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London Symphony Orchestra   02.09.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Im Februar 2009 hatte das London Symphony Orchestra unter Sir John Eliot Gardiner mit einem auf den ersten Blick harmlos anmutenden Beethoven-Programm ein Konzert der Extraklasse abgeliefert, das sich unter den 72 rezensierten 2009er Konzerten des Unterzeichners letztlich auf den Platz an der Sonne schob. Knapp anderthalb Jahrzehnte später ist das Orchester wieder in der Stadt, diesmal mit einem Gastkonzert zu den Mendelssohn-Festtagen Leipzig, die anno 2010 unter dem Motto "Mendelssohn und Schumann" stehen. Klarer Fall also, daß mindestens einer der beiden Protagonisten im Programm auftauchen muß - das ist in diesem Falle Mendelssohn, flankiert von einem anderen Komponisten, der zu Zeiten Mendelssohns und Schumanns in Leipzig durchaus bekannt und auch selbst bei mehreren Besuchen musikalisch aktiv geworden war: Hector Berlioz. Mit dessen Ouvertüre "Le Corsaire" eröffnen die Londoner den Abend (nachdem sie sich noch während des Einlaufens warmgespielt haben - ein Kuriosum, das man bei kaum einem Orchester findet). Daniel Harding, Erster Gastdirigent des Orchesters, schafft dabei das Kunststück, die dynamischen Grenzen in beiden Richtungen relativ weit außen zu setzen, ohne daß man das Gefühl hat, hier würde sich ein Graben auftun. Florettstiche eröffnen das Stück, gefolgt von ätherischem Geschwelge, das wiederum von mittelschwerer See abgelöst wird. Nur einmal, bei der nächsten Umschaltung gen Spitzenpower, droht das Geschehen zu entgleiten, aber der sehr gestenreich dirigierende Harding reißt das Ruder schnell wieder herum. Das Management der Passage, in der posaunendominiertes Breitwandkino kleinräumig von purer Romantik unterbrochen wird, verlangt schon ein gutes Händchen, und das hat der kleine Dirigent offensichtlich. Auch der Energieschub nach hinten heraus läßt keine Wünsche offen, und erste Bravi lassen nicht lange auf sich warten.
Danach erklingt mit Mendelssohns Violinkonzert ein Paradestück für jedes Orchester und für jeden Violinsolisten, bei dem man freilich auf unterschiedliche Prägestrukturen gefaßt sein muß - im Leipziger Gewandhaus hat das Stammpublikum quasi automatisch die Masur-Mutter-Fassung im Ohr, und da setzt Harding dann doch etwas andere Akzente. Er nimmt auch das Allegro molto appassionato in der gleichen kontrastreichen Form wie die Berlioz-Ouvertüre, legt vor allem nach unten sehr viel Ruhe ins Spiel und breitet somit einen idealen Teppich für Christian Tetzlaff aus. Der nun wieder sägt, tänzelt, windet sich, spielt also äußerst körperbetont, was dem nicht rocksozialisierten Hörer die Assoziation von Verkrampfung eingeben dürfte (der rocksozialisierte Hörer im übrigens nicht ausverkauften Gewandhaus kann das, was er sieht, dagegen problemlos einordnen). Seine Geige erzeugt einen kräftigen, aber trotzdem elegant wirkenden Ton, der die seitens des Orchesters gewährten Freiräume konsequent nutzt. Trotzdem oder auch deshalb bildet sein Spiel eine Gratwanderung, und am Ende der Kadenz hat man fast den Eindruck, als drohe der Absturz - allzu technokratisch sägt Tetzlaff hier die Bühnenbretter durch. Der Eindruck, hier ginge mehr, wird im Andante-Satz noch verstärkt: Die Orchestereinleitung vor dem ersten solistischen Violineneinsatz wäre in der Form von fast jedem anderen Orchester ein Highlight - aber anderthalb Jahre zuvor hatten die Musiker an solchen Stellen wahrhaft überirdisch gespielt, eine Art transzendentes Leuchten erzeugt, und davon sind sie an diesem Abend dann doch ein gutes Stück entfernt. Trotzdem erschreckt man fast beim ersten Einsatz der Trompete in diesem Satz. Und auch im dritten und letzten Satz fühlt sich der Hörer irgendwie hin- und hergerissen. Solcherart perlende Massen-Kammermusik in zügigem Tempo bekommt man nicht alle Tage zu hören, auch das Dynamikmanagement läßt keine Wünsche offen, Tetzlaff spielt wieder um sein Leben - und trotzdem läßt einen vieles einfach kalt, erkennt man Perfektion an der Grenze zur Leblosigkeit, die nur hier und da wohlige Schauer über den Rücken schickt. Die Dichte an wohligen Schauern ist beim Rest des Publikums allerdings offensichtlich deutlich höher als beim Rezensenten, denn es brechen sofort laute Bravi samt frenetischem Applaus los, wofür sich Tetzlaff mit einer Zugabe bedankt - natürlich ein Bach (man ist ja in der Bachstadt ...), nicht durchgehend spannend, aber dafür teilweise entspannt und mit einer enormen End-Spannung ...
Nach der Pause geht es mit Berlioz weiter - "Harold in Italien" steht auf dem Programm, eine viersätzige Sinfonie mit obligatorischer Solo-Viola, die nach Berlioz' eigener Überlieferung eigentlich ein Bratschen-Solokonzert hätte werden sollen. Harold ist eine Figur aus dem Zitatenschatz Lord Byrons und mit Manfred, über den Berlioz nach Anregung russischer Künstlerkreise auch einmal eine Sinfonie schreiben sollte, bevor sich dann Tschaikowski des Stoffes annahm, durchaus vergleichbar, wenn auch alles andere als wesensgleich. "Italien" läßt sich in den vier Sätzen des Werkes auf "die Abruzzen" eingrenzen, wo alle vier "Handlungen" spielen, wobei aber im wesentlichen Harold und seine Beziehungen zu anderen Menschen die Hauptrolle spielen und nicht die Naturschilderungen wie später in Strauss' "Alpensinfonie". Auch Harold aber muß im ersten Satz "Harold in den Bergen. Szenen von Melancholie, Glück und Freude" ganz unten anfangen, und Hardings erstes Meisterstück ist es, den strukturdominierend angelegten Tiefstreichern trotzdem hohe Eleganz einzuverleiben. Tabea Zimmermann spielt dann das enorm kantable Hauptthema (auch dasjenige bei Mendelssohn gehorchte diesem Attribut bereits!), bevor über eine ausgedehnte Passage Schmelz (wenn man es positiv deuten will) bzw. Schmalz (für die Skeptiker) ausgegossen wird; der nächste frische Wind läßt auf sich warten, bläst dann aber wirkungsvoll. Wer glaubt, die Popmusik habe repetierende Unisono-Tonwiederholungen erfunden, der sei aufgefordert, die hintere Hälfte des ersten Satzes genauer anzuhören; scharfe Einwürfe vor allem der Piccoloflöte zerschneiden an den richtigen Stellen den Teppich aber immer wieder, und ein bombastischer Schluß kommt auch noch. Im zweiten Satz "Pilgerzug, das Abendgebet singend" sorgen die Kontrabässe für eine pulsierende dauerhafte Untergrundbewegung, selbst im Piano, und damit für einen enorm flotten Drive, wie ihn der gemeine Pilger allenfalls auf den letzten Metern vor der Herberge bei drohendem Gewitter entwickeln dürfte. Macht aber nichts - die herrlich leiernde Viola im großen Piano-Part setzt einen wirkungsvollen Kontrapunkt, und im Satzschluß liegt enorme Spannung, die leider von den Hustern im Publikum erfolgreich torpediert wird. Ganz kurios wird's dann im dritten Satz "Serenade eines Bergbewohners der Abruzzen an seine Liebste". Der geht mit einer flockigen holzdominierten Kammermusik los, wo sich vor allem die Piccoloflöte hervortun darf, wird dann elegisch, bevor der Spielmann des ersten Teils wiederkehrt. Was auch immer der Bergbewohner seiner Liebsten da vorgetragen hat - hier überzeugen ganz besonders die klasse umgesetzten winzigen Dynamikschwankungen auf engstem Raum im Satzfinale. Der letzte Satz "Orgie der Briganten. Erinnerung an vorangehende Szenen" markiert zunächst einen Weckruf, bevor hier der Kater schon vor dem Besäufnis lauert. Selbiges wechselt dann beständig zwischen Gemeinschaftsumtrunk und dem alten Krippelkiefern-Motto "Heit ohmd besauf ich mich allaa" hin und her, wobei das Kollektiv letztlich gewinnt. Danach passiert freilich nicht mehr viel, über alles legt sich eine Art Nebel, der einen aber trotzdem noch die beeindruckend bedrohlich umgesetzten Grollposaunen über dem schleppenden Paukenrhythmus sowie das Fernorchester wahrnehmen läßt. Den Dynamikgipfel erreicht Harding programmgemäß am Ende, und auch hier bricht sofortiger lauter bravodurchsetzter Applaus durch - zweifellos mit einer guten Leistung verdient, aber eine überirdische Sternstunde wie anderthalb Jahre zuvor war das an diesem Abend nicht.



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