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Anathema, Anneke van Giersbergen, Petter Carlsen   06.10.2010   Leipzig, Anker
von rls

Das alte Lied mit dem Zeitmanagement: Eine Information über die Supportsituation ist nirgendwo herauszubekommen (interessanterweise nicht mal auf der Homepage des [zweiten] Supportacts selbst, wie sich später herausstellen wird), die Anker-Homepage weist 20 Uhr als Startzeit aus. Der Rezensent schafft das nicht ganz, betritt die Halle gegen 20.10 Uhr und landet mitten im Set des (zweiten) Supportacts: Eine rotblonde Frau steht mit Wandergitarre auf der Bühne und singt. Aber Moment mal, die Stimme kennt man doch ... und die Optik auch ... Flash! Das ist niemand anders als Anneke van Giersbergen, die langjährige Stimme von The Gathering, die sich mit Agua de Annique "selbständig" gemacht, allerdings auch dort in einem gewissen Bandkontext gearbeitet hatte. Das tut sie hier nun nicht, vom Setcloser abgesehen, in dem sie Unterstützung von einigen Anathema-Mitgliedern bekommt, die partiell auch auf ihrem aktuellen Album zu hören sind. Der Rezensent kennt die zweieinhalb Songs Solomaterial, die er zu hören bekommt und die vom Publikum eifrig beklatscht werden, nicht, aber es ist allein schon einmal schön, diese markante und für ein halbes Genre stilprägende Stimme wieder mal zu hören, zumal in ausgedehnter Pracht und wenig durch Instrumente "eingeschränkt". Die letzten beiden Stücke stammen aus dem Fundus von The Gathering, interessanterweise verzichtet die Holländerin aber auf "Shrink", obwohl sie das auf ihrem aktuellen Album neu eingespielt hat. Ein sehr angenehmes Wiederhören und für viele, die auch nicht wußten, wer da spielen würde, eine gelungene Überraschung.
Apropos Überraschung: Die wird noch größer, als man feststellt, daß Anneke keineswegs der einzige, sondern eben schon der zweite Supportact war: Vor ihr hat bereits Petter Carlsen gespielt, der also weit vor der eigentlichen Anstoßzeit 20 Uhr auf der Bühne gestanden haben muß; was er dort von sich gegeben hat, entzieht sich komplett der Kenntnis des Rezensenten.
Anathema sind nach langer Durststrecke (sieben Jahre lang mußte die Anhängerschaft auf ein reguläres neues Studioalbum verzichten) mittlerweile wieder gut "im Geschäft", und sie haben auch, was man allein anhand des "Hindsight"-Akustikalbums, das als erstes neues Lebenszeichen erschienen war, vielleicht nicht vermutet hatte, immer noch oder wieder Spaß am Rocken. Und das demonstrieren sie an diesem Abend im erstaunlich gut gefüllten Anker oft und gerne. Dabei wenden sie eine originelle Strategie bei der Erstellung der Setlist an: Sie spielen häufig Dreierblöcke von einzelnen Alben, und das zumeist in chronologisch absteigender Folge. Als sie beim Material von "Alternative 4" angekommen sind, beginnt sich mancher Altfan schon in den buntesten Farben auszumalen, welche drei Songs man denn von "Serenades" oder gar von "Crestfallen" zu hören bekommen würde - aber so weit kommt es dann doch nicht, mit dem Material von "Alternative 4" (1998 erschienen) endet die Zeitreise, und ein Enthusiast im Publikum, der sich "Sweet Tears" wünscht (das auf "Serenades" steht), bekommt von Sänger Vinnie die Auskunft, das sei eine andere Band gewesen. Aber außer konsequenten Doomfreaks dürfte trotzdem niemand die Konzerthalle unglücklich verlassen haben, denn auch nach Auflösung der Blockstruktur spielen sich die Briten weiter kreuz und quer durch ihr neueres Schaffen und landen letztlich bei einer Gesamtspielzeit von weit über zwei Stunden, die sie mal mit betörenden Klanglandschaften, die das Vorbild von Pink Floyd erkennen lassen, mal auch mit wildem, alternativ angehauchtem Rock plus gewisser Metalschlagseite füllen. Daß Vinnie ein extrem ausdrucksstarker Sänger ist, weiß man auch spätestens seit dem 1996er "Eternity"-Album, und er bekommt kompetente weibliche Unterstützung von Lee Douglas, bei der man zweimal hinschauen muß - sie klingt ein wenig wie Anneke van Giersbergen und sieht auf den ersten Blick auch ein bißchen ähnlich aus. Gerade mit so einer Stimme an Bord hätte man die beiden Akustiksongs von den ersten beiden Scheiben nun wirklich noch mit in den Set nehmen können - aber genug lamentiert, der Set ist auch so rund und macht jede Menge Hörvergnügen, übrigens auch bei schön klarem Sound in verträglicher Lautstärke, selbst dann, wenn mal die Postrocksau durchs Dorf getrieben wird. Was Anathema an diesem Abend anfassen, das wird zu Gold, selbst das "Wunschkonzert" kurz vor Schluß: Gitarrist Danny (nur echt mit Pudelmütze, optisch eher in einer Nu Metal-Combo zu verorten) stimmt sein Instrument um, und die Band hobelt Led Zeppelins "Kashmir" in einer massiv-bombastischen Variante herunter, die extreme Expressivität Robert Plants nicht bis ins Letzte reproduzierend, aber doch jede Menge Hörspaß bereitend. Umjubelter Setcloser aber ist wie gewohnt "Fragile Dreams", dessen ausladende Melodien im langen In- und Outro die ganze Halle mitsingt oder zumindest -summt und nach dem das Konzert endet - es gibt keine Zugabe, aber was hätte man nach diesem Doppelschlag auch noch spielen sollen? (Gut, "They (Will Always) Die" vielleicht - kleiner Scherz :-)) Mangelnden value for money kann man den Briten jedenfalls kaum vorwerfen, und die transportierte Intensität des Auftritts reicht bei anderen Bands auch locker für drei Gigs. "We're Here Because We're Here" heißt das aktuelle Studioalbum der Band - der Titel ist spätestens nach diesem Konzert wieder Programm.
PS: Anderthalb Wochen später erzählen mir zwei Besucher des Tristania-Gigs in Glauchau, daß sie Anathema auf der aktuellen Tour in Erfurt gesehen hätten, dort mit analoger Blockstruktur, aber ohne "Kashmir", dafür doch mit einem Track von "Serenades", nämlich "Sleepless" - und mit genau dem gleichen eigentümlichen Zeitmanagement samt stark verfrühtem Beginn. Kein feiner Zug den special guests gegenüber ...



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