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Jazzmesse   21.10.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Crossover-Projekte aus Jazz und Klassik können bekanntermaßen schnell ins Beinkleid gehen, wenn man statt der Stärken der beiden Genres ihre Schwächen kombiniert. Hat man allerdings einen Mann wie David Timm als Projektkopf, ist die Gefahr diesbezüglich denkbar gering, steht er doch mit einem Bein in beiden Genres und ist somit ihre personifizierte Verschmelzung. An diesem Abend erlebt seine Jazzmesse ihre Uraufführung als Gesamtwerk, und zu diesem Behufe versammeln sich der von Timm geleitete Universitätschor, eine vierköpfige Jazzband, die Hälfte von Klangbezirk als Gesangssolisten sowie das Landesjugendorchester Sachsen auf der Bühne des Großen Saals im Leipziger Gewandhaus; das Programm erlebt an den Folgetagen noch weitere Aufführungen in Görlitz und Dresden.
Die erste Hälfte gehört allerdings noch nicht der Messe, sondern Eigenkompositionen Timms bzw. seinen Bearbeitungen der Werke Johann Sebastian Bachs. Wie man die eingangs genannten Welten verschmilzt, demonstriert dann auch gleich die Motette "Komm, Jesu, komm". Als Intro kommen einige Takte des Originals, danach kann sich der Chor längere Zeit auf basso-continuo-hafte Wiederholungen von "Komm, Jesu" beschränken. Timm selbst leitet vom Keyboard aus, das im wesentlichen auf Hammond- und andere Vintage-Sounds geeicht ist, Reiko Brockelt am Saxophon übernimmt einen guten Teil der Soloarbeit, wird hier allerdings vom Tontechniker etwas zu vordergründig abgemischt (das muß man auch erstmal schaffen ...). Was der Chor kann, zeigt er in seinem Solo, und die locker aus dem Ärmel geschüttelte Beschleunigung beeindruckt prinzipiell, auch wenn sie nicht ganz sauber geschieht. Daß die zentral plazierten Tenöre gegenüber den Damen etwas untergehen, ist freilich Pech; die gute Dynamik im Choral und vor allem der zauberhafte Schluß legen genügend Zeugnis vom Können dieses Chores ab.
Die a- m- Samba entpuppt sich anschließend als flotte Jazznummer, in der die Orchesterposaunisten einiges zu tun bekommen, während sich der Rest des Orchesters lange auf einzelne Einwürfe beschränkt. Matthias Knoche wird irgendwann als Vokalsolist endlich auch hörbar gemacht (dienstbereite Mikrofone sind immer nützlich ...), und die Orchesterstreicher sehen gegen das entfesselte Blech wenig Stiche. Wie das coole Vibraphonduell über den grollenden Posaunen vom Orgelprinzipal niedergemäht wird, das ist allerdings schon ganz großes Kino.
WK I C#m ist keine Geheimdienstverschlüsselung, sondern der Titel des nächsten Stückes, eines Slowblues, in dem Tanja Panniers Vokalisen etwas zu exaltiert wirken (manchmal ist weniger eben doch mehr) und der wie ein Waschbrett klingende Jazzbesen Stan Neufelds die Stimmung vor Matthias Eichhorns Kontrabaßsolo stört. Aber das sind Kleinigkeiten, die die sonst zauberhafte Stimmung nicht entscheidend torpedieren können. Und wieder die Hohe Schule: eine unaufgeregte Steigerung aus einer weit entfernten Orgel hin zu einem großen Tutti - wenn der komisch abgehackte Schluß nicht gewesen wäre, man hätte von einem Meisterwerk ohne Wenn und Aber sprechen müssen.
Danach wird fünfmal Brandy ausgeschenkt, und das Stück brandy V klingt auch tatsächlich etwas nach Feuerwasser. Obwohl der E-Baß zu leise abgemischt ist, entwickelt sich ein unwiderstehlicher flotter Groove, diverse Solisten flitzen Skalen hoch und runter, Pannier und Knoche duellieren sich wie weiland Lord und Blackmore, und das Orchesterblech darf seine Metallsubstanz schwenken. Prima Unterhaltung!
Die Fantasia super "Komm, Heiliger Geist, Herre Gott" kommt dann ohne jegliche Experimente aus: Timm spielt sie, registrierungsseitig recht prinzipallastig, an der Schuke-Orgel des Gewandhauses, deren fahrbarer Spieltisch an der Hallenseite geparkt ist. Das verhindert trotzdem den vorgesehenen Attacca-Anschluß der Jazzbearbeitung dieses Stückes, denn die beginnt mit einem Keyboardsolo, und dazu muß Timm wieder in die Hallenmitte zurückkehren. Der Chor agiert zunächst choraliter, bevor sich auch hier wieder ungebändigte jazzige Spielfreude Bahn bricht, diesmal vom Orchesterholz eingeleitet. Pannier imitiert mit ihrer Stimme gar ein Trompetensolo, das prompt aus dem Orchester beantwortet wird, und die Begeisterung am Ende kennt keine Grenzen.
Im zweiten Teil steht dann die Jazzmesse (oder mit vollem Titel: Messe für Chor, Orchester, Solisten und Jazzband) auf dem Programm. Die entspricht in ihrer Struktur dem tradierten Messeablauf, wäre in musikalisch progressiven und technisch wie spielerseitig entsprechend ausgerüsteten Gemeinden also durchaus auch liturgisch anwendbar, wenngleich natürlich auch die Form als Konzertmesse funktioniert, wie dieser Abend beweist. Freilich bemerkt man eins: Die Messe ist nicht am Stück komponiert worden, einige ihrer Teile sind schon älter, das Agnus Dei gar zehn Jahre - und es spiegelt eben auch den kompositorischen Entwicklungsstand Timms von vor zehn Jahren wider. Der war natürlich auch schon damals ein Könner, aber man merkt gerade im Vergleich des Agnus Dei mit den erst 2011 komponierten Teilen, daß sich zehn Jahre Spiel- und Kompositionserfahrung eben doch bemerkbar machen, was Komponenten wie Wirksamkeit und das Gefühl für das Erreichbare angeht. Aber der Reihe nach:
Das Kyrie spielt mit den ersten drei Tönen aus Bachs "epidemischer" 565-Toccata und reicht diese kreuz und quer durch die Chorstimmen und auch ins Orchester. Eine kurze Steigerung ergibt ein strahlendes Tutti, und die folgenden, äußerst geschickt arrangierten Schichtungen führen erneut in eine strahlende Auflösung.
Das Gloria, auch schon etwas älter, hat sich "Freude" aufs Panier geschrieben. Die ekstatischen Vokalsoli würden in jede charismatische Gemeinde passen, die rapide Herunterschaltung ins "Et in terra pax" gelingt ohne Bremsspuren, und daß man vom Orchester wieder mal fast nur das Blech hört, stört wenig. Irgendwann trifft man sich im Funk, und als Publikum kann man sich kaum beherrschen, nach dem Bombastschluß nicht loszuklatschen.
Das Credo offenbart eine große Fuge als Einleitung, die in der Steigerung einige Ungereimtheiten beinhaltet, die man spätestens bei der überaus plastischen Gestaltung des Wortes "gestorben" wohlwollend vergessen hat. Ein donnerndes Amen erschallt - danach allerdings wird die Stimmung im Saal zum ersten mal entscheidend gestört, denn der Chor gruppiert sich um.
Daß die Sänger im Anfangsteil des Sanctus fast konfus wirken, dürfte allerdings nicht daran gelegen haben, sondern gestalterische Absicht Timms gewesen sein: Eine unstrukturierte Menge beginnt mit "Heilig"-Rufen und bekommt erst allmählich Struktur. Ebenso wie das folgende Osanna ist der Satz recht kurz, allerdings erklingt dort dann flotter Swing, nach dem die Stimmung ein weiteres Mal rapide gestört wird, indem sich der Chor abermals umgruppiert wird. Für künftige Aufführungen sollte man sich diesbezüglich etwas einfallen lassen.
Das Benedictus verarbeitet auch Swingelemente, aber auf ruhigerer Basis, die etwas Unordnung gegen Ende allerdings auch nicht verhindert. Etwaiges Stirnrunzeln glättet das Da capo des Osanna aber schnell wieder.
Tja, und dann kommt der besagte Agnus-Dei-Satz. Keyboardakkorde und Vokalsoli ergeben jeweils kleine, vom Chor beantwortete Einheiten, zunächst sehr ruhig, erst langsam ins Midtempo mündend. Die Klimax bleibt weit von der Bombastgrenze (die in diversen anderen Sätzen angekratzt worden war) entfernt, gerät aber gerade dadurch hochspannend und sehr intensiv. Umso unerklärlicher ist das, was dann passiert: Alles fällt in sich zusammen, wird unspannend, wirkt am Ende gar amputiert. Da zaubert einer sechseinhalb Sätze lang auf verschiedensten Teilen der Emotionsklaviatur - und dann hängt ein derart lahmes Ende dran. Das Publikum spürt dieses Mißverhältnis irgendwie, ist verwirrt, und nachdem zwischen den Sätzen oft viel Spannung herrschte und man sich arg beherrschen mußte, um nicht laut loszuklatschen, verspürt man dieses Bedürfnis nach dem Agnus Dei kaum. Das ist nicht mal der Frieden, den uns das Lamm Gottes nach der letzten Textzeile geben soll, und damit eigentlich auch liturgisch nicht erklärlich, für eine Konzertmesse natürlich noch viel weniger. Irgendwann geht der Applaus dann doch los, und den haben sich alle Beteiligten anhand der Leistung in 96% der Konzertdauer ja auch redlich verdient. Aber so richtig enthusiastisch ist er nicht, und so löst Konzertmeisterin Aisel Esslinger die Versammlung auf der Bühne auch überraschend rapide auf.



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