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Waseda Symphony Orchestra Tokyo   04.03.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Die Waseda-Universität ist eine private Hochschule in Tokyo mit etwa 56000 Studenten in elf Fakultäten. Eine Musikfakultät ist nicht darunter, aber trotzdem hat die Hochschule seit 1913 ein Sinfonieorchester, in dem ergo keine angehenden Geiger oder Trompeter, sondern künftige Chemiker, Psychologen oder Soziologen musizieren. Trotzdem spielt das Orchester auf einem sehr hohen Niveau, wozu Größen wie Karajan, Ozawa oder Sinopoli, die schon mit ihm gearbeitet haben, ihr Scherflein beigetragen haben. Anno 2009 nun geht das Orchester auf seine zwölfte Europatour, elf Konzerte in Deutschland, Österreich und Frankreich umfassend und von zwei japanischen Dirigenten geleitet. In Leipzig steht Kazufumi Yamashita am Pult und legt auf dieses zunächst die Ouvertüre zur Oper "Euryanthe" von Carl Maria von Weber - die Oper selbst findet man kaum noch im Spielplan, aber die Ouvertüre hat wie in vielen ähnlichen Fällen ein Eigenleben als Konzertstück entfaltet. Auffällig ist die enorm große Orchesterbesetzung, welche die Japaner hier auffahren, und möglicherweise liegt es daran, daß einige Parts vor allem zu Beginn etwas zu mulmig und verschwommen geraten, speziell in den Streichern. Dafür bekommen diese den ätherischen Charakter des Largo in der Mitte aber phantastisch hin (in einer Kleinbesetzung wohlgemerkt!). Generell fällt auf, daß die Streicher in der gesamten Ouvertüre den Klang deutlich dominieren, vom Blech hört man nicht so sehr viel. Yamashita schafft es immerhin, eine geschickte Dynamikroute sowohl in die Tempi als auch in die Lautstärke zu legen, und so bleibt eine doch recht unterhaltsame Aufführung.
Danach erklingt "Ein Heldenleben" von Richard Strauss, also ein fetter deutscher spätromantischer Orchesterschinken, bei dem man gespannt sein darf, wie die Achse Berlin-Tokio diesmal funktioniert. Der japanische Held indes hat, so wird man nach der Aufführung konstatieren, wenig mit dem durch Germanien stampfenden Krieger zu tun, allerdings auch nichts mit dem zum Helden hochstilisierten Stukabomber aus dem Zweiten Weltkrieg; allenfalls die japanischen Panzerfahrer aus den Godzilla-Filmen springen einem ab und zu mal ins Hirn. Jedenfalls zeichnet Yamashita zunächst ein eher unentschlossen wirkendes Heldenbild, das mitunter gar im Nichts zu zerfasern droht, und der Protagonist wird erst nach Aufbauübungen durch seine Frau (eine "sprachfähige", wenngleich emotional sicherlich noch nicht ganz ausgereizte Solovioline: Marina Yasuda, Psychologiestudentin) samt Zeugung des Stammhalters zu dem Helden, der er werden soll. Die japanischen Ferntrompeten rufen nicht ganz exakt zum Kampf, aber der Hysteriecharakter in den verzerrten Bühnentrompeten stimmt, auch das akustische Kampfgetümmel (was das zarte weibliche japanische Wesen an der großen Trommel da für Druckwellen erzeugt, stellt jedes Stukabombardement in den Schatten), wenngleich der dramaturgisch wichtige Beckenschlag nach dem Kampf zu früh kommt. Das vorwitzige Englischhorn vor dem letzten Kampf fährt Punkte für die Japaner ein, und da der letzte Ausbruch förmlich aus dem Nichts kommt, genügt hier eine gekappte Lautstärke zur Erklimmung des letzten dynamischen Gipfels, nachdem die Gattin auch wieder da war und eine gekonnte Mixtur aus singenden und schneidenden Violinklängen ins Gefecht geworfen hat. Marina Yasuda erntet einige Bravi und das Orchester nach einer sehr langen Pause verdienten Applaus.
Nach der Pause liegt ein interessanter Grenzfall an: Präludium und Fuge BWV 552 von Johann Sebastian Bach in der Orchesterfassung von Arnold Schönberg. Nichtliebhaber der Musik des 20. Jahrhunderts müssen sich nicht gleich schreiend abwenden - Schönberg hat nicht in den Notentext eingegriffen, sondern diesen lediglich auf die verschiedenen Instrumentengruppen im Orchester verteilt und macht dadurch einige Bezüge sichtbarer, während er andere eher verschleiert. Allerdings stellt seine Vorgehensweise ein Grundproblem: Wenn man auf der Orgel eine Taste drückt (es sollte kein Mix- oder sonstiges effektbeladenes Register sein), erklingt für Zeit x Ton y. Wird Ton y jetzt aber im Orchester von 12 oder 16 Violinen gespielt, wird sich automatisch sowohl für Zeit, Tonhöhe, Tonintensität und ähnliche Faktoren ein Plusminus-Faktor ergeben, der für eine Verunklärung der Lage sorgt. Vielleicht könnte man diesem Problem mit einer kleineren Besetzung und einem brillant aufeinander eingespielten Orchester wie den Londoner Sinfonikern beikommen, die Waseda-Leute schaffen es trotz hörbarer Bemühungen jedenfalls nicht ganz, obwohl sie immer noch etliche zauberhafte Momente erzeugen, wie das blitzartige Violinsolo, die witzigen Harfeneinwürfe und ganz besonders die Fugeneinleitung der Holzbläser - dort wird das Problem der in diesem Stück zu nervös agierenden Holzbläser besonders deutlich, denn als es noch wenige sind, machen sie richtig gut miteinander Musik, aber sobald es immer mehr werden, weicht das Mit- einem Nebeneinander. Schon im Präludium hatten sie dem gravitätisch aufspielenden Orchester eher einen Bremsschuh angehängt, während das Blech insgesamt deutlich mehr zu überzeugen weiß. Insgesamt nicht schlecht - und für das Grundproblem können die Japaner ja nichts.
Als letztes Stück des regulären Programms haben Yamashita und sein Orchester "Mono Prism" für japanische Trommeln und Orchester mitgebracht, geschrieben anno 1976 von Maki Ishii - ein hierzulande wohl kaum bekanntes, aber hochgradig entdeckungswürdiges Stück, das eine Brücke zwischen der japanischen und der abendländischen Musikkultur schlägt. Das Orchester ist voll besetzt, allein neun Schlagzeuger wirken mit (die meisten auch noch an mehreren Instrumenten), und dazu kommen noch die sieben Solisten, welche die auch Taiko oder Daiko genannten japanischen Trommeln bedienen. Anfangs haben sie noch nichts zu tun, ein extrem leiser Beginn des Orchesters steigert sich bis in einen Forte-Schlag, was sich noch einmal wiederholt, allerdings bis ins Fortissimo. Danach setzen die sieben Solotrommler an den Shime-Daikos, den kleinen Trommeln, ein, ebenfalls extrem leise beginnend, sich bis in ein fast physisch wirkendes Druckspiel steigernd und in der Folge wellenförmig mal mit dem Orchester interagierend, mal weiterhin solistisch beschäftigt und die Rhythmik immer wieder mit kleinen Figuren bereichernd. Nicht selten kommt es zu dialogartigen Szenen mit den Schlaginstrumenten im Orchester, prinzipiell aber liegt durch diese Shime-Daikos ein Grundrhythmus unter vielen Passagen des Stückes, der an eine Nähmaschine erinnert. Die sieben im Schneidersitz zwischen Dirigent und Publikum sitzenden spindeldürren Trommler (eine Frau ist auch dabei) spielen übrigens auswendig und beweisen, daß man notfalls mit diesen sieben kleinen Trommeln ein derartiges Inferno erzeugen kann, daß man vom kompletten Rest des Orchesters nichts, aber auch gar nichts mehr hört. Ein gemeinsam geshoutetes "Hua!" beendet das Inferno, und zwei der Trommler wechseln an die 145 kg schwere Oh-Daiko, die große Trommel in der hinteren rechten Ecke der Bühne, die so dumpfe Laute von sich gibt, daß man an nahen Gefechtslärm denkt und, wenn man das Stück in entsprechender Lautstärke zu Hause als CD laufen ließe, vermutlich Besuch von der GSG-9 vorbeikäme. Nach einem Zwischenspiel, das wieder alle sieben an den kleinen Trommeln sieht und in dem das Stück fast zu einer Art Stillstand kommt, wechseln wiederum zwei Trommler an die Chu-Daiko, ein mittelgroßes Instrument, welches das Bild des Gefechtslärms wieder hervorruft, diesmal aber mit MG-Feuer. Strukturelle Gegenpole der Daikos im Orchester bilden vor allem die verschiedenen Xylophone, die immer wieder Interaktionen versuchen und Einwürfe ausführen, aber sich unterm Strich nicht gegen die Daikos durchsetzen können, die gegen Ende hin wieder ein solches Inferno, einen Klangrausch erzeugen, daß vom Orchester nur noch die Pikkoloflöte und die Posaunen wegen ihrer deutlich anders gelagerten Klangfarben hörbar bleiben. Diese Kombination verdeutlicht Ishiis Experiment wohl am besten, und lauter Applaus belohnt das Orchester und die sieben Samurai an den Daikos - so laut und ausdauernd, daß das Publikum im leider wieder mal allenfalls halbvollen Gewandhaus den Japanern noch eine Zugabe in Form einer Rhapsodie von Yuzo Toyama entlockt, auch ein japanisches Stück, auch mit Daikos, allerdings nicht ganz so expressiv, sondern phasenweise eher cineastisch-ausladend und auf Melodik und Harmonik einen deutlich größeren Wert als Ishiis Stück legend. Damit gerät die Rhapsodie zugänglicher, obwohl auch hier das Orchester mit diversen Sägeschnitten für Unruhe sorgen darf - eine feine, ausgewogene und melodisch typisch asiatische Komposition, der man wie dem Ishii-Stück durchaus gern öfter begegnen würde. Die Trommler ernten auch hier eine ganze Menge Bravi, der Applaus ist wiederum laut und ausdauernd, aber zu einer weiteren Zugabe lassen sich Yamashita und seine jungen Wilden dann doch nicht hinreißen.



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