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Grosses Concert III/4, Sonderkonzert   25.02.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Um Gerüchten vorzubeugen: Riccardo Chailly wird noch ein Weilchen im Amt des Gewandhauskapellmeisters bleiben - die Programmwahl dieses Konzertes ist also nicht als Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung eines Abschieds zu verstehen. Immerhin hatte Anton Bruckners 8. Sinfonie seit 2005 gleich drei Dirigenten sächsischer Klangkörper als Abschiedswerk gedient (Herbert Blomstedt, Niksa Bareza und Georg Christoph Sandmann). Chailly ist nun also nicht der vierte in dieser Reihe, sondern nutzt vielmehr die Gelegenheit, an drei Abenden das Werk sozusagen vor Publikum noch einmal zu üben, bevor er mit dem Orchester zu einer Ostasientour aufbricht, wo an jeweils zwei Abenden in einer Stadt alternierend ein Dvorák-Programm (das in Leipzig in der Woche zuvor gespielt worden war) und eben Bruckners Achte in der Zweitfassung von 1890 auf dem Plan stehen. Das vom Rezensenten besuchte Konzert ist das zweite der drei in Leipzig angesetzten und läßt den Schluß zu, daß die "Extra-Trainingseinheit" durchaus gut investierte Zeit und Mühe darstellt - über weite Strecken gelingt nämlich eine sehr starke Aufführung, und nur ein paar kleine Winzigkeiten rufen noch nach "abschleifender" Bearbeitung in den nächsten Tagen.
Die auffälligsten dieser Winzigkeiten stehen gleich am Anfang des ersten Satzes. Da leisten zwar die an den diversen leisen Passagen beteiligten Musiker schon erstklassige Arbeit, aber in den ersten beiden Tutti findet sich das Orchester noch nicht, eine gewisse Unordnung herrscht, alles fließt zu sehr ineinander. Das merkt offenbar auch Riccardo Chailly am Pult, läßt die schrittweise Schichtung hin zum dritten Tutti besonders strukturbetont spielen - und siehe da, die Strategie trägt Früchte, die latente Unordnung im Tutti verschwindet, und zwar nachhaltig bis zum Ende der Sinfonie knapp anderthalb Stunden später. Das schließt eine Art speziellen, fast mechanisch wirkenden Gestaltungswillen an manchen Stellen ein, etwa im letzten Zusammenbruch des ersten Satzes, der eine fast roboterhafte Statik eingepflanzt bekommen hat, die wiederum dem Ausklang dieses Satzes, der tickenden Totenuhr, im stärkeren Maße zu wünschen gewesen wäre und dazu auch ein Deut der immensen Spannung, die Hörner und Oboen inmitten des Satzes in ihre Solopassagen zu legen vermocht hatten.
Gilt Chailly allgemein als Beethovenbeschleuniger, so macht das Scherzo an zweiter Satzposition deutlich, daß er bei Bruckner durchaus auch in gegenläufiger Richtung agieren kann, was man übrigens auch bei einem abschließenden Blick auf die Uhr bestätigt bekommt. Das recht zähe Grundtempo verleiht vor allem dem Hauptthema einen interessanten Touch, etwa so, als ob man durch den Wüstensand zu rennen versucht, aber nicht so richtig vorwärtskommt, weil man permanent im Sand steckenbleibt. Die fast orientalisch angehauchten Melodiefarben, die Chailly besonders deutlich herauszufiltern versucht, passen jedenfalls deutlich besser zu diesem Bild als zu dem des deutschen Michels, das man gemeinhin mit diesem Satz zu assoziieren pflegt. Da paßt auch ins Bild, daß Chailly hier manchmal Klang über Struktur stellt, wenn etwa die Hörner mal strukturelle Arbeit zu verrichten haben, aber von Streicherflächen akustisch begraben werden. Daß die ersten Violinen den Satz sehr ätherisch eröffnen und diese Strategie auch weiter verfolgen, reiht sich gut ins große Bild ein. Auch das Trio bleibt schwerfällig, die Trompeten agieren fast choralartig, und im gesamten Satz verdient sich der butterweich spielende Solohornist ein Sonderlob. Nur die Harfen können ihren Fremdkörperstatus nie ablegen - aber vielleicht ist selbst das als Tribut an den Komponisten zu verstehen, der immerhin den klassischen Satz "A Harf g'hört in koa Sinfonie net" gesagt haben soll ...
Freilich gönnt Chailly Bruckner nicht immer eine wörtliche Entsprechung der Pläne, sondern entwickelt manches durchaus weiter. "Feierlich langsam, doch nicht schleppend" hatte Bruckner als Anweisung für das Adagio gegeben - Chailly macht an diesem Abend praktisch aber "Schleppend, doch trotzdem feierlich" daraus. Das funktioniert auch erstaunlich gut, zumal es die Monumentalität, wenn diese denn gebraucht wird, nicht beeinträchtigt. In den endlosen Lavierungen des halbstündigen Satzes erlahmt zwar die Dynamikkurve irgendwann, aber der Aha-Effekt, der die scheinbare Ziellosigkeit in einen übergeordneten Plan einreihen hilft, kommt allerspätestens im großen Ausbruch gegen Satzende, der wie aus Stein gemeißelt vor dem Hörer ersteht. Bis dahin hat man gelungene Momente (etwa den prachtvoll-düsteren Hornchoral) und einige wenige Problemfälle (der zweite Solohornist agiert nicht immer ganz treffsicher) entdeckt, und die Hochspannung im Satzende verrät mal wieder die Meisterschaft der Beteiligten auf der Bühne.
Chailly macht längere Pausen zwischen den Sätzen, so auch vor dem Finale - trotzdem trifft der Dynamikgegensatz des lärmenden Finalintros den kaum die zurückhaltend erzeugte Spannung des Adagioschlusses verarbeitet habenden Hörer wie der berühmt-berüchtigte Keulenschlag, und der Pauker, der übrigens beim Schlußapplaus den mit Abstand lautesten Einzelbeifall bekommen wird, fällt förmlich über sein Instrument her und zerhackt es gekonnt auf höchstem Niveau. Der Energietransport bleibt über das ganze Finale hinweg beachtlich, aber die häufigen Ausbrüche gelingen mit einer solchen Transparenz, daß auch hier nur noch von einer brillanten Symbiose aus Dirigent, Orchester und Werk gesprochen werden kann: Einen solchen differenzierten Korpus muß man erstmal hinbekommen. Da stört auch nicht entscheidend, daß manche der leisen Passagen hier das letzte Zusammengehörigkeitsgefühl vermissen lassen - das ist spätestens in der brillant gesteuerten schleppenden Entwicklung hin zum Schlußlärm wieder da. Kurioserweise wird dessen Energiezufuhr vor den letzten drei Tönen praktisch abgeschaltet, so daß eine seltsame Appendixwirkung entsteht. Aber das stört das Publikum im nahezu gefüllten Gewandhaus nicht - zwar bleiben die ganz großen Enthusiasmusausbrüche aus, aber Dirigent und Orchester werden zu Recht gefeiert und können bedenkenlos nach Asien aufbrechen.



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