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Swing Symphony   14.12.2013   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Der Spagat zwischen Tradition und Fortschritt kann ein durchaus schwieriger sein. Nehmen wir mal das MDR Sinfonieorchester her: In den 1920ern und 1930ern war der eben neu eingeführte Rundfunk ein hochspannendes Medium und das dem MDR zugehörige Orchester in Fragen der Rundfunkübertragungen von Konzerten, aber auch in der Popularisierung neuen Repertoires ganz weit vorn an der Spitze dabei. In den 20 Jahren, die Herbert Kegel zu DDR-Zeiten beim Orchester wirkte, gewann der Einsatz für neue und neueste Musik ebenfalls stark an Bedeutung, und das Orchester stand abermals an der Spitze der Fortschrittsgläubigen. Das änderte sich aus strukturellen wie inhaltsphilosophischen Gründen später erneut, und so gut Chefdirigenten wie Fabio Luisi oder Jun Märkl das Erbe auch verwalteten - wesentliche neue Impulse waren nicht ihnen zu verdanken, sondern beispielsweise Frank Strobel, wenn er mit dem Orchester live die Musik zu Filmen wie "Matrix" spielte und die Orchesterklänge damit wieder in Direktverbindung mit anderen Medien brachte. Die Anzahl von Musikstile verknüpfenden Crossover-Projekten wiederum hat seit dem Amtsantritt des neuen Chefdirigenten Kristjan Järvi weiter zugenommen; zwar muß man Järvis Meinung über die musikpädagogische Kraft, die in der Musik selbst ruht, nicht unbedingt teilen, aber daß er interessante, nonkonforme und im besten Sinne wiederum als fortschrittlich zu bezeichnende Dinge auf die Bühne bringt, das können ihm auch seine größten Kritiker nicht absprechen. Der Rezensent hat leider "Wagner Reloaded", ein Gemeinschaftsprojekt mit Apocalyptica, verpaßt, aber zumindest kann er von einem anderen übergreifenden Konzertabend berichten, der den Zielgruppenspagat an diesem Adventssamstag problemlos bewältigt: Der Große Saal des Gewandhauses ist ausverkauft, und Anzugträger sitzen friedlich neben den Trägern von Flogging-Molly-Shirts.
Musik von Leonard Bernstein war im Gewandhaus gelegentlich schon zu hören, aber seine 2. Sinfonie steht Paradewerken wie etwa der "Candide"-Ouvertüre in der Gunst der Spielplangestalter doch deutlich nach. "The Age Of Anxiety" ist das Werk betitelt, was sich auf ein riesiges Gedicht (80 Seiten!) von Wystan Hugh Auden bezieht, das dem Komponisten als Inspirationsquelle und lockerer roter Faden diente, obwohl er ausdrücklich keine Gedichtvertonung geschaffen haben wollte und auch auf eine verbale Wiedergabe mittels Sängern verzichtet. Statt dessen ist ein Solopianist am Werk, der allerdings wiederum nicht so agiert, daß man das Werk statt dessen in die klassisch-romantische Solokonzertschublade stopfen könnte, sondern trotz mancher zu setzender Akzente ins große Geschehen eingebunden ist. Die ersten Glanzlichter kommen allerdings aus dem Holz, das in die oberflächlich betrachtet harmlose Einleitung eine enorme Tiefgründigkeit hineinzaubert, von der auch die weiteren Anfangspassagen leben, die allerdings ganz anders als entschleunigend gemeint sind, wie man sie durchaus empfinden könnte. Die weitere Entwicklung verläuft blockweise und alles andere als linear, jazzige Anklänge finden sich größtenteils in den wenigen Speedausbrüchen, in denen die fünf Schlagzeuger wirbeln, wohingegen man Bauklötze staunt, welche Entrückung in einer ganz simplen Tonschritt-Abwärtsschreitung liegen kann, die Wayne Marshall da am Klavier evoziert. Der zweite Satz beginnt mit einer Zwölftonreihe, deren Entwicklung allerdings regelmäßig niedergemäht wird und in einen sehr merkwürdigen Klagegesang mündet. Bernsteins Vermögen als Klangweltenwanderer wird besonders deutlich, wenn er später minutenlang flotten Jazz spielen läßt, aber diesen an entscheidenden Stellen immer wieder stört und daher seiner locker-tänzerischen, lebensfrohen Ader beraubt - eine sehr komplizierte Passage, die Järvi und das Orchester aber problemlos meistern (bekanntlich ist nichts schwerer, als an der richtigen Stelle bewußt falsch zu spielen). Ein Fernklavier mündet in einen größeren Klagegesang und dieser aber wiederum in ein positives Bombastfinale, dessen ironische Brechungen (in die emotionale Kadenz des Pianisten mischt sich wieder das Fernklavier ein) sich als nicht dauerhaft erweisen - die Neigung der Amerikaner zum Happy End, auch wenn es nach der vorhergegangenen Handlung noch so unwahrscheinlich ist, bricht auch bei Bernstein durch, und so hängt er der Kadenz noch einen Bombastschluß von Star-Wars-Format an, der das durchaus kompliziert zu hörende Werk irgendwie konterkariert, aber das Publikum natürlich zu spontanen Beifallsausbrüchen nötigt, denen Wayne Marshall noch mit gleich zwei Zugaben begegnet - und nein, er spielt nicht Bach wie sonst gefühlt 99% der anderen Solisten im Gewandhaus, sondern jahreszeitengemäß lieber jazzige Variationen über "Rudolph, the red-nosed raindeer".
Nachdem mit Marshall und Mitgliedern des Leipziger Universitätsorchesters, für das der MDR eine Patenschaft übernommen hat, schon die erste Konzerthälfte Verstärkung für das Orchester auf der Bühne gesehen hat, kommt in der zweiten Hälfte noch weitere Verstärkung hinzu. Zwar geht Marshall, aber dafür kommt die Bigband des Hessischen Rundfunks auf die Bühne, um die dritte Sinfonie von Wynton Marsalis zu spielen - die titelgebende "Swing Symphony", die erst 2010 von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle uraufgeführt worden ist, also eines der neuesten Stücke darstellt, die in jüngerer Vergangenheit außerhalb von direkten Uraufführungen im Gewandhaus erklungen sind. Und es stellt die Musiker vor große Herausforderungen: Jeder weiß, wie schwer es ist, schon eine kleine Besetzung zum Swingen zu bringen - aber nun steht und sitzt da eine dreistellige Anzahl von Musikern, die einen mit Jazzbackground und die anderen nicht, und nun versuche man mal einen solchen Koloß zum Swingen zu bringen ... Der Abend beweist: Es geht! Und es geht auch mit deutschen Musikern und nicht nur mit heißblütigen jungen Venezolanern unter Gustavo Dudamel. Im Direktvergleich schwingt Järvi auf dem Dirigentenpult sogar noch stärker das Tanzbein und verläßt das Pult im vierten Satz sogar mal, wenn einer der Bigbandtrompeter soliert - und das Ganze läuft! Freilich hat Marsalis in der knappen Stunde Musik ein paar Problemfälle untergebracht - er erzählt die Geschichte des Swing, und die ist naturgemäß nicht bruchlos verlaufen, wobei sich manche Blöcke etwas stärker aneinander reiben, als dies vielleicht unbedingt nötig gewesen wäre. Mit zunehmender Hörerfahrung während des Stückes findet man sich aber immer besser zurecht, und falls es schon eine Einspielung geben sollte, kann man diese ja vor dem nächsten Liveerlebnis zum weiteren "Training" für das eigene Gehör und Gehirn nutzen. Interessanterweise kommen die Jazzimpulse keineswegs nur aus den Reihen der Bigband, auch das Orchester hat da einiges zu sagen, und so fliegen die Themen wie die Solpassagen hin und her, wobei der bigbandkonzerterfahrene Teil der Besucher dem Bigband-Saxophonisten im zweiten Satz Szenenapplaus spendet (wie das auf Bigbandkonzerten Usus ist), was allerdings später aufgrund der jeweiligen Einbindung der Soli ins Gesamtgeschehen, die bisweilen sehr kleinteilig strukturiert ist, nicht in jedem Fall durchgehalten werden kann. Trotz hohen Klangvolumens bleibt der Gesamtsound meist erstaunlich transparent, nur hin und wieder verschwinden einige der Soli dann doch zu weit im Spielrausch der anderen Musiker, etwa die Posaunensoli am Ende des zweiten Satzes. Aber die gelungenen Beispiele überwiegen deutlich, etwa wenn (wir sind immer noch im zweiten der sechs Sätze!) die Bratscher während des zweiten Sax-Solos aufstehen, hochmelancholischen Tango spielen und Konzertmeisterin Waltraut Wächter ein enorm leidendes Violinsolo hinzufügt. Den Dynamikgipfel erklimmen Marsalis und Järvi übrigens bereits im dritten Satz, zunächst mit dem enorm drückenden "Tempo de Conga" und später der archaischen Wucht ausgedehnter Drumsoli, wenngleich die Intensität, die das Orquesta Sinfónica Nacional de México knapp sechs Jahre zuvor an gleicher Stelle mit dem Schlußteil von Silvestre Revueltas' "La noche de las Mayas" entfaltet hatte, nicht ganz zu erreichen ist. Satz 4 koppelt enorme Hochgeschwindigkeit mit einem schmalzigen, aber schönen Schluß, Satz 5 beweist, wie man mit einem Orchester Blues spielt - und dann wird's problematisch: Welchen Sinn erfüllte hier der komische Speedpart zum Schluß? Wieso müssen die Schlagzeuger am Anfang des sechsten Satzes lange Zeit in die Hände klatschen, was genau diesen Eindruck von hilflosem Beamtenjazz erzeugt, den das Werk bisher erfolgreich umschifft hat? Wieso wird hier plötzlich Feierlichkeit gefordert, die in merkwürdigem Kontrast zum Rest des Werkes steht und prompt an diesem Abend auch in die Hose geht? Wieso muß ein intensiv gedachter, aber real kraftloser langsamer Satz das Finale dieses insgesamt spritzigen Werkes bilden, wo man nach jedem Satz laut applaudieren und vom Sitz aufspringen will (manche tun das an diesem Abend auch), nur eben nach diesem nicht? Wieso gibt es diese merkwürdige Struktur sowohl in Wynton Marsalis' "Swing Symphony" als auch in David Timms Jazzmesse? Fragen über Fragen, keine Antworten. Aber auch Järvi muß diese Merkwürdigkeit aufgefallen sein, denn nach dem trotz dieses sechsten Satzes tosenden Applaus (der freilich etwas Anlaufzeit braucht) verdonnert er seine Musiker noch zu einer jazzigen und ausgedehnten Orchesterzugabe, und die transportiert dann wieder all die Stärken, die man in den ersten fünf Marsalis-Sätzen liebgewonnen hat, und rahmt das Werk damit viel besser als vom Komponisten vorgesehen. Danke!



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