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Grosses Concert III/6   20.06.2013   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Monsunartige Regenfälle fluten weite Teile des Leipziger Südens und stellen eine nicht gerade kleine Anzahl von Konzertbesuchern vor logistische Probleme bei der Anreise - auch der Rezensent ist selten so froh gewesen, als er sein Auto endlich heil in der Tiefgarage unter dem Augustusplatz abstellen kann (die dankenswerterweise nicht geflutet ist), und nur die Durchquerung des Gewandhaus-Innenhofs vor dem Kassenfoyer sorgt dann doch noch für nasse Füße, denn die steht unter Wasser. Aber die apokalyptischen Szenarien, noch durch heftige Donnerschläge verstärkt, die man später sogar aus dem Inneren des Gewandhauses heraus noch hört, passen durchaus zu einem Teil des Konzertprogramms.
Der erste Teil ist allerdings nicht derjenige - er beginnt nämlich mit Richard Strauss' Suite aus "Der Rosenkavalier", bekanntermaßen in dieser Form ein eher aus der Not heraus geborenes Werk (der Komponist brauchte nach dem Zweiten Weltkrieg halt das Geld) und in seiner Form als Orchesterstück nicht immer logisch wirkend - ein Problem, das die Suite freilich mit etlichen Artgenossen teilt, die auch ursprünglich in anderen Zusammenhängen standen. Etliche Merkwürdigkeiten in der Dynamikentwicklung sind also weder dem Orchester noch seinem Gastdirigenten Andris Nelsons anzulasten - schon eher als internes Problem geht die "Findungsphase" durch, die vor allem die Streicher am Anfang durchlaufen müssen. Aber schon bald weicht diese überwiegend der gewohnten, teils traumwandlerischen Sicherheit, was zauberhafte Wirkungen vor allem in den ruhigen schwelgerischen Passagen ermöglicht - aber auch die Härte gewinnt an Kontur. Freilich gelingt noch nicht alles: Die Harfe erzeugt Hochspannung, aber die Oboe versemmelt den Einsatz danach - das geht besser. Nelsons dirigiert sehr dynamikbetont und springt vor allem im Orchesterwalzer von einem Ende seines Podestes zum anderen, daß man jeden Moment Angst hat, er würde herunterfallen. Aber der Einsatz zahlt sich aus: Bereits vor dem Orchesterwalzer sind exzellente harsche, wenn auch hörtechnisch gewöhnungsbedürftige Breaks gelungen, das Liebesduett bekommt im Crescendo dann endlich die richtigen großen Emotionen mit (derer es zuvor etwas gebrach), der ultraschleppende Ausbruch formt die Spannung mit Händen, und auch das Schlußinferno gelingt mit angemessenem Bombast und entsprechendem Energiefluß, wenngleich das Pathos hohl bleibt und der Schlußwalzer-Übergang bereits zuvor wieder einen jener dramaturgisch eher Kopfschütteln erzeugenden Punkte der Suite markiert hatte. Ein einzelner Bravorufer und viel Applaus springen trotzdem heraus.
In Zeiten knapper Kassen wird die Praxis, daß sich mehrere Orchester für die Erteilung eines Kompositionsauftrages zusammentun, immer beliebter, und im Gewandhaus kommt innerhalb eines Vierteljahres schon das zweite Ergebnis eines solchen Joint-Ventures zu Gehör: Mark-Anthony Turnages Konzert für Violoncello und Orchester, im Gegensatz zu Richard Dubugnons "Battlefield Concerto" keine explizit als solche ausgewiesene Programmusik. Nach 20 Minuten respektive fünf Sätzen (deren Namen das Programmheft in der Übersicht verschweigt) ist der Hörer um diverse Erkenntnisse reicher. Turnage, der auch Einflüsse aus der Pop- und Rockmusik bezieht, leidet wie viele andere neuzeitliche Komponisten unter dem Problem, seinen Ideen keinen angemessenen Raum zur Entfaltung zur Verfügung zu stellen, und er entwickelt im Gegensatz zu vielen Kollegen dieses Problem gleich in beide Richtungen: Entweder walzt er bestimmte Einfälle so weit aus, daß von ihrer Substanz wenig zu erkennen bleibt, oder er erliegt der Metalcorekrankheit, in kürzester Zeit mittels der Aneinanderreihung einer riesigen Anzahl von Einfällen dem Hörer im Nu die Welt erklären zu wollen. Wieso etwa ein Füllhorn von Ideen ausgerechnet gegen Ende des fünften Satzes, also kurz vor dem Ende der ganzen Komposition, ausgegossen wird, bleibt ebenso rätselhaft wie die Tatsache, daß speziell im ersten Satz das Orchester zwar weit zurückgezogen agiert (der Komponist äußert, es sei nur als Begleitung des Soloinstrumentes gedacht), aber das Solocello auch keinerlei Akzente setzt. Gewiß, Turnout hält sich von allzu atonalen Materialschlachten fern, und gute Teile des Konzertes sind durchaus, sagen wir, nett anzuhören, aber wir wissen alle, wessen kleine Schwester "nett" ist. Was der Komponist wirklich draufhat (und der Cellist kongenial interpretiert), zeigt sich nur momentweise, etwa in den wirklich hochemotionalen Passagen in der Cellokadenz des ersten Satzes, den bisweilen asiatisch anmutenden Einsprengseln an mehreren Stellen (beispielsweise dem Übergang zur Coda in diesem ersten Satz oder etlichen Elementen des fünften Satzes) oder der Celloarbeit über den Kontrabaßlinien im fünften Satz. Und logische Dynamikkurven erzeugen kann er auch - der zweite Satz zeigt es, der zudem mit einer großen Finsternis im Satzschluß trumpft. Satz 4 (der einzige, dessen Bezeichnung der Programmhefttext einflicht: "Prayer for a Great Man" - eine Art Requiem für Turnages Schwiegervater Neil Swallow) beginnt mit einem ergreifenden Choralintro, aber dann dauert es trotz des hochemotionalen Anlasses wieder bis zum Satzende, bis die weiche Spannung so richtig zum Tragen kommt. So bleibt ein äußerst ambivalentes Bild von diesem Cellokonzert, was auch das Publikum so sieht, das mit Mühe zwei Vorhänge zustandebringt und Cellist Paul Watkins (für den das Konzert entstanden ist) auch keine Zugabe entlockt.
Fünf Jahre zuvor hatte Universitätsmusikdirektor David Timm in der Leipziger Thomaskirche aus Anlaß des 40. Jahrestages der Sprengung der Leipziger Universitätskirche eine großartige Aufführung der 10. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch hinbekommen - und das trotz der schwierigen Klangverhältnisse in einer spätgotischen Hallenkirche bei großbesetzten sinfonischen Werken. Andris Nelsons, als Sproß einer Rigaer Musikerfamilie mit Schostakowitschs Werken naturgemäß vertraut, hat zumindest in klanglicher Hinsicht im Gewandhaus deutlich kleinere Sorgen, aber er muß sich auch mehr um gewisse Details kümmern, die in der Kirchenakustik sowieso nicht oder nicht in dieser Form hörbar gewesen wären. Insgesamt wählt er vor allem im ersten Satz eher schleppende Tempi - zwar hat schon der Komponist nicht ohne Grund "Moderato" über den Satz geschrieben, aber Nelsons läßt sich mit der Entwicklung, aber auch mit der Steigerung des Düsternisgehalts viel Zeit, obwohl er sich von der möglichen Untergrenze durchaus weit entfernt hält. Damit bleibt auch die Spannung noch ausbaufähig, wenngleich das knarzende Kontrafagott schon die Marschrichtung andeutet. Erste faßbare Konturen zeigt Nelsons in den äußerst feisten und lange ausgespielten Ausbrüchen, wo die gellenden Streicher eben nicht vom Blech niedergemäht werden, wie das in vergleichbaren Situationen häufig zu hören ist. Dafür legt Nelsons an anderer Stelle ungewohnte Lässigkeiten an den Tag: Er nimmt das Klarinettenthema sehr weit zurück, und selbst seine Körperhaltung verwundert - oftmals lehnt er sich ans Geländer des Dirigentenpultes und hält sich mit der linken Hand daran fest, was in dieser Form von kaum einem anderen Dirigenten zu beobachten ist. Wenn es allerdings um die zunehmende Ausformung der Düsternis während der hinteren Satzteile geht, sind wieder beide Hände bei der Arbeit, und so gelingt auch eine Großportion Spannung im Satzschluß. Derer bedarf es im Allegro an zweiter Satzposition auch - das musikalische Porträt des Generalissimus Stalin glänzt durch Ambivalenz, die an diesem Abend stets mit größter Intensität dargestellt wird, egal ob im leisen Speed oder im pseudoheroischen Marsch. Viel Lärm erklingt da, aber stets mit Sinn und Struktur, und der Mann an der großen Trommel verdient sich für sein präzises Wüten ein Sonderlob. Das Allegretto an dritter Satzposition sieht Nelsons' linke Hand wieder mal sehr häufig am Geländer. Das stört im groovigen Anfang nicht, erzeugt aber im mal wieder hochspannenden Satzschluß ein doch etwas eigenartiges Gefühl beim Hörer, fast so als ob sich Nelsons von seiner eigenen Interpretation distanzieren wolle. Dabei hat er das gar nicht nötig, führt das Orchester über ein langes Geplänkel in ein wildes Hin und Her und schüttelt selbst die aus dem Nichts heranfliegenden dreiertaktigen Tanzparts förmlich aus dem Ärmel. Daß er mit dem DSCH-Monogrammthema nicht ins Haus fällt, ist natürlich auch Absicht, denn für das Finale muß noch Gestaltungsspielraum bleiben. Und den nutzen alle Beteiligten dann in vollem Umfang: Das geht schon mit dem beseelten Oboensolo los, und Nelsons formt die Holzsoli im Andante-Teil förmlich einzeln mit der Hand. Zwar holpern einige der Holzläufe im Allegro-Einleitungsteil noch leicht, aber das Problem legt sich schnell und weicht mustergültigen Interpretationen etwa eines Energieüberschußabbaus in mehreren Schritten. Der große Ausbruch kratzt schon am Dynamikgipfel, die Monumentalität des DSCH-Motivs scheint kaum noch steigerbar, und so kommt es dann letztlich auch: Nach dem brillanten Holzübergang in die Schlußparty wütet der erste Violinist förmlich auf seinem Stuhl, und das Orchester bleut dem Hörer das DSCH ein wie weiland die Jubelpassagen im Finale der 5. Sinfonie Schostakowitschs - der Schlußbombast kann dem nichts mehr zusetzen, aber sein Energietransport ist dennoch beeindruckend. Nelsons hat ein enorm eindrucksvolles, wenngleich durchaus anstrengend durchzuhörendes Bild gezeichnet - aber leichte Kost ist der Widerstreit mit Stalin für den Komponisten ja auch keineswegs gewesen. Wer mehr wissen will, lese Solomon Wolkows Buch "Stalin und Schostakowitsch" und höre sich bei passender Gelegenheit eine gute Aufnahme oder Aufführung dieser Sinfonie selber an.



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