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Waseda Symphony Orchestra   23.02.2012   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Strukturell bildet das Waseda Symphony Orchestra quasi das Tokioter Pendant zum Leipziger Universitätsorchester: Die Mitglieder studieren - aber eben nicht Musik, sondern irgendwelche anderen Fächer. Ein Liebhaberorchester sitzt da also auf der Bühne des Großen Saales im Leipziger Gewandhaus, nicht zum ersten Mal übrigens, und füllt den zur Verfügung stehenden und schon vergrößerten Platz reichlich aus. Der riesige Orchesterapparat wird aber auch gebraucht, denn als erstes Werk des Abends liegt Richard Strauss' Monumentalschinken "Eine Alpensinfonie" auf den Pulten. Den an den Anfang eines Konzertes zu stellen ist schon mal reichlich ungewöhnlich, und sich mit einem Liebhaberorchester überhaupt an ihn ranzuwagen bedarf einer gehörigen Portion Wagemuts. Für beide Komponenten lohnt sich allerdings ein Blick aufs Programm der 2009er Tour des Orchesters: Strauss stand auch damals schon zur Debatte, nämlich "Ein Heldenleben", und auch dieses beschloß nicht etwa das Konzert, wie man es von der westeuropäischen Anordnungstradition erwarten würde, sondern bildete den zweiten Teil des Programms vor der Pause.
Sei es, wie es sei: Das Orchester braucht hörbar einige Zeit, um sich spielerisch zu finden. Zwar gelingt die eröffnende Nacht programmgemäß schön dunkel, aber erst beim Sonnenaufgang herrscht Einigkeit unter den Musikern über den einzuschlagenden Weg, wobei die Bombastparts für die Größe des Orchesters doch erstaunlich wenig Druck machen. Das Fernblech agiert durch die geöffnete Tür zum linken Bühnenvorraum hindurch und entfaltet dadurch relativ viel Präsenz, bevor die Mühen des Anstiegs das Zepter übernehmen: Endlos geht es hin und her, auf und ab, wobei das Quartett der Solostreicher einige Zeit braucht, um sich richtig aufeinander einzustellen, dann allerdings immer besser harmoniert. Der Wasserfall wirkt etwas unkoordiniert, auch auf der Alm herrscht die Wegsuche über das muntere Ausschreiten vor - die geographische Merkwürdigkeit Strauss', zwischen diese und den Gletscher noch ein Gehölz zu legen, ist ja an anderer Stelle bereits ausführlich thematisiert worden. Die Dramatisierung in der Gestrüppszene und auch die späteren Gefahren, etwa wenn die Oboe über dem flirrenden Streicherteppich Spannung erzeugen darf und das auch ausgiebig tut, bekommen die Japaner jedenfalls gut hin, auch wenn die Trompeter hörbar an ihrer Leistungsgrenze kratzen. Auf dem Gipfel ist es mit lautem Jubel über den Triumph wieder mal nichts - die sinistre Unruhe mit den gellenden Instrumenten überzeugt gestalterisch mehr, und trotz einiger knüppelharter Einsätze ist auch die Schwüle vor dem Gewitter förmlich mit Händen zu greifen. Das Gewitter selbst bleibt allerdings ein mäßiger Platzregen (es gibt Besucher, die das anders empfunden haben), so daß sein Abziehen an diesem Abend fast spannender herüberkommt als das Entladen selbst (über die neuerliche Merkwürdigkeit, allen alpinistischen Sicherheitsregeln zum Trotz das Gewitter gemütlich auf dem Gipfel abzuwarten, sei hier wiederum nicht diskutiert). Dafür erglänzt die japanische Variante des Bergmotivs danach im hellsten Glanz der Solotrompete, die choralartigen Passagen beim Abstieg wiederum pendeln zwischen "klasse" und "naja". Die Hütte ist jedenfalls noch weit, und in der hereinbrechenden Dunkelheit lauert noch mancher Stolperstein auf dem Wege, bevor die Japaner noch einen schönen Sonnenuntergang an den Himmel malen und es auch schaffen, die Spannung am Ende enorm lange stehenzulassen.
Der zweite Teil des Konzertes beginnt erneut mit Richard Strauss und seiner musikalischen Umsetzung von "Till Eulenspiegels lustigen Streichen" - für ein Liebhaberorchester aufgrund häufiger kleinteiliger Strukturen, die paßgenau kommen müssen, eine beinahe noch größere Herausforderung als die weiträumigere Alpenlandschaft. Aber man staunt - gerade im Intro klappt diese Kleinteiligkeit ziemlich gut, und nachdem das Hornthema anfangs noch etwas zu gequält erschienen war, verliert sich auch dieses Problem später. Dirigent Masahiko Tanaka läßt starke Kontraste in die diversen musikalischen Überraschungen legen, aber auch wenn fließendes Musizieren nötig ist, etwa in den elegant schreitenden Bratschen über den wuseligen Tiefstreichern, überzeugt das Orchester. Selbst ein lockerer Groove gelingt, während die Gerichtsverhandlung wieder äußerst plastisch interpretiert wird. Viel Spannung legen die Japaner in die Galgenszene, bevor der kurze Bombastschluß klarmacht, daß der Held keineswegs aus der Geschichte verschwunden ist.
Als Kulturbotschafter Japans hatte das Orchester insgesamt auf elf Touren Maki Ishiis "Mono Prism", ein Konzert für japanische Trommeln und Orchester, gespielt, so auch 2009 im Gewandhaus. Kazuki Yutani war damals einer der Trommelsolisten, und 2011 hat er ein eigenes Konzert für diese Besetzung geschrieben, das als letztes Werk des regulären Programms erklingt. Im Gegensatz zu den sieben Solisten plus neun Orchesterschlagwerker im Ishii-Werk kommt Yutani mit drei Solisten und fünf Orchesterschlagwerkern aus, wobei die Solisten mehrmals die Instrumente zu wechseln haben - insgesamt stehen zwei Einheiten aus je drei kleinen Taiko-Trommeln am vorderen Bühnenrand, flankiert von drei mittelgroßen Trommeln (eine davon noch um eine kleine ergänzt), und ganz hinten rechts in der Ecke ist die 145 kg schwere große Trommel aufgebaut. Yutani konzipiert zunächst ein sehr düsteres Intro, in das schrittweise Bewegung kommt, die ihre erste große Klimax mit den ersten Schlägen auf die große Trommel erfährt. Schon hier wird klar: Yutani hat ein ausgezeichnetes Händchen für die rhythmischen Elemente, die er mit großer Sicherheit einsetzt, und auch ein Gespür für Dynamik blitzt in den interessanten An- und Abschwellvorgängen immer wieder auf. Nur liegt dem Werk eine zwölftönige Struktur zugrunde, gespalten in drei Teile von fünf, nochmal fünf und zwei Tönen - und diese Idee und die sich daraus ergebenden Elemente überzeugen zumindest nach einmaligem Hören nicht, so daß der Hörer schnell dazu übergeht, sich beim Hören auf die beeindruckenden Trommelleistungen zu konzentrieren, etwa das interessante erste Hauptsolo an einem der kleinen Sets und zwei der mittleren Trommeln, wo man dann auch klassische Exzelsiorwirkungen entdeckt, die ein zeitgenössischer Rockschlagzeuger auch nicht anders umgesetzt hätte. Auch der Ausklang des Solos unter Hinzuziehung der Orchesterschlagzeuger spricht für ein gutes rhythmisches Gestaltungshändchen des Komponisten, noch mehr allerdings das zweite Hauptsolo, diesmal an der klein-mittleren Einheit, der mittleren und der großen Trommel bestritten, in einem theoretisch großen Inferno gipfelnd (theoretisch deshalb, weil praktisch wiederum noch einige Luft bis zum Dynamikgipfel offenbleibt) und erneut einen prima strukturierten Ausklang aufweisend. Erst kurz vor Schluß fügt sich die Melodik doch mal zur klassischen Tiger-und-Drachen-Anmutung, wie man sie eigentlich schon viel früher vermutet und erhofft hätte, zumal der Begleittext zum Stück explizit auf die japanischen Hintergründe der beiden fünftönigen Skalen eingeht und das ganze Stück als Abbild der heutigen japanischen Gesellschaft und der Traditionsbezogenheit apostrophiert. Hinten raus sind Yutani offensichtlich die Ideen ausgegangen: Eine nette, aber nicht weltbewegende Steigerung endet etwas plötzlich, was das kopfzahlmäßig leider wieder mal recht übersichtliche Publikum aber nicht vom Spenden reichlichen und verdienten Applauses abhält.
Natürlich belohnt das Orchester das Publikum mit einer Zugabe: Alle Musiker außer den Streichern und einer Oboistin verlassen die Bühne, und die Verbliebenen sorgen für das Highlight des ganzen Abends: Sie spielen das japanische Volkslied "Kojo no tsuki" in einer Fassung, die der Oboe zumeist die Melodieführung überläßt, aber auch den Streichern häufig diesbezügliche Elemente überträgt. Das Ergebnis ist zwar kitschig hoch drei, aber schlicht und einfach nur noch mit dem Begriff "schöööööön" zu bezeichnen und in puncto Gänsehautfaktor der legendären Scorpions-Fassung von 1978 allermindestens ebenbürtig.
Das wäre ein stimmungsmäßig perfekter Ausklang des Konzertes gewesen - aber die anderen Orchestermusiker kehren wieder auf die Bühne zurück, und es gibt eine zweite Zugabe: Carl Maria von Webers "Aufforderung zum Tanz" mit seiner Solocellorahmung und seinem ganz leicht wienerischen Anstrich. Freilich läßt sich hier nicht mehr verbergen, daß die Hörner doch schon ziemlich außer Puste sind - nach einem so langen Konzertprogramm auch kein Wunder. Trotzdem ist's natürlich ein schönes und unterhaltsames Stück, das man gerne hört, auch wenn sich die Tanzenden wie an diesem Abend ab und zu mal auf die Füße treten, meint auch das Publikum und applaudiert wieder fleißig.
Zur allgemeinen Überraschung erscheinen hernach die drei Trommelsolisten auch wieder auf der Bühne, und es gibt noch eine - die dritte! - Zugabe: Yuzo Toyamas Rhapsodie für Orchester hatte bereits 2009 als Extraleistung gedient und gibt nach der flötendominierten ruhigeren ersten Hälfte den Trommlern, diesmal von sechs Orchesterschlagzeugern unterstützt, nochmal Gelegenheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen - eine Chance, die die Dame und die beiden Herren natürlich gerne nutzen. Toyamas Stück entspricht den Hörerwartungen, die man an ein japanisches Orchesterstück hat, viel eher als das Yutanis, und der cineastische Charakter tut sein Übriges dazu: Standing Ovations belohnen Orchester, Dirigent und Solisten, bevor ein doch recht außergewöhnlicher Konzertabend endet.



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