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Barcode   08.12.2014   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Nein, hier spielt nicht etwa die dänische Hardcoreband Barcode, für welchselbige der Veranstaltungsort HMT auch mehr als ungewöhnlich wäre. Vielmehr handelt es sich um eine Kammeroper des portugiesischstämmigen Komponisten Manuel Durao, der momentan an der HMT einen Lehrauftrag für Tonsatz innehat, auf ein Libretto von Daniel Schmidt. Beide haben anno 2013 erstmals kooperiert, damals beim Chorstück "Ideen brauchen Menschen" für den MDR Rundfunkchor, und nun ist als weitere Frucht der Zusammenarbeit die besagte Kammeroper entstanden, die in fünf Vorstellungen rings um den 2. Advent des Jahres 2014 im Großen Probensaal des Hochschul-Zweitgebäudes am Dittrichring aus der Taufe gehoben wird. Der Rezensent ist bei der vierten Vorstellung dabei, die so gut besucht ist, daß noch einige Stühle hinzugeholt werden müssen. Die Zuschauer sitzen dabei fast vierseitig um die in der Saalmitte stehende flache Bühne herum, welchselbige einen Supermarkt darstellt und im wesentlichen aus Lagern von Flaschen und Verpackungsmaterial besteht, ergänzt um einen Einkaufswagen und ein zunächst seltsam anmutendes Ausstattungsstück, nämlich einen Fernseher. Dessen Funktion klärt sich bald: Über ihn spricht der Geschäftsführer des Supermarktes als eine Art Deus ex machina zu den vier Angestellten, die neben der einzigen Kundin das aktive Bühnenpersonal bilden. Selbige Kundin, Frau Grausenbrecher, will eine Reklamation vorbringen, wird aber von den Angestellten wahlweise ignoriert, nicht ernstgenommen oder verhöhnt. Nach ihrem Tod, dem einige apokalyptische Visionen vorausgegangen waren, wird sie zu einem Salatkopf umdekoriert und in die Gemüsetheke gestellt. Die Angestellten, die nun gar nichts mehr zu tun haben, aber vom Geschäftsführer schrittweise unter immer stärkeren Druck gesetzt werden, versuchen sich erst gegenseitig als Kunden zu gewinnen, aber auch das ist naturgemäß zum Scheitern verurteilt. Zwei von ihnen werden daraufhin entlassen, und das junge Paar von Frau Schneider und Herrn Schumacher legt den älteren Kolleginnen Frau Müller und Frau Becker nahe, sich zu Wurst verarbeiten zu lassen, was die erstere mit Freude annimmt, die letztere weniger gern tut. Aber auch die beiden Verbliebenen enden schließlich in der Selbstzerfleischung, und der Geschäftsführer schließt den Markt letztlich ganz. Interessanterweise enthält das Libretto, das dem Programmheft beiliegt, sowohl den originalen Text Schmidts als auch Kennzeichnungen von Passagen, die Durao beim Vertonen entweder hinzugefügt oder weggelassen hat. Beim Nachvollziehen bemerkt man dann überrascht, daß der Schluß im Schmidt-Libretto ein ganz anderer war: Dort eröffnet der Grausenbrecher-Salatkopf den Markt nämlich neu ...
Umgesetzt werden die etwa 75 Minuten mit den genannten fünf Figuren, die allesamt schauspielerische wie sängerische Funktionen bekleiden, und dem Pianisten Rainer Koch (bei drei der fünf Aufführungen trat die Korrepetitionsstudentin Michelle Bernard an seine Stelle); am Dirigentenpult steht der Dirigierstudent Damian Ibn Salem. Daß Durao virtuos auf den verschiedensten Stilklaviaturen komponieren kann, weiß jeder, der etwa sein Orchesterstück "Feuilleton" ein knappes halbes Jahr zuvor in der Uraufführung durch das Leipziger Universitätsorchester im Gewandhaus gehört hat, und diese Fähigkeit stellt er auch in "Barcode" wieder unter Beweis, damit die Sänger vor allerhöchste technische Anforderungen stellend, wenn sie nahtlos aus einem barocken Satzgesang in wildeste Neutönerei übergehen oder andere blitzartige Wechsel meistern müssen - und Bénédicte Hilbert, Josephin Queck, Alice Ungerer, Constanze Büchner und Benjamin Mahns-Mardy entledigen sich dieser Aufgabe auch ausgesprochen achtbar. "Klassische" Opernstrukturen gibt es hier nicht, sondern eher eine potpourriartige Aneinanderreihung von mehr oder weniger rezitativischen Passagen, denen einige Ariosi beigemengt werden, etwa wenn alle vier Angestellten unisono-ähnlich, aber eben nicht unisono die Botschaften des Geschäftsführers deklamieren oder die Werbeblöcke eingeschaltet werden, wobei die Energie der Slogans, der live dargebotenen wie der eingespielten, immer weiter dem Nullpunkt zustrebt. Schließlich haben wir per Untertitel ja auch eine Tragödie vor uns, wobei Schmidt, Durao und Regisseur Matthias Oldag das Ganze aber eher in eine Tragikomödie zu verwandeln versuchen und letztlich vom schmalen Grat zwischen Klamauk und Dystopie abstürzen. So interessant einzelne Elemente auch gestaltet sind (wenngleich man hier und da ihr Vorbild deutlich erkennt, etwa wenn sich Frau Müller als Wurst den anderen mit Begeisterung zum Verzehr anbietet - ein klarer Verweis auf die Tischszene im Restaurant am Ende des Universums aus Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis"), man weiß irgendwann nicht mehr, was die Kreativfraktion eigentlich von einem will. Am besten funktionieren tatsächlich die dystopischen Elemente, wenn man das Stück als Parabel auf Konsumkritik, den Menschen als Ware oder die demographischen Probleme vieler Regionen Mitteleuropas ansieht (und hier und da springt einem auch "Soylent Grün" ins Gedächtnis, trotz fehlender offenkundiger Parallelen), aber da wirken die komödiantischen Passagen als Störelemente, und zwar nicht als "gelungene", also z.B. aufrüttelnde, sondern als tatsächlich störende. Zudem überrascht die fehlende letzte Konsequenz: Herr Schumacher doziert über seine Fußballerfrisur, aber Schmidt schreckt davor zurück, ihm den passenden Vornamen Toni zu geben (statt dessen kommt Uli zum Zuge, aber Uli Stein war nun frisurtechnisch nicht so berühmt). Am Genre der Horrorkomödie wiederum sind schon andere gescheitert, und auch "Barcode" kommt nicht ohne eine halbe Gallone Kunstblut (und ein paar Sauereien mit Milch) aus, ohne daß sich der Zuschauer dabei aber angemessen gruseln kann, da das Ganze so überdreht rüberkommt, daß man es (siehe den Adams-Verweis!) schon fast als Parodie auffassen könnte, was aber den ursprünglichen Intentionen ganz und gar nicht entspricht. So landet "Barcode" letztlich zwischen allen Stühlen, will alle Erwartungen erfüllen und bleibt gerade durch den Verzicht auf eine eindeutige Positionierung seltsam beliebig, was auch der recht müde und vergleichsweise schnell abebbende Applaus des Publikums deutlich macht. Trotzdem könnte sich sich das Werk an Kammerspielstätten ausbreiten, da findige Intendanten eigentlich immer auf der Suche nach effektvollen Stücken sind, mit denen man seinem Publikum mit überschaubaren Mitteln scheinbar viel bieten kann. Und effektvoll ist "Barcode", das muß man dem Stück lassen.



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