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Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot   14.10.2010   Leipzig, Centraltheater
von rls

Dieses Konzert bildet den Auftakt der dreitägigen Feierlichkeiten zum 20jährigen Bestehen des Forums Zeitgenössischer Musik Leipzig (FZML), die konsequenterweise unter das Motto "Kein Bach" gestellt werden - der Thomaskantor a.D. ist in der Stadt eh omnipräsent. Die BKK (dieses Kürzel stand übrigens früher für "Braunkohlenkombinat") ist auch nicht zum ersten Mal in der Messestadt, kommt diesmal allerdings nur unter Schwierigkeiten vorwärts: 25 Kilometer Stau auf der A9 bei Dessau wegen eines umgestürzten LKWs lassen die Kapellenmitglieder mit gehöriger Verspätung eintreffen, einige kommen kurioserweise erst während (!) des Konzerts an, ohne daß man sie freilich bisher vermißt hätte. Die Kapelle spielt eine eigentümliche, gar originell zu nennende Mixtur aus alten Arbeiterliedern und allem Passendem oder Unpassendem, was bei drei nicht auf den nächsten rettenden Bäumen ist; "Aufbauwalzer-Picture-Show" heißt das neue Programm, das an diesem Abend seine zweite Aufführung erfährt. Vom Rock'n'Roll über Ska bis hin zu purer atonaler Klassik ist an diesem Abend alles dabei, Gesang verschiedener Bandmitglieder und etlicher Gäste kommt noch dazu, gar zwei Gedichte noch, die freilich mit ihrem zwischenmenschlich orientierten Gestus gar nicht zum Rest des Programms passen wollen. Der besteht in seiner ersten Hälfte zu einem guten Teil aus Filmeinspielungen, die mit Livemusik oder Soundcollagen unterlegt werden - skurrile Produktionen der 1950er/60er Jahre aus der Babelsberger Filmhochschule, mal aus heutiger Perspektive eher verschroben bis lustig anmutend, aber nicht selten auch so, daß einem das Lachen im Halse steckenbleibt. Gegen Ende des ersten Setteils spielen drei Musiker als FDJler bzw. Pioniere "Atomtheater", also eine Szene mit dem Titel "Das Hamlet-Atom" - die Skurrilität dieses Teils erhellt sich erst danach, als ein realer DDR-Film über die Behandlung eines Hochofens mit dem radioaktiven Isotop Kobalt-60 gezeigt wird, der fast genau der Theaterszene entspricht und jedem Strahlenschutzbeauftragten die Haare einzeln ausfallen läßt. Die zweite Sethälfte ist musikalisch etwas rock'n'rolliger ausgefallen, was auch dadurch verdeutlicht wird, daß die Bläser jetzt nicht mehr links und rechts aufgereiht sitzen, sondern verteilt auf der Bühne stehen. Das Problem ist nur, daß sich in diesem zweiten Teil die Nummern häufen, bei denen eine Stringenz im Programm nicht mehr zu erkennen ist. Der "Aufbauwalzer", von Gastsängerin Linda de Sol (Küßchen!) im Duett mit Ensemblegitarrist Heinz geschmettert, gehört natürlich zwingend dazu und bildet das strahlende Highlight dieser zweiten Sethälfte - aber diverse Eigenkompositionen und auch Rio-Reiser-Material wie "Der Turm stürzt ein" wollen in der für sie gewählten Umgebung nicht zünden und animieren trotz guter musikalischer Umsetzung bisweilen eher zum Gähnen. Welche Sprengkraft im Material der BKK liegen kann, beweist die Kapelle in der ersten Sethälfte an zwei Stellen. Zunächst verknüpft sie den Ton Steine Scherben-Klassiker "Macht kaputt, was euch kaputt macht" gekonnt mit Deichkinds "Remmi Demmi" und beleuchtet damit das Thema Anarchie von zwei gleichermaßen homogenen wie verschiedenen Standpunkten aus (klingt paradox, ist aber so). Noch hintergründiger fällt der zweite Volltreffer aus: Linda singt das Pionierlied "Unsere Heimat", das in ein instrumentales Arrangement von "Die Heimat hat sich schön gemacht" übergeht, in das der Arrangeur allerdings das Invasionsthema aus Dmitri Schostakowitschs Leningrader Sinfonie eingebastelt hat (sicherheitshalber sagt Dirigent Frank das an der betreffenden Stelle an, aber das tut der Überraschung keinen Abbruch). Von dieser Sorte hätte man sich zwei Stunden Dauerbeschuß gewünscht - statt dessen genieren sich besonders im zweiten Setteil weite Strecken in gepflegter Harmlosigkeit. Das musikalische "Anything goes"-Prinzip bekommt ebenfalls Risse: Hornist und Moderator Wolfram beweist vielerlei Talente, aber "B-Style" (ein Cover der befreundeten Band Rotfront, die übrigens "Remmi Demmi" auch schon mal gecovert hat) zeigt, daß er zum Rapper dann doch nicht taugt. Der stark verspätete Beginn führt zu einem vorzeitigen Ende des Konzertes ohne Zugaben (das während des Soundchecks gespielte "Paint It Black" fehlt im Set, und so entgeht dem Publikum auch die Information, ob man es in der "Rot und Schwarz" betitelten Fassung von Karel Gott dargeboten hätte, was angesichts des Bandnamens ja naheläge), allerdings ist das nicht sonderlich zahlreich anwesende Publikum zu diesem Zeitpunkt sowieso schon dem Einschlummern nahe - man spendet freundlichen Applaus, aber überschäumende Partystimmung sieht definitiv anders aus (was bei den diversen Highlights im ersten Setteil aber auch schon so war). Und daß sowohl Publikum als auch Band, um mit Heinz Erhardt zu sprechen, keine Ahnung von Geometrie haben, indem sie Morgenröthe-Rautenkranz, den Geburtsort von Sigmund Jähn, mal eben ins Erzgebirge verlegen, ist irgendwie als symptomatisch zu werten ...



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