www.Crossover-agm.de
Grosses Concert II/1   01.10.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Mendelssohns Name erglänzt anno 2009, im Jahre seines 200. Wiegenfestes, auf allerlei Konzertprogrammen, und das Gewandhaus zu Leipzig, einstmals seine wichtigste Wirkungsstätte, macht da auch nach dem Ende der Mendelssohn-Festtage keine Ausnahme. Die Programmplanungsfraktion hat immer wieder bewiesen, daß man auch bei einem scheinbar ausanalysierten und fassungsseitig übersichtlichen Komponisten wie Mendelssohn immer noch etwas Neues oder zumindest Rares ausgraben kann, und eine solche Rarität bildet den ersten Teil des Grossen Concerts an diesem Oktobertag: die Reformationssinfonie (chronologisch Nr. 2, editorisch dagegen Nr. 5), und zwar in der Frühfassung von 1830, die weiland nie aufgeführt worden ist - aufgrund verschiedener Umstände kam es erst 1832 zur Uraufführung, und vor dieser hatte der Komponist das Werk noch einmal umgearbeitet, insbesondere gegen Ende hin gestrafft. Daß die ersten Sätze keiner wesentlichen Straffung bedurften, sondern auch schon in den Frühfassungen erstklassig funktionieren, davon legt diese Aufführung des Gewandhausorchesters beredtes Zeugnis ab. Die weiche, aber trotzdem raumgreifende Introduktion bereitet perfekt auf das Folgende vor, der erste von mehreren Weckrufen klappert zwar leicht, aber die exzellente Laut-Leise-Dynamik zwischen Weckrufen und Ruhepolen, die Riccardo Chailly am Dirigentenpult verlangt, beeindruckt. Das Allegro con fuoco nimmt der Italiener sehr schnell und mit viel Energie, selbst die ruhigeren Teile haben einen enorm flotten Grundschlag, ohne dadurch an Ruhe einzubüßen. Genau die umgekehrte Strategie fährt der Dirigent im Allegro vivace: Nach einem fast wienerischen Intro verleiht er einem schweren Grundbeat viel vorwärtsdrängende Dynamik, und wären die Bläserstakkati ein bißchen weniger hölzern gekommen, man hätte eine fast ideale Wiedergabe vor sich gehabt. Der dreiteilige Schlußkomplex beginnt im Andante mit einer grünen Wiese zum Hineinlegen, aber das Orchester beginnt irgendwie unruhig zu werden. Das Flötensolo wirkt anfangs zu angestrengt, aber je mehr Instrumente hinzutreten, umso besser wird das Ganze, auch die erste Enthüllung des Choralthemas "Ein feste Burg ist unser Gott" samt anschließender Steigerung findet Beifall. Umso unerklärlicher ist das, was dann passiert. Die Sinfonie war eigentlich zum 300jährigen Jubiläum der Augsburger Konfession gedacht gewesen, also eines der wichtigsten Meilensteine in der Geschichte des Protestantismus, und in Verbindung mit dem zentralen Luther-"Kampflied" "Ein feste Burg" ergibt sich ein triumphaler Charakter, den der seinen Protestantismus sehr ernstnehmende Komponist hier verwirklicht haben will. Genau dieser Triumph fehlt an diesem Abend komplett: Die Farben im Orchester werden immer fahler, die Tiefe geht völlig verloren, selbst die Lautstärke als äußeres Energieindiz sinkt, und der Schluß versandet im Nichts. Daran können nicht die diversen Wiederholungen schuld sein, von denen Mendelssohn bei der Überarbeitung einige gestrichen hat. Angesichts der erstklassigen Leistung in den ersten Sätzen ist das, was da zum Schluß erklingt, umso unerklärlicher, und das merkt auch das Publikum, dessen Applaus doch recht schnell müde wird und nur mit Mühe für den dritten Vorhang reicht.
Merkwürdige Dinge passieren auch im zweiten Teil des Konzertes: Anton Bruckners 4. Sinfonie, die Romantische, steht auf dem Programm, und mancher Hörer wird nach der Aufführung festgestellt haben, daß er so etwas Ähnliches in der Leipziger Musikhochschule im Mai 2009 schon einmal erlebt hat. Damals hatte Ulrich Windfuhr Beethovens 6. Sinfonie vom Charakter her so spielen lassen, als hätte man ihren Zwilling, die 5., auf dem Pult - eine in diesem Fall äußerst interessante Lesart. Chailly nun versucht eine ähnliche Strategie: Acht Monate zuvor hat er Bruckners Dritte an gleicher Stelle aufgeführt und diesem generalpausenlastigen Brocken viel kantige Dynamik implantiert. Die Vierte nun aber trägt den Beinamen "Romantische" nicht von ungefähr, wenngleich auch sie partiell recht blockhaft geschichtet ist - aber sie fließt deutlich mehr, und genau diesen Fluß nimmt der Dirigent über weite Strecken heraus und ersetzt ihn durch die von seiner Lesart der Dritten her bekannte kantige Struktur. Das verunsichert den Hörer und scheinbar auch irgendwie das Orchester, und da das Tempo trotz herausgenommenen Flusses eher flott gehalten wird, kann sich nie richtig die Spannung ausbreiten, die man von Chaillys Interpretationen großer spätromantischer Sinfonien eigentlich kennt und liebt. Der butterweiche Hornauftakt des ersten Satzes soll ein Strohfeuer bleiben, denn schon im 1. Tutti macht sich Nervosität breit, die ohrenscheinlich von rechts, also aus den zweiten Violinen und den Bratschen kommt, bevor erst im dritten Tutti langsam wieder Musik draus wird. Wie ein einzelner Ton die Spannung einer ganzen Passage zerstören kann, zeigt das Horn im Cellosolo des Andante. Der ganze Satz gerät nicht schlecht, aber niemand zaubert wirklich, nicht die zupfenden Streicher, nicht die teppichausrollenden Kontrabässe, nicht die Holzbläser in ihrem kammermusikalischen Teil. Daß Orchester und Dirigent Meisterliches zu erzeugen vermögen, deuten sie nur hier und da an, z.B. im Übergang des dritten Holzsolos in den folgenden Streicherpart - hier vibriert die Luft, hier kann man die Spannung mit Händen greifen. Aber das gelingt ihnen an diesem Abend viel zu selten, auch im Scherzo macht sich nach dem gut ausbalancierten Intro schnell wieder Unruhe breit, und die Dialogpassagen zwischen Trompete und Horn sind schon als grenzwertig zu bezeichnen. Viel zuviel Unruhe herrscht auch im Trio, erst spät wird es flüssiger - zu spät, nämlich erst kurz vor seinem Ende. Das Finale läßt noch einmal hoffen: Die Auftaktsteigerung gelingt geschmeidig, der Baßrhythmus verfinstert alles gekonnt, das Unisono steht wie aus Stein gemeißelt vor dem Hörer, und auch der folgende Lärm gerät grandios und versickert ebenso grandios (geplant!) im Nichts. Man konstatiert erfreut, daß im Gegensatz zur Dritten im Januar das Blech hier nicht alles niedertrötet - aber die Freude bleibt kurz, denn die extrem technokratische Lesart raubt dem Rest des Satzes nachhaltig den Charme. Da kapitulieren selbst die Posaunen in ihrem Choral, und der Schlußton, den die Bläser deutlich länger aushalten als der Rest, läßt das Publikum eher hilflos bis verwirrt zurück, was es denn hier nun gerade gehört hat. Dementsprechend gerät auch hier der Applaus eher müde, und daß neben dem Solohornisten ausgerechnet der Pauker, der am wenigsten für die diversen Probleme kann, den meisten Einzelapplaus bekommt, spricht Bände.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver