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Side Effect, Priscilla Sucks, Yangon Calling   14.12.2012   Gera, Sächsischer Bahnhof
von rls

Im März 2012 kehrte Stefan Riermaier, Chef von Karthago Records, von einer kombinierten Urlaubs- und CD-Sammel-Reise aus Myanmar zurück und berichtete völlig enthusiastisch über die lebendige Harte-Musik-Szene dort: Nachdem bereits um 1983 die ersten einheimischen Hardrockbands auftauchten (so früh wie in kaum einem anderen asiatischen Land), mußten diese jahrzehntelang im Untergrund werkeln, bis vor ein paar Jahren die Militärregierung auf die Idee kam, bestimmte Sparten staatlich zu fördern, um einerseits etwas den Druck aus der Untergrundbewegung herauszunehmen, andererseits um Kulturträger zu schaffen, mit denen der Staat glänzen konnte. Bands wie Iron Cross oder Emperor wurden so zu landesinternen Superstars, die auch ab und zu mal Privatkonzerte für die Staatsführung geben, aber ansonsten ihre neugewonnenen Freiheiten zu nutzen und zu schätzen wissen. Gewisse Parallelen zur DDR sind dabei unübersehbar, wo man nach anfänglichem und wechselnd intensivem Mißtrauen auch dazu überging, bestimmte Bands als Aushängeschilder zu entwickeln (etwa die Puhdys oder Karat), während andere, besonders die Punkbands, im Untergrund bleiben mußten und weiterhin sehr argwöhnisch beäugt wurden. Das geschah in Myanmar ähnlich, wobei 2011 auch hier eine gewisse Lockerung einsetzte, die sicherlich im Zuge der zunehmenden Demokratisierungsbewegung zu sehen ist.
Der Film "Yangon Calling" schildert die Situation der Punkszene in Yangon, der Hauptstadt Myanmars, noch vor dieser Tauwetterperiode - folglich mußten ihn Alexander Dluzak und Carsten Piefke illegal drehen, getarnt als Touristen und immer auf der Hut vor dem einen oder anderen Spitzel. Die 60 Minuten sind dabei für die heutige Situation nicht mehr in jedem Falle repräsentativ, aber vor bestimmten Schwierigkeiten steht ein Punker in Yangon natürlich 2011 genauso wie 2012, wozu nicht zuletzt die Bestreitung seines Lebensunterhaltes zählt. Dluzak und Piefke gelingt eine zwar keineswegs umfassende, aber doch repräsentative Überschau über den lokalen Underground, der sich textlich in der Heimatsprache mit mancherlei Mißständen in der myanmarischen Gesellschaft auseinandersetzt, aber wie auch schon in früheren Jahrzehnten die Punks anderer Länder auch dem puren Hedonismus huldigt oder die Langeweile besingt, ohne zu reflektieren, welchen Beitrag man selbst zum Zustandekommen der Langeweile leistet. In diesem Spannungsfeld befindet sich die gesamte Szene, seien es die gesellschaftlich integrierten Menschen wie Darko von Side Effect oder die fast ausschließlich auf Konfrontationskurs liegenden Leute wie Scum, die "Führerfigur" der Punkszene in Myanmar. Aber selbst der kommt ohne Anbindungen nicht aus: Der Film zeigt, wie er alle paar Wochen zu seiner Mutter, einer früheren Chemieprofessorin, fährt, um dort seine schmutzige Wäsche abzugeben und einen Stapel frisch gewaschener Wäsche zu holen. Daneben gelingen interessante Aufnahmen von halblegalen Konzerten mit Bands wie System Holocaust, und der von Ärzte-Drummer Bela B. gesprochene Film verschweigt im Abspann dann auch nicht die mittlerweile etwas veränderte Lage, die dieses Szeneporträt freilich nicht weniger eindrucksvoll macht. Auf ZDFkultur ist der Film bereits gezeigt worden, und nun läuft er auch noch in drei Clubs der Republik: in Hamburg, Berlin und Gera. Das Goethe-Institut hat sich nämlich bereiterklärt, eine kleine Tour der myanmarischen Band Side Effect in Deutschland zu fördern, die erste Deutschlandtour einer Band aus diesem Land überhaupt. Mit dabei sind außerdem Priscilla Sucks aus Berlin, die dann nach der Filmvorführung im Sächsischen Bahnhof in Gera auf die Bühne steigt und neun Songs (plus Zugabe) zum besten gibt, die sich stilistisch schwer einordnen lassen. "Alternative Rock mit Punk- bis Indie-Flair" sagt das Infoschreiben, und irgendwie stimmt das auch. Als Einflußgrößen dienen Black Sabbath und deren Interpretation durch diverse Grungegrößen, aber auch Monster Magnet schweben gelegentlich durch den Raum, und die Guano Apes, Die Happy und andere Vertreter des weiblich gefronteten Modern Rock gesellen sich noch dazu. Ab Song 3 schafft es der Soundmensch zudem, neben den Lead Vocals von Eva auch die Backings von Gitarristin Katja hörbar zu gestalten, was das Erlebnis einiger gut inszenierter zweistimmiger Passagen ermöglicht. Songs wie "Addicted" überzeugen durch eine vielschichtige Anlage, wenngleich die ganz großen Treffer im Repertoire des Quartetts noch nicht auszumachen sind. Dazu kommt noch eine trotz kleiner Bühne durchaus bewegungsintensive Performance, die erahnen läßt, daß bei großräumigeren Platzverhältnissen einiges auf der Bühne los sein dürfte. Zu den letzten Songs erscheint Side-Effect-Sänger Darko noch mit auf der Bühne, um einige Duette zu besten zu geben, und auch in dieser Form überzeugt die Bandkonstellation durchaus (kurioses Bild: Eva, eine langmähnige Blondine, ist ein gutes Stück größer als Darko), so daß einzelne Enthusiasten noch eine Zugabe einfordern.
Side Effect haben von der Konstellation her ein Problem: Sie sind eigentlich zu viert, aber das Goethe-Institut hat nur für drei Leute Flugtickets bezahlt. Aus der Not machen sie eine Tugend: Die erste Sethälfte "leihen" sie sich Katja von Priscilla Sucks als Zweitgitarristin aus, die auch die meisten Leadparts übernimmt. Dann wechselt für die zweite Sethälfte Bassist Joseff an die zweite Gitarre, während Sascha von Priscilla Sucks den Baß übernimmt, und den Zugabenblock spielen sie schließlich nur als Trio. "Glasklarer Indie mit Punk-Anleihen" läßt das Infoschreiben als Stilistikbeschreibung erkennen, und obwohl in der Livesituation etwas mehr Punk drin ist, so kann man diese Worte doch durchaus unterschreiben - die Nachprüfung anhand einer Konserve ist nicht möglich, da am Merchstand keine CDs mehr vorrätig sind, weil die Besucher in Hamburg und Berlin schon alle mitgebrachten Exemplare gekauft haben. "Punk" meint in diesem Kontext allerdings die alte 77er-Schule und nicht etwa die neueren Strömungen - die The-Clash-Anspielung "Yangon Calling", die natürlich auch im Set steht, darf diesbezüglich durchaus als programmatisch gewertet werden. Der Set leidet etwas unter der Abmischung: Darkos Gitarre tritt in den Höhenlagen recht grell, geradezu nervig nach vorne, und da diese Lagen sein Rhythmusgitarrenspiel dominieren, senkt das den Zugänglichkeitsfaktor deutlich. Die meisten Texte sind im heimatlichen Idiom gehalten, was das Mitsingen der durchaus massenkompatiblen Refrains durch das leider nur in überschaubarer Kopfzahl anwesende Publikum zu einer äußerst schwierigen Angelegenheit macht; Darko erläutert in gut verständlichem Englisch allerdings in den Ansagen einige der Texte. Als Sänger macht er trotz der auf mitteleuropäische Ohren etwas eigentümlich anmutenden melodisch-harmonischen Konzeptionen in den Side-Effect-Songs eine durchaus gute Figur, wobei ihn Drummer Tser Htoo noch mit paßgenauen Backings unterstützt. Als Setcloser covern die Myanmaresen noch eine kanadische Band, die vor geraumer Zeit ebenfalls als Touristen getarnt nach Myanmar eingereist war und dort das erste Undergroundkonzert einer ausländischen Band gegeben hatte. Die Enthusiasten im kleinen, aber feierfreudigen Publikum lassen Side Effect natürlich nicht ohne Zugaben ziehen, und die dankbare Band packt gleich deren fünf aus, wobei bei der ersten das Mitgrölen dann problemlos klappt: "Hey-ho, let's go" - klarer Fall von Heldenverehrung, nämlich ein Ramones-Cover von "Blitzkrieg Bop". Kurz vor Ende der Geisterstunde ist dann Schluß mit dem Konzert wie mit der Tour - es wird hoffentlich nicht die letzte Gelegenheit bleiben, Bands aus Myanmar hierzulande live erleben zu können. Vielleicht schaffen es ja auch Iron Cross und Emperor mal noch hierher ...
Mehr zum Film unter www.yangoncalling.com



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