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Albert Herring   17.06.2011   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Das alljährliche Opernprojekt an der Leipziger Musik- und Theaterhochschule zeichnet sich durch eine thematische Vielfalt aus - neben Genreklassikern finden sich auch immer mal richtige "Ausgrabungen" oder zumindest nicht im alltäglichen Operngeschäftsfokus stehende Stücke. Zu letztgenannter Kategorie zählt Benjamin Brittens Kammeroper "Albert Herring" auf ein Libretto von Eric Crozier, der darin Motive aus Guy de Maupassants Novelle "Le Rosier de Mme. Husson" verarbeitete. "Albert Herring" gehört zwar keineswegs zur Kategorie "Ausgrabung", aber ein gängiges Repertoirestück ist es nun auch nicht gerade, wenngleich der mit je 13 Musikern und Schauspielern zu bewältigende Aufwand gerade für kleinere Spielstätten die Möglichkeit eröffnet, mit überschaubarem Aufwand einiges an Effekt zu erzeugen. Wie man das macht, demonstriert die Kreativbesetzung der Hochschule um Jasmin Solfaghari an fünf Abenden im Großen Saal des Hochschul-Hauptgebäudes, von denen der Rezensent den von Ulrich Windfuhr am Pult geleiteten Premierenabend erlebt.
Die Handlung spielt in einer fiktiven englischen Kleinstadt namens Loxford, wo die örtlichen Honoratioren jedes Jahr am 1. Mai eine Maikönigin küren, die durch ihr tugendhaftes Verhalten vorbildhaft wirken soll und nebenbei noch Repräsentationspflichten wie ein Schützenkönig zu erfüllen hat. Unglücklicherweise stellt das Vorbereitungskomitee fest, daß es mit der örtlichen Moral stark bergabgegangen sei (die entsprechenden Erscheinungen bei jeder einzelnen Person werden natürlich geflissentlich ausgeblendet ...) und es keine geeigneten Kandidatinnen gibt. Daraufhin kommt Albert Herring ins Gespräch, und die Runde beschließt, statt einer Maikönigin Albert zum Maikönig zu küren. Alberts Tugendhaftigkeit freilich ist von mehreren äußeren wie inneren Faktoren determiniert: Zum einen stellt er nicht unbedingt einen Intelligenzbolzen dar, zum zweiten steht er unter dem Pantoffel seiner äußerst dominanten Mutter, und zum dritten ist er sozusagen scheinselbständig, das heißt, er muß im mütterlichen Gemüseladen mithelfen bzw. schmeißt diesen mehr oder weniger im Alleingang. Das Komitee stört sich daran freilich nicht, bestimmt Albert zum Maikönig und kann mit pekuniären Argumenten auch dessen Mutter davon überzeugen, daß diese Wahl eine feine Sache sei. Albert ist davon allerdings weniger überzeugt, macht das Spiel aber gezwungenermaßen mit, und alles läuft in den geplanten Bahnen, bis Alberts Freunde Sid und Nancy in die Limonade für das Maifest Rum mischen und damit die Veranstaltung sprengen. Der stark angetrunkene Albert entscheidet daraufhin per Münzwurf, aus diesem Leben auszubrechen, und verschwindet spurlos, woraufhin die Loxforder Honoratioren untröstlich sind und eine Trauerfeier für ihn anberaumen, während der er allerdings mopsfidel wieder auftaucht - er hat in der Nacht quasi alle Untugenden, vor denen er immer gewarnt worden war oder auf deren Idee er bisher nicht mal gekommen wäre, durchprobiert, wirft die Honoratioren aus dem Laden und begibt sich in eine freiheitlichere, aber auch ungesicherte Zukunft.
Diese Schilderung läß schon erahnen, daß die Kreativfraktion diesmal gar nicht so viel Pfeffer in die Inszenierung kippen muß - es liegt von Natur aus schon jede Menge davon drin, und allzuviel ist bekanntlich auch nicht gerade genußfördernd. Die Bühne ist zunächst zwischen dem Honoratiorenbüro und dem Gemüseladen zweigeteilt, bevor ersteres abgebaut und als kahle Fläche dem Ladenvorplatz zugeschlagen wird, auf dem sich alles weitere Geschehen abspielt; das Orchester sitzt im Graben rechts vorn. Detailgespickt ist die Inszenierung natürlich trotzdem, teilweise auf Britten/Crozier selbst zurückgehend (Albert bekommt zum Maifest u.a. "Foxe's Handbuch der Märtyrer" geschenkt), teils definitiv eine neuzeitliche Zutat (z.B. der Abgang der Honoratioren nach dem Pro-Albert-Beschluß, der an eine Mixtur aus der 44-Leningrad-Gestaltung von "Don Kilianov" und dem "Abbey Road"-Cover der Beatles darstellt - zwei Elemente, die Britten 1947 noch nicht kennen konnte). Und auch Sid als Rockerfigur weist definitiv in spätere Zeiten, ebenso wie Lady Billows, die Vorsitzende des Honoratiorenkomitees, die wohl keineswegs zufällig ein bißchen an die Eiserne Lady, also Margaret Thatcher, erinnert und mit dieser auch die Rolle der gestrengen Tugendwächterin gemeinsam hat, was Maggie dann auf manchem Iron Maiden-Coverartwork zum Verhängnis wurde. Freilich: Ob nun unbedingt auch noch das Klischee des unter die Röcke der weiblichen Teenager zu schauen versuchenden Vikars bedient werden mußte, darf diskutiert werden - zwar paßt es in den Grundtenor der Situation, aber eigentlich ist das moralische Faß an dieser Stelle schon voll genug. Gespielt wird übrigens offensichtlich eine Vegetarier-Fassung - Nancy will bei Albert Fleisch kaufen, bekommt aber statt dessen Gemüse; ob die Szene mit dem kohlrabischälenden Albert darüber hinaus als eine Anspielung auf Joseph Beuys und seine theoretische Betrachtung, ob das Schälen eines Kohlrabis als künstlerische Handlung zu deklarieren sei, zu werten ist, muß und darf gerne offenbleiben.
An die Sänger wie die Instrumentalisten stellt Britten übrigens nicht gerade geringe Anforderungen, was beispielsweise die kleinteilige Strukturierung und die oft wenig melodische Stimmführung betrifft. Aber alle Beteiligten an diesem Abend entledigen sich ihrer Aufgabe auf einem allermindestens guten Level, wobei von den Sängern keiner herausragt. Wenn man eine Stelle herausheben will, dann die aberwitzige Gesangsprobe von Manuela Fraikin als Schulleiterin Miss Wordsworth mit den drei Kindern Emmie, Cis und Harry aka Maria Hengst, Carla Frick und Carolin Schumann - die schauerlichen Mißtöne im ersten Gesangsversuch so gekonnt fürchterlich hinzubekommen dürfte eine irre schwere Aufgabe gewesen sein (bekanntlich ist nichts schwerer, als im richtigen Moment falsch zu singen). Die Instrumentalisten haben hier und da Gelegenheit, eigene Akzente einzubringen, und neben dem vielseitig geforderten Schlagzeuger müssen zwei Momente explizit hervorgehoben werden: die perfekten Fernhorneffekte am Beginn des zweiten Aktes, obwohl der Hornist an seinem Platz im Orchestergraben bleibt, und die zauberhaften Duette zwischen Flöte und Klarinette am Beginn des dritten Aktes.
Freilich ist nicht alles Gold, was glänzt: Der letzte Umbau im dritten Akt wird mühevoll mit dem Stimmen der Instrumente überbrückt, was der Inszenierung den Fluß (der bis dahin äußerst kontinuierlich war, im temporeichen zweiten Akt gar ansehnliche Kaskaden gebildet hatte) an einer ziemlich entscheidenden Stelle nimmt und dann dazu führt, daß man den Schluß intensiver zu analysieren beginnt, wobei man (neben dem komischen, im Nichts landenden Ende) auf die Fragwürdigkeit von Alberts Entscheidung und den Preis, den dieser für seine scheinbare neue Freiheit zu zahlen hat, stößt - und diese Komponente wird von Britten nur angedeutet und von Solfaghari völlig unter den Tisch gekehrt. Denn genau genommen haben am Ende wieder einmal alle verloren: die Honoratioren den Rest ihrer Illusionen, Alberts Mutter ihren Sohn, Sid seine Nancy (wiewohl offenbleibt, ob Albert sie Sid wirklich erfolgreich ausspannt), Albert mit dem Gemüseladen (der zum Schluß zur Plünderung durch die Kinder freigegeben wird) seine Existenzgrundlage. So mischt sich in die Komödie eine Tragödie, die den Hörer eigentlich über den Preis der Freiheit nachdenken lassen sollte. Dazu ist das Publikum an diesem Abend offensichtlich nicht aufgelegt, es nimmt die rein komödiantische Solfaghari-Version dankbar an und applaudiert freudig und ausdauernd.



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