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Side Effect, Priscilla Sucks   08.12.2012   Berlin, Heimatabend im Festsaal Kreuzberg
von CSB

In Berlin mangelt es nun wirklich nicht an kulturellen Möglichkeiten. Hier darf sich der geneigte Konsument Abend für Abend entscheiden, ob ihm nach Kellertheater, afghanischem Kurzfilmfestival, Swingjazz-Elektro oder Chinaoper zumute ist. Doch die schiere Masse an Angeboten sorgt auch dafür, dass sich oft nur ein handverlesenes Liebhaberpublikum einfindet.
Ab und an allerdings kommt es zu ganz besonderen Kombinationen, die mehr als nur ein Häuflein Enthusiasten auf den Plan rufen. So geschehen an diesem Abend, als zwei ambitionierte Dokumentarfilmregisseure, der lokale Alternativradiosender FluxFM, ein Spirituosenhersteller, das Goetheinstitut und zwei Bands, eine aus Berlin und eine aus Myanmar, gemeinsame Sache machen. Der Festsaal Kreuzberg bricht jedenfalls schon lange vor Beginn dieser ungewöhnlichen Allianz aus allen Nähten.
Vor dem Konzert zeigen die beiden Regisseure Alexander Dluzak und Carsten Piefke den Film "Yangon Calling". Es ist ein bewegendes Dokument einer außergewöhnlichen Punkszene, deren Protagonisten ständig zwischen den Polen Widerstand gegen eine willkürliche Militärdiktatur und Anpassung an die gesellschaftlichen Realitäten balancieren müssen. Texte müssen der zuständigen Behörde vorgelegt werden, rare Konzerte finden im Untergrund statt, Proberäume sind kaum vorhanden, Instrumente muss man sich teilen. Eine Situation, die jeder auf seine Weise bewältigt: Alkohol, Melancholie, Familie, Konfrontation. Dennoch ist die Situation zum Zeitpunkt der Aufnahmen nahezu hoffnungslos, der Mönchsaufstand wurde einige Jahre zuvor auf blutigste Weise niedergeschlagen, Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi steht seit 20 Jahren unter Hausarrest, Freiheit scheint in weiter Ferne.
Und doch gibt es Hoffnung! Denn wenige Sekunden nach Abspann stehen mit Darko und seinen beiden Mitstreitern von Side Effect drei der Protagonisten aus dem Film in diesem Festsaal Kreuzberg, um der bunten Mischung aus Interessierten (Punker, Hipster, Aktivisten, Burmatouristen etc.) auf ihre Fragen zu antworten. Das Klima in Myanmar hat sich gewandelt, es gab annähernd demokratische Nachwahlen, Aung San Suu Kyi sitzt im Parlament und - dem Goetheinstitut gelingt es, drei Mitglieder einer burmesischen Punkband nach Deutschland zu holen. Kaum einer der hier Anwesenden kann je etwas von dieser Band gehört haben und dennoch werden Darko und Co. empfangen wie Rockstars der gehobenen Kategorie. Längst sei nicht alles gut im Land, die Herrschaftsstrukturen hätten sich kaum verändert, Freunde landen im Gefängnis, Arbeit ist kaum zu bekommen, Zensur findet nun subtiler aber nicht weniger vernichtend statt. Im Land würden nur die Reichen von den Veränderungen profitieren, die einfachen Leute hätten bislang kaum Vorteile. Side Effect trauen dem Frieden nicht. Wie auch nach Jahren der Unterdrückung?
Immerhin, sie stehen hier und heute auf der Bühne, vor 2 Jahren noch eine undenkbare Entwicklung.
Bevor dieser historische Moment Wirklichkeit wird, sind Priscilla Sucks an der Reihe. Die Band aus Berlin hat für die Minitour die Rolle der Anheizer übernommen und stehen zudem als Gastmusiker für den Hauptact des Abend zur Verfügung, denn dummerweise konnte man nur drei der vier Mitglieder von Side Effect nach Deutschland holen. Ihren ganz eigenen Part übernehmen die Hauptstädter sehr souverän. Mit einer energischen Mischung aus Stoner Rock der Marke Black Label Society und modernem Alternative treffen die beiden Damen und Herren den Nerv des Publikums. Und mit Sängerin Eva hat man zudem eine souveräne und durchaus charismatische Frontfrau an Bord - alles gute Voraussetzungen für den nächsten Schritt auf der Karriereleiter dieser noch recht jungen Band. Zum Schluss gibt's zudem noch ein ordentlich abgefeiertes Duett mit Side-Effect-Fronter Darko, das schon erahnen lässt, was bald folgen sollte.
Denn als die drei Yangoner schließlich loslegen, verwandelt sich der Festsaal in ein Tollhaus, noch bevor die Gitarren richtig eingesetzt haben. Im Gegensatz zum Film über Punks in provokanten, schrillen Outfits kommen Side Effect optisch regelrecht bieder daher und auch ihre Musik ist weniger Sex Pistols als vielmehr Foo Fighters oder Nirvana. Indie-Rock trifft es wohl am ehesten, was auch in der gesteigerten Beherrschung ihrer Instrumente zum Ausdruck kommt. Den Anwesenden ist's egal und schon nach kurzer Zeit erstürmen die ersten Stage Diver die Bühne, die eingängigen Refrains werden begeistert mitgegrölt und bei fast jedem Lied wird der Bereich vor der Bühne zur Pitzone erklärt.
Einer der Regisseure muss an vorderster Front vor Rührung mehrfach getröstet werden und auch Frontmann Darko ruft mehrfach in Publikum: "Please, don't wake me up, I'm dreamin'". Beim finalen Ramones-Cover "Blitzkrieg Bop" brechen dann schließlich nochmal alle Dämme und die Euphorie ist nicht mehr zu bremsen. Die Band verlässt beseelt die Bühne und die Meute zerlegt den Merchandise-Stand.

Wie nun lässt sich so ein Erfolg einordnen? Natürlich haben Side Effect einen immensen Exotenbonus. Es klingt ja tatsächlich wie im Märchen - drei Jungs aus einem der restriktivsten Länder der Welt bleiben gegen alle Widerstände ihrer musikalischen Leidenschaft treu, werden schließlich entdeckt und erobern die Welt (oder zumindest Berlin). Natürlich dürften irgendwann Pussy Riot oder die erste nordkoreanische Rockband, der es gelingt, das Land zu verlassen, mindestens ähnlich stürmisch gefeiert werden. Natürlich wird die verändernde Kraft der Musik und insbesondere der subversive Einfluss der Punkmusik in einer knallharten Realität Myanmars hier und heute Abend mitgefeiert. Nicht umsonst sagt Bela B. (Die Ärzte), der im Film als Sprecher auftaucht: "Durch den Film habe ich den Glauben an die Kraft des Punks wiedergewonnen."
Die politische Dimension darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Side Effect auch rein musikalisch etwas zu sagen haben, dass ihre Songs vielschichtig angelegt, gut arrangiert und sehr ordentlich gespielt sind.
Wie nachhaltig so ein Auftritt sein kann, wird die Zeit zeigen und ob es den Jungs aus Yangon gelingen kann, auch dann noch Fans an sich zu binden, wenn in Myanmar eines fernen Tages demokratische Zustände herrschen. Es wäre ihnen zu wünschen und musikalisch verdient ist es allemal!

Links:
Side Effect: http://www.myspace.com/5ide3ffect
Priscilla Sucks: http://priscillasucks.de/wordpress



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