www.Crossover-agm.de
Leipziger Universitätsorchester   28.01.2012   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Auch im Klassiksektor haben sich über die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte hin "Hits" ausgebildet, die zwar nicht alle permanent im Fokus des Konzertbetriebes stehen, die man aber immer wieder mit einem freudigen "Ach ja"-Gefühl begrüßt, wenn man sie auf einem Konzertprogramm entdeckt. Gleich drei solcher "Hits" versammelt das Leipziger Universitätsorchester in seinem Winterprojekt 2011/2012, und es eröffnet den Reigen mit Pjotr Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüre "Romeo und Julia", einer äußerst innigen Komposition, der man anhört, wie sehr sich der Komponist im Thema "unerfüllte Liebe" selbst wiederfand, auch wenn das bei ihm andere Ursachen hatte als bei den Figuren in Shakespeares Tragödie. Der junge Dirigent Raphael Haeger legt, sobald die eröffnende Nervosität im Holz verflogen ist, eine beeindruckende Ruhe ins Intro und modelliert die Tiefstreicher förmlich heraus, so daß sich zum ersten und nicht letzten Mal an diesem Abend eine cineastische Wirkung einstellt, die in diesem Fall sogar noch ein ungeplantes Element beinhaltet: Auf einer der linken Emporen beginnt sich ein Baby bemerkbar zu machen - strategisch leider nicht ganz auf dem Höhepunkt der betreffenden Steigerung, wie man das im Kino an dieser Stelle erlebt hätte, sondern schon mitten in der Steigerung. Daran liegt's aber sicherlich nicht, daß das Holz immer noch nervös bleibt, was speziell den Flöten einige Passagen etwas verhagelt. Auch die erste große Steigerung bleibt anfangs zu fragmentarisch, bevor Haegers modellierende Hand auch hier ein Zusammenspiel geformt hat; das gleiche Szenario wiederholt sich später nochmal im großen Ausbruch. Aber danach platzt der Knoten endgültig: Wie Haeger die Hinabführung bis in Stillstandsnähe meistert, das weiß zu überzeugen, und eine klasse Harfe tut das Übrige dazu. Auch das Dynamikmanagement paßt lange Zeit, der leicht zu undifferenzierte Tod wird durch kompetente Trauer aufgewogen, wenngleich der Holzchoral auch hier noch Reserven offenbart, und nur der Schluß wird in der Balance zum Problem, legt der Pauker dort doch soviel Energie in seinen gigantischen Wirbel, daß man den Rest des Orchesters erst nach seinem Verstummen im Schlußton wieder hört. Macht nix - ein guter Auftakt ist gefunden.
Edward Elgars Cellokonzert e-Moll op. 85 hatte es bei den Zeitgenossen des Komponisten eher schwer und wurde erst nach dessen Ableben zum "Hit", hauptsächlich dank des Einsatzes berühmter Cellisten mit Pablo Casals an der Spitze. Der gerade 20jährige Wassily Gerassimez, trotz seines jungen Alters schon reichlich preisdekoriert, tritt also in große Fußstapfen, aber sie erweisen sich als nicht zu groß für ihn, das sei vorweggenommen. Er beginnt den ersten Satz noch eher zurückhaltend, und die Feinabstimmung mit dem Orchester läßt anfangs auch noch ein wenig zu wünschen übrig, aber das bessert sich schnell, wie spätestens die exakt auf den Punkt kommende Cellosense über den Streicherzupfern zeigt und die brillante Übernahme der verklingenden Solocellozupfer in die leise grollenden Kontrabässe wohl am eindrucksvollsten demonstriert. Die diversen Ausbrücke läßt Haeger hier erneut recht cineastisch spielen, aber noch etwas breiter, ohne freilich indifferenziert zu wirken. Das attacca folgende Scherzo demonstriert, daß Gerassimez auch hummelflugartiges Gesäge in Perfektion beherrscht, während das Adagio nicht ganz so schmelzend gerät, wie man das vielleicht erwartet hätte, auch wenn die Stimmungserzeugung natürlich trotzdem auf einem sehr hohen Niveau stattfindet. Wieder in eine andere Richtung geht der Schlußsatz, trotz seiner Zerklüftung über weite Strecken einen lockeren Groove vorschreibend, den alle Beteiligten mit hörbarer Freude in Szene setzen. Haeger findet im Dschungel der Dynamikvarianten durchaus einen eigenen Weg, und es entsteht der Eindruck eines gekonnten Lavierens zwischen Stillstand und fröhlichem Gehopse. Das begeistert die Anwesenden im ausverkauften Gewandhaus sehr, und Gerassimez läßt sich nicht lange zu einer Zugabe bitten, einer Jazzimprovisation im A-B-A-Format, wobei Teil B recht schwelgerisch ausfällt, während A klassisch zu nennende Rock'n'Roll-Themen durch den Wolf dreht und man sich im Publikum nur schwer zurückhalten kann, den auch vom Solisten mit klopfendem Schuh markierten Grundrhythmus nicht mitzugrooven.
Der größte der Hits folgt nach der Pause: Antonín Dvoráks 9. Sinfonie, geläufig mit dem Untertitel "Aus der Neuen Welt", gehörte zu DDR-Zeiten sogar zum Kanon der im Schulunterricht zu behandelnden Werke, was mit dem Einzug einer gewissen Beliebigkeit im musikalischen Bildungswesen der Bundesrepublik freilich sein Ende hatte - trotzdem taugen die markanten Themen des 1. und 4. Satzes immer noch als Ohrwürmer, wobei trotz ihrer Omnipräsenz das Werk natürlich nicht auf sie zu reduzieren ist. Das Adagio-Intro des ersten Satzes läßt Haeger jedenfalls förmlich streicheln, der Horn-Einwurf sticht markant, aber sauber heraus, und nur das Holz muß sich erst wieder finden. Das gelingt aber, denn nachdem Haegers Modellierungshand mit dem Hauptthema wieder einmal Beschäftigung gefunden hat, überzeugt das Holz im Seitenthema ohne Wenn und Aber, und auch die folgenden Dialogpassagen machen Hörspaß. Der Blechchoral im Largo braucht auch ein paar Sekunden, um richtig tight zu werden, bevor die große Stunde von Carolin Rösch am Englischhorn schlägt - sie malt mit ihrem Instrument Bilder, unterstützt von ihren diesmal exzellent aufspielenden Holzkollegen, und sorgt so für einen reizvollen Glanzpunkt. Haeger nimmt den Satz als Ganzes recht langsam und legt viel Ruhe rein, was den kurzen Ausbruch daher besonders schroff wirken läßt. Das Solostreicherensemble wiederholt ein an diesem Abend mehrfach gehörtes Phänomen - es braucht eine kleine Anlaufzeit, bevor es sich zu einer richtig guten Leistung aufschwingt, und im Kontrabaßoutro liegt enorm viel Spannung. Ins Scherzo dagegen bekommt Haeger keine richtige Linie, was bei den rhythmisch verschrobenen Passagen auch nicht ganz so einfach ist; die Walzeranklänge im Trio verschwinden irgendwo im bedeutungsvollen Nichts. Den vierten Satz, ein Allegro con fuoco, packt er aber dann wieder mit seiner großen Gestaltungshand an, erzeugt nochmal cineastisches Breitwandformat, aber trotzdem energisch zupackend, wenn's sein muß. Die Aufgabe, fast allen der scheinbaren Ruhepole noch einen latenten Unruhefaktor einzupflanzen, lösen Dirigent und Orchester prima (und auch die, den Unruhefaktor an den richtigen Stellen wieder zu eliminieren). Das Solohorn wackelt vor der vorletzten Steigerung nochmal, fängt sich aber vor der letzten wieder, und die beiden Hochplateaus überzeugen mit ihrer Massebewältigung und lassen nur die letzte Entschlossenheit in den Schlußtakten etwas vermissen. Aber das Gesamtbild stimmt die Hörer positiv, und so ernten die Beteiligten erneut sehr viel verdienten Applaus.
Bezüglich der Zugabe ist das studentische Orchester ja für absonderlich-kultige Ideen bekannt, und da bildet dieses Konzert natürlich keine Ausnahme: Zu den Klängen von Tschaikowskis "Nußknacker" bekommt der Affe wieder reichlich Zucker. Einige der Elemente sind ja bereits ins "Standardrepertoire" übergegangen, etwa die rotierenden Celli, aber es kommt auch immer wieder was Neues dazu. Dazu zählt etwa der zeitverzögerte Einmarsch der Flöten und der Hörner, zudem (man erinnere sich, daß es sich um Ballettmusik handelt!) mit mal mehr, mal weniger eleganten Tanzschritten und die Hornisten zudem in eine Art "Leningrad Cowboys für Arme" verwandelnd. Die 2. Violinen betätigen sich, wenn sie gerade nicht zu spielen haben, als Ballerinen, das Blech trinkt in seiner Ecke gemütlich Kaffee, Seifenblasen schweben über die Bühne, und aus einzelnen in die Höhe gehaltenen Zetteln formt sich der Satz "Nein, wir hätten nicht lieber Flöte gelernt". Das Publikum steht wie üblich streckenweise vorm Zwerchfellriß und macht sich schließlich bester Laune auf den Heimweg.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver