geschieht im Allegretto grazioso nur ganz allmählich. Die dort geforderte Walzerstimmung gelingt allen Beteiligten mit großer Eleganz, und es bleibt trotzdem noch genug Spannung erhalten, die sich im Satzschluß, der sich überraschend in eine Art Polka verwandelt, anstatt den ersten Satzteil simpel zu wiederholen, dann doch noch explosionsartig Raum schafft.
Daß Böhmen jahrhundertelang habsburgisch beherrscht war, ahnt man dann im Schlußsatz, Allegro ma non troppo. Das eröffnende Trompetensignal interessiert jedenfalls erstmal niemanden, die weitere Entwicklung vollzieht sich mit geradezu wienerisch anmutender Gemütlichkeit. Aber das erste Orchestertutti kommt bestimmt, ein fast cineastischer Breitwandsound macht sich, ähem, breit, und die flüssigen Flötensoli verleihen dem Geschehen eine ganz eigene Dynamik (ihre Spielerin, Sabine Rufener, bekommt völlig zu Recht vom Dirigenten am Ende seinen Blumenstrauß überreicht). Schon ins erste der Tutti läßt Haeger viel Energie legen, nimmt den Mittelteil aber dann weit herunter und verstärkt dadurch die Ausbruchswirkung des Schlußteils, obwohl auch er den Eindruck nicht wegwischen kann, selbiger Schlußteil sei irgendwie angeklebt. Aber gut und energisch gespielt ist er allemal, und so ernten alle Beteiligten viel verdienten Applaus.
Von Konzerten des Leipziger Universitätsorchesters ist man eine mit allerlei humoristischen Elementen aufgepeppte Zugabe gewohnt. Das ist an diesem Abend etwas anders - es gibt eine Zugabe, auch eine aufgepeppte, aber eine mit ernstem Hintergrund: Das Orchester spielt in dezenter Bekleidungserweiterung (Hüte) und mit roten Rosen an den Instrumenten ausstaffiert den "Blue Tango" von Leroy Anderson, also Tanzmusik, zu der zwei Pärchen in dem knappen Raum zwischen Bühne und erster Zuschauerreihe eine Sohle aufs Parkett legen. Dazu tritt allerdings ein Pinguin, der durchs Orchester tappt und von der ersten Musikerreihe mit Schildern mit der Aufschrift "Was macht der Pinguin hier?" empfangen wird - ein wunderbar sarkastischer Kommentar zur Legida-These von der Reinhaltung des deutschen Volkes, der mit dem schrägen Blockflötenschluß noch seinen letzten Schliff bekommt.



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